Rosa Luxemburg


Zur russischen Revolution


III

Die Bolschewiki sind die historischen Erben der englischen Gleichmacher und der französischen Jakobiner. Aber die konkrete Aufgabe, die ihnen in der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war unvergleichlich schwieriger als diejenige ihrer geschichtlichen Vorgänger. [1*] Gewiß war die Losung der unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern [1] die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, daß die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.

Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. – Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden, die allein dem Ausgangspunkt, der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen braucht und es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluß und schließlich für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muß jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muß hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen; denn nur dies gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu organisieren.

Zweitens aber ist eine der Voraussetzungen dieser Umgestaltung, daß die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen. Wie im einzelnen die praktische Bewirtschaftung sein mag: ob durch städtische Gemeinden, wie die einen vorschlagen, oder vom staatlichen Zentrum aus – auf jeden Fall ist Voraussetzung eine einheitlich durchgeführte, vom Zentrum aus eingeleitete Reform und als ihre Voraussetzung Nationalisierung des Grund und Bodens. Nationalisierung des großen und mittleren Grundbesitzes, Vereinigung der Industrie und der Landwirtschaft, das sind zwei grundlegende Gesichtspunkte jeder sozialistischen Wirtschaftsreform, ohne die es keinen Sozialismus gibt.

Daß die Sowjet-Regierung in Rußland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat – wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, daß sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft mitten im reißenden Strudel der inneren und äußeren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Widerständen ringsum bedrängt, eine der schwierigsten, ja, wir können ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten! Wir werden uns, einmal zur Macht gelangt, auch im Westen und unter den günstigsten Bedingungen an dieser harten Nuß manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur aus den gröbsten der tausend komplizierten Schwierigkeiten dieser Riesenaufgabe heraus sind!

Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muß auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muß zum mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.

Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern, mußte geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken. Sie ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche Schwierigkeiten auf.

Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmet euch das Land! führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet. Nicht genug: durch diese Maßnahme und die chaotische, rein willkürliche Art ihrer Ausführung wurden die Eigentumsunterschiede auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft. Obwohl die Bolschewiki die Bauernschaft aufforderten, Bauernkomitees zu bilden, um die Besitzergreifung der adligen Ländereien irgendwie zu einer Kollektivaktion zu machen, so ist es klar, daß dieser allgemeine Rat an der wirklichen Praxis und den wirklichen Machtverhältnissen auf dem Lande nichts zu ändern vermochte. Ob mit oder ohne Komitees, sind die reichen Bauern und Wucherer, welche die Dorfbourgeoisie bildeten und in jedem russischen Dorf die tatsächliche lokale Macht in ihren Händen haben, sicher die Hauptnutznießer der Agrarrevolution geworden. Unbesehen kann jeder sich an den Fingern abzählen, daß im Ergebnis der Aufteilung des Landes die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Schoße des Bauerntums nicht beseitigt, sondern nur gesteigert, die Klassengegensätze dort verschärft worden sind. Diese Machtverschiebung hat aber zuungunsten der proletarischen und sozialistischen Interessen stattgefunden.

Lenins Rede über notwendige Zentralisation in der Industrie, Nationalisierung der Banken, des Handels und der Industrie. Warum nicht des Grund und Bodens? Hier im Gegenteil, Dezentralisation und Privateigentum.

Lenins eigenes Agrarprogramm vor der Revolution war anders. Die Losung übernommen von den vielgeschmähten Sozialisten-Revolutionären oder richtiger: von der spontanen Bewegung der Bauernschaft.

Um sozialistische Grundsätze in die Agrarverhältnisse einzuführen, suchte die Sowjetregierung nunmehr aus Proletariern – meist städtischen, arbeitslosen Elementen – Agrarkommunen zu schaffen. Allein es läßt sich leicht im voraus erraten, daß die Ergebnisse dieser Anstrengungen, gemessen an dem ganzen Umfang der Agrarverhältnisse, nur verschwindend winzig bleiben mußten und für die Beurteilung der Frage gar nicht in Betracht fallen. [2*] (Nachdem man den Großgrundbesitz, den geeignetsten Ansatzpunkt für die sozialistische Wirtschaft, in Kleinbetrieb zerschlagen, sucht man jetzt aus kleinen Anfängen kommunistische Musterbetriebe aufzubauen.) Unter den gegebenen Verhältnissen beanspruchen diese Kommunen nur den Wert eines Experiments, nicht einer umfassenden sozialen Reform.

Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der „Besitzergreifung“ steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, daß sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Rußland, zur Gegensatz- und Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden. Wie scharf der Gegensatz schon jetzt geworden ist, beweist der Boykott der Bauern den Städten gegenüber, denen sie die Lebensmittel vorenthalten, um damit Wuchergeschäfte zu machen, genau wie die preußischen Junker. Der französische Parzellenbauer war zum tapfersten Verteidiger der großen französischen Revolution geworden, die ihn mit dem konfiszierten Land der Emigranten ausgestattet hatte. Er trug als napoleonischer Soldat die Fahne Frankreichs zum Siege, durchquerte ganz Europa und zertrümmerte den Feudalismus in einem Lande nach dem anderen. Lenin und seine Freunde mochten eine ähnliche Wirkung von ihrer Agrarparole erwartet haben. Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Rußland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiß sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.

Die Leninsche Agrarreform hat dem Sozialismus auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen Großgrundbesitzer war.

Daß sich die militärischen Niederlage in den Zusammenbruch und Zerfall Rußlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole [2], die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen [3] oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte, den staatlichen Zerfall Rußlands. Die mit doktrinärer Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der verschiedenen Nationalitäten des Russischen Reichs, ihre Schicksale selbständig zu bestimmen „bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Rußland“, war ein besonderer Schlachtruf Lenins und Genossen während ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie den Kerenskischen Krieg [4], sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk [5], ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.

Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch zu der Haltung [steht], die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. Während sie gegenüber der konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz dem ganzen Apparat der demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen das „Selbstbestimmungsrecht“ in Rußland selbst bildeten, eine sehr kühle Geringschätzung an den Tag legten, behandelten sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen als ein Kleinod der demokratischen Politik, dem zuliebe alle praktischen Gesichtspunkte der realen Kritik zu schweigen hätten. Während sie sich von der Volksabstimmung zur konstituierenden Versammlung in Rußland, einer Volksabstimmung auf Grund des demokratischsten Wahlrechts der Welt und in voller Freiheit einer Volksrepublik, nicht im geringsten hatten imponieren lassen und von sehr nüchternen, kritischen Erwägungen ihre Resultate einfach für null und nichtig erklärten [6], verfochten sie in Brest die „Volksabstimmung“ der fremden Nationen Rußlands über ihre staatliche Zugehörigkeit als das wahre Palladium jeglicher Freiheit und Demokratie, unverfälschte Quintessenzen des Völkerwillens und als die höchste entscheidende Instanz in Fragen des politischen Schicksals der Nationen.

Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist.

In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum Abc der sozialistischen Politik, daß sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.

Wenn trotz alledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, daß es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen. Es war dies eine Analogie zu der Politik der Bolschewiki den russischen Bauern gegenüber, deren Landhunger die Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt und die dadurch an die Fahne der Revolution und der proletarischen Regierung gefesselt werden sollten. In beiden Fällen ist die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, daß sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar „bis zur staatlichen Absonderung“, Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen „Nationen“ benutzte die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst zu tragen. Das Zwischenspiel mit der Ukraine in Brest [7], das eine entscheidende Wendung jener Verhandlungen und der ganzen inner- und außenpolitischen Situationen der Bolschewiki herbeigeführt hatte, ist dafür ein Musterbeispiel. Das Verhalten Finnlands, Polens, Litauens, der Baltenländer, der Nationen des Kaukasus zeigt überzeugendsterweise, daß wir hier nicht etwa mit einer zufälligen Ausnahme, sondern mit einer typischen Entscheidung zu tun haben.

Freilich, es sind in allen diesen Fällen in Wirklichkeit nicht die „Nationen“, die jene reaktionäre Politik betätigen, sondern nur die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die im schärfsten Gegensatz zu den eigenen proletarischen Massen das „nationale Selbstbestimmungsrecht“ zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären Klassenpolitik verkehrten. Aber – damit kommen wir gerade zum Knotenpunkt der Frage – darin liegt eben der utopisch-kleinbürgerliche Charakter dieser nationalistischen Phrase, daß sie in der rauhen Wirklichkeit der Klassengesellschaft, zumal in der Zeit aufs äußerste verschärfter Klassengegensätze, sich einfach in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft verwandelt. Die Bolschewiki sollten zu ihrem und der Revolution größten Schaden darüber belehrt werden, daß es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine Selbstbestimmung der Nation gibt, daß sich in einer Klassengesellschaft jede Klasse der Nation anders „selbstzubestimmen“ strebt und daß für die bürgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit hinter denen der Klassenherrschaft völlig zurücktreten. Das finnische Bürgerum wie das ukrainische Kleinbürgertum waren darin vollkommen einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen, wenn diese mit den Gefahren des „Bolschewismus“ verbunden werden sollte.

Die Hoffnung, diese realen Klassenverhältnisse etwa durch „Volksabstimmungen“, um die sich alles in Brest drehte, in ihr Gegenteil umzukehren und im Vertrauen auf die revolutionäre Volksmasse ein Mehrheitsvotum für den Zusammenschluß mit der russischen Revolution zu erzielen, war, wenn sie von Lenin-Trotzki ernst gemeint war, ein unbegreiflicher Optimismus, und wenn sie nur ein taktischer Florettstoß im Duell mit der deutschen Gewaltpolitik sein sollte, ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Auch ohne die deutsche militärische Okkupation hätte die famose „Volksabstimmung“, wäre es in den Randländern zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmasse und großer Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktionären Tendenz des Kleinbürgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt hätten. Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen über die nationale Frage als unverbrüchliche Regel gelten, daß die herrschenden Klassen sie entweder, wo ihnen eine solche nicht in den Kram paßt, zu verhindern wissen oder, wo sie zustande käme, ihre Resultate durch all diese Mittel und Mittelchen zu beeinflussen wüßten, die es auch bewirken, daß wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einführen können.

Daß überhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und Sondertendenzen mitten in die revolutionären Kämpfe hineingeworfen, ja, durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum Schibboleth der sozialistischen und revolutionären Politik gestempelt wurde, hat die größte Verwirrung in die Reihen des Sozialismus getragen und die Position des Proletariats gerade in den Randländern erschüttert. In Finnland hatte das sozialistische Proletariat, solange es als ein Teil der geschlossenen revolutionären Phalanx Rußlands kämpfte, bereits eine beherrschende Machtstellung; es besaß die Mehrheit im Landtag, in der Armee, es hatte die Bourgeoisie völlig zur Ohnmacht herabgedrückt und war der Herr der Situation im Lande. Die russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des „ukrainischen Nationalismus“ mit den Karbowentzen und den „Universals“ und das Steckenpferd Lenins von einer „selbständigen Ukraine“ noch nicht erfunden waren, die Hochburg der russischen revolutionären Bewegung gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiete flossen die ersten Lavaströme der Revolution (schon um das Jahr 1902–04) und entzündeten ganz Südrußland zu einem Flammenmeer, so den Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen Revolution, in der das südrussische Proletariat die Elitetruppen der proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenländer waren seit 1905 die mächtigsten und zuverlässigsten Herde der Revolution, in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte.

Wie kommt es, daß in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, daß sie es von Rußland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. Statt gerade im Geiste der reinen internationalen Klassenpolitik, die sie sonst vertraten, die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, die Integrität des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Nationen im Bereiche der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen, haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie von dem „Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung“ gerade umgekehrt der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten, glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre konterrevolutionären Bestrebungen geliefert. Statt die Proletarier in den Randländern vor jeglichem Separatismus als vor rein bürgerlichem Fallstrick zu warnen und separatistische Bestrebungen mit eiserner Hand, derern Gebrauch in diesem Falle wahrhaft im Sinne und Geist der proletarischen Diktatur lag, im Keime zu ersticken, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert. Sie haben durch diese Forderung des Nationalismus den Zerfall Rußlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stoßen sollten.

Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne „die deutschen Gewehrkolben in deutschen Fäusten“, wie die Neue Zeit Kautskys schrieb, wären die Lubinskys und die anderen Schufterles der Ukraine sowie die Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden. Aber der nationale Separatismus war das trojanische Pferd, in dem die deutschen „Genossen“ mit Bajonetten in den Fäusten in alle jene Länder eingezogen kamen. Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionärromantischen Gedichten Schewtschenkos. Es ist förmlich, als wenn eines schönen Morgens die von der Wasserkante auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche Nation und Staat gründen wollten. Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem „Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich usw.“ künstlich zu einem politischen Faktor auf. Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution! Aus diesem Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.

Diese Phrasen haben in der Geschichte der Klassenkämpfe zu Zeiten eine sehr reale Bedeutung. Es ist das fatale Los des Sozialismus, daß er in diesem Weltkrieg dazu ausersehen war, ideologische Vorwände für die konterrevolutionäre Politik zu liefern. Die deutsche Sozialdemokratie beeilte sich beim Ausbruch des Krieges, den Raubzug des deutschen Imperialismus mit einem ideologischen Schild aus der Rumpelkammer des Marxismus zu schmücken, indem sie ihn für den von unseren Altmeistern herbeigesehnten Befreierfeldzug gegen den russischen Zarismus erklärte. Den Antipoden der Regierungssozialisten, den Bolschewiki, war es beschieden, mit der Phrase von der Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die Mühle der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern. Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird. Es liegt klar zu Tage, daß die Phrase von der Selbstbestimmung und die ganze nationale Bewegung, die gegenwärtig die größte Gefahr für den internationalen Sozialismus bildet, gerade durch die russische Revolution und die Brester Verhandlungen eine außerordentliche Stärkung erfahren haben. Wir werden uns mit dieser Plattform noch eingehend zu befassen haben. Die tragischen Schicksale dieser Phraseologie in der russischen Revolution, in deren Stacheln sich die Bolschewiki verfangen und blutig ritzen sollten, muß dem internationalen Proletariat als warnendes Exempel dienen.

Nun folgte aus alledem die Diktatur Deutschlands. Vom Brester Frieden bis zum „Zusatzvertrag“! [8] Die 200 Sühneopfer in Moskau. [9] Aus dieser Lage ergab sich der Terror und die Erdrückung der Demokratie.

Randnotizen von Rosa Luxemburg

1*. Notiz Rosa Luxemburgs am oberen Rand ohne Einordnungshinweis: „(Bedeutung der Agrarfrage. Schon 1905. Dann in der 3. Duma die rechten Bauern! Bauernfrage und Verteidigung, Armee.)“

2*. Notiz Rosa Luxemburgs am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Getreidemonopol mit Prämien. Jetzt post festum wollen sie den Klassenkampf ins Dorf hineintragen!“


Anmerkung

1. Entsprechend dem vom 2. Gesamtrussischen Sowjetkonkreß beschlossenen Dekret über den Grund und Boden vom 8. November 1917 und dem darin enthaltenen „bäuerlichen Wählerauftrag“ wurde das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben und das Eigentum der Gutsbesitzer, die Apanage-, Kloster- und Kirchenländereien entschädigungslos enteignet. Der Boden wurde nach dem Prinzip der ausgleichenden Bodennutzung, d. h. nach bestimmten Arbeits- und Verbrauchsnormen unter den Werktätigen aufgeteilt. Die Form der Bodennutzung, ob Einzelwirtschaft, Gemeinde- oder Artelwirtschaft, wurde den Dörfern freigestellt. Ländereien mit hochentwickelten Wirtschaften wurden nicht aufgeteilt, sondern gingen in die Hände der Gemeinde oder des Staates. Durch diese Maßnahmen wurden die dringenden Bedürfnisse der Massen der armen Bauern befriedigt. Mit dieser Lösung der Bodenfrage waren die Bolschewiki „dem Marxismus treu geblieben und haben nicht versucht, die bürgerlich-demokratische Revolution ‚zu überspringen‘.“ Gleichzeitig wurde damit „das im Sinne des Übergangs zum Sozialismus geschmeidigte Agrarsystem“ geschaffen. (W.I. Lenin, Werke, Bd.  28, S.  315)

2. In der Quelle: Politik.

3. Die Sowjetregierung vertrat konsequent den marxistischen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Sie ging davon aus, daß die vom Zarismus unterdrückten Nationen nicht gewaltsam an Rußland gekettet werden dürfen. Nur auf dem Wege eines freiwilligen Bündnisses konnte eine Vereinigung erreicht werden, da nur so der Boden für nationale Hetze und nationalen Hader beseitigt wird. Außer dem nationalen Aspekt dieser Frage berücksichtigten die Bolschewiki die soziale Seite, „auf welcher Stufe des Weges vom Mittelalter zur bürgerlichen Demokratie und von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie die betreffende Nation steht“ (W.I. Lenin, Werke, Bd.  29, S.  158), denn „der Kommunismus wird nicht auf dem Wege der Gewalt Wurzel fassen“. (ebenda, S.  160.) Die Bolschewiki unterstützten den Differenzierungsprozeß der Klassen innerhalb der Nationen und strebten als konsequente Internationalisten das Bündnis zwischen den Werktätigen aller Nationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie aller Nationen an.

4. Die Provisorische Regierung mit P.N. Miljukow als Außenminister hatte den Krieg fortgesetzt und den Ententeländern versichert, allen Bündnisverpflichtungen nachzukommen, um den Krieg bis zum „siegreichen Ende“ zu führen. Diese Politik wurde von der im Mai 1917 neugebildeten Regierung [10], der A.F. Kerenski als Kriegs- und Marineminister angehörte, weitergeführt und im Juli 1917 eine Offensive unternommen, die 60.000 Opfer kostete. Die Bolschewiki stellten dem ihre Forderung nach einem sofortigen Frieden ohne Annexionen entgegen, wobei sie es auch als Annexion betrachteten, wenn Polen, Finnland, die Ukraine und die übrigen nicht großrussischen Gebiete zwangsweise beim russischen Staatsverband gehalten würden.

5. Während der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk forderte die Sowjetregierung entsprechend ihren Grundsätzen das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen der kriegführenden Länder bis zum Recht der Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates für jede Nation. Dieses Recht sollte verwirklicht werden durch ein unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführtes Referendum der gesamten Bevölkerung des jeweiligen Gebietes.

6. Nachdem die Sowjets nach der Oktoberrevolution die politische Grundlage des Staates bildeten, war die Losung der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, die in du bürgerlich-demokratischen Republik die höchste Form des Demokratismus darstellt, politisch und praktisch überholt. Sie wurde von den konterrevolutionären Kräften aufgegriffen und zum Kampf für die Beseitigung der Sowjetmacht verwandt. Da aber ein großer Teil der Arbeiter und Bauern in Verfassungsillusionen befangen war, beschloß der Rat du Volkskommissare, die Wahlen zu dem bereits von der Provisorischen Regierung festgelegten Termin durchzuführen. Die rechten kleinbürgerlichen Parteien, die die Stimmenmehrheit besaßen, weigerten sich am 5. Januar 1918, dem Eröffnungstag der Konstituierenden Versammlung, das Programm der Sowjetmacht, die Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, zu erörtern sowie am 6. Januar über die Haltung zur Friedenspolitik der Sowjetregierung abzustimmen, und nahmen damit offen gegen die Sowjetmacht Stellung. Das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee beschloß am 6. Januar 1918 die Auflösung der Versammlung. W.I. Lenin hatte in seiner Rede auf dieser Sitzung festgestellt: „Das Volk wollte die Einberufung der Konstituierenden Versammlung, und wir haben sie einberufen. Es merkte aber sofort, was diese vielberühmte Konstituierende Versammlung eigentlich vorstellt. Und jetzt haben wir den Willen des Volkes ausgeführt, den Willen, du da lautet: Alle Macht den Sowjets!“ (W.I. Lenin, Werke, Bd.  26, S.  440.)

7. Die nationalistische Ukrainische Zentralrada hatte am 27. Januar 1918 mit den Mittelmächten einen Vertrag unterzeichnet, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Regime zusammengebrochen war und die Sowjetmacht fast in der gesamten Ukraine gesiegt hatte. Deutschland erhielt durch den Vertrag das Recht zur Besetzung der Ukraine und erhob während der Verhandlungen in Brest-Litowsk am 27. und 28. Januar 1918 annexionistische Forderungen in ultimativer Form.

8. Der deutsch-russische Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 legte fest, daß Deutschland nach Bestimmung der Ostgrenzen Estlands und Livlands das von ihm besetzte Gebiet östlich davon zu räumen hatte. Das Gebiet östlich der Beresina wollte Deutschland in dem Maße räumen, wie Sowjetrußland seinen im Finanzabkommen festgelegten Zahlungen nachkam. Sowjetrußland verzichtete auf die Staatshoheit über Estland, Livland und Georgien.

Im deutsch-russischen Finanzabkommen vom 27. August 1918 wurde Sowjetrußland verpflichtet, 6 Milliarden Mark an Deutschland zu zahlen.

9. Mit der Ermordung des deutschen Botschafters Wilhelm Graf von Mirbach-Harff hatten die linken Sozialrevolutionäre am 6. Juli 1918 in Moskau einen Putsch zur Beseitigung der Sowjetregierung begonnen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Hunderte Sozialrevolutionäre verhaftet. „Überall müssen diese erbärmlichen und hysterischen Abenteurer, die zu einem Werkzeug in den Händen der Konterrevolutionäre geworden sind, schonungslos niedergeworfen werden ... Mit Feinden werden wir auf Feindesart verfahren.“ (W.I. Lenin, Werke, Bd.  27, S.  534 u. 535.)

10. Auf Grund ihrer imperialistsichen püolitik geriet die Provisorische Regierung im mApril 1917 in eine Krise. demonstrationen der Arbeiter und Soldaten zwangen sie zu manövrieren. Um den bisherigen konterrevolutionären Charakter der regierungspolitik beibehalten zu können, wurde im mai 1917 eine Koalitionsregierung gebildet, an der sich neben Vertretern der Bourgeoisie auch Vertreter der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki beteiligten.


Zuletzt aktualisiert am 19.8.2013