Tom Mann

Der Sozialismus in England

(April 1897)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1897, Nr.4, April 1897, S.193-202.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Zum näheren Verständniss der Ursachen, welche das raschere Vordringen des Sozialismus in England verhinderten, ist es nöthig, sich die Bedingungen zu vergegenwärtigen, unter denen die sozialistische Propaganda ernsthaft einsetzte, was nicht vor 1882 geschah, also erst 15 Jahre zurückliegt.

Zu jener Zeit war der bedeutendste Führer der kühnsten und politisch vorgeschrittensten Richtung Charles Bradlaugh, einer der beredsamsten, muthigsten, ausdauerndsten und allseitig fähigsten Menschen, welche England in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat. Bradlaughs Eigenart lag auf dem Gebiete der Bekämpfung der orthodoxen Religion, aber Wenige, wenn überhaupt Jemand, waren wie er befähigt, ihre Zuhörerschaft zu thatkräftiger, politischer und sozialer Thätigkeit anzuspornen; er war in allen Theilen des Landes gut bekannt.

Aber wenn man jetzt auf die von ihm ausgeübte Thätigkeit zurückblickt, genügt ein Blick, um zu zeigen, was für bedeutende Fortschritte inzwischen gemacht worden sind. Bradfaugh war ein radikaler Republikaner und vor 15 Jahren galt dies bereits als etwas sehr weitgehendes, obgleich der Radikalismus nicht mehr in sich fasste, als fiskalische Reformen, zur Erleichterung der Steuerlasten und die Erweiterung der Bodenreform durch zwangsweise Bebauung der bisher unkultivirten Ländereien. Dies, ergänzt durch die republikanische Forderung der Abschaffung des Königthums, bildete den Hauptinhalt des Programms. In sozialer Hinsicht acceptirten ßradlaugh und seine Parteigänger ferner den Malthusianismus, welchen sie zugleich als eine Erklärung der Ursachen der Armuth und als das beste, wenn nicht einzige Mittel zur Verhütung der Armuth ansahen. [1]

Vor 15 Jahren entwickelten die Trades Unions keinerlei eigene Thätigkeit und nahmen von ihrer Zeit nur dadurch Notiz, dass sie sich in eine tast gleiche Zahl von Tories und Liberalen theilten, ohne irgend ein anderes Programm in sozialpolitischer Hinsicht, als ihr Bestreben, den durch die Festsetzung der Lohnsätze und der Arbeitszeit erlangten Zustand aufrecht zu erhalten. Sehr Wenige von Denen, die unter den Begriff der ungelernten Arbeiter fallen, waren organisirt und kein Versuch geschah von Seiten der gelernten Arbeiter, ihnen eine solche Organisation zu geben.

Viele Gewerkschafter gehörten den Konsumgenossenschaften an, nicht weil sie Gegner der Konkurrenz waren, sondern weil die Konsumgeschäfte neben einer Ersparniss von 10% bei den Einkäufen ihnen ein weiteres Mittel zur Uebung des Sparsamkeitsinns dadurch boten, dass sie in ihnen ihre Ersparnisse zu einem relativ hohen Zinsfuss anlegen konnten.

Die Temperenzler, welche zu jener Zeit aufkamen, waren so rührig, wie irgend eine andere Partei, und rekrutirten sich aus allen Ständen, Sie behaupteten, dass die Ursache der Armuth in der Leichtfertigkeit und Trunksucht der Gesellschaft bestehe, und dass, wenn das Volk sich des Gebrauchs vergifteter Getränke enthalten würde, die Industrie einen Aufschwung erleben würde, der seinen Ausdruck in der bedeutend besseren Lebenshaltung fände. Gewöhnlich vereinigten sich die Temperenzler in religiöser Beziehung mit den Nonkonformisten und in der Politik mit den Liberalen. Unter den Nonkonformisten waren und sind viele Arbeiter, welche hier ihren Reformeifer Ausdruck verschafften, indem sie als Laienprediger in den Dörfern und ländlichen Bezirken dieselben unhaltbaren Grundsätze über Oekonomie und Ethik predigten, wie der verfeinerte Priester in den Kapellen und Kirchen der grösseren und kleineren Städte.

Ein anderer grosser Theil der Vereinigungen, deren Zahl eher zu-als abzunehmen scheint, ist der sporttreibende. Zehntausende von Arbeitern zeigen ein stärkeres Interesse für die Abkunft eines Rassenpferdes und können ihre Aufmerksamkeit so darauf konzentriren, dass sie in eine gelinde Erregung gerathen – als für irgend eine soziale oder politische Reform. Das Fussbaüspiel nimmt das britische Volk sehr in Anspruch, nicht nur die wenigen Tausende, welche die Fussballklubs bilden, sondern auch Hunderttausende, die niemals selbst spielen aber beim Zuschauen schon ganz aus dem Häuschen kommen.

Als die Sozialdemokraten vor 15 Jahren die sozialistische Agitation in London begannen, standen sie der allgemeinen Apathie auf der einen, diesen fest eingewurzelten Parteien aut der anderen Seite gegenüber, von denen keine irgendwelche Kenntniss von dem Klassenkampf hatte, welcher sich so schnell in ändern Ländern entwickelte, und die zu wenig von der Oekonomie verstanden, um rasch die Notwendigkeit eines ähnlichen Kampfes im eigenen Lande erfassen zu können. Niemals drückten die Trades-Unionisten in ihren Reden über die Nothwendigkeit einer vollkommeneren Organisation den Wunsch aus, die Arbeiter selbst eine Kontrole des Wirthschafts-Systems ausüben, noch überhaupt eine wirkliche Veränderung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft sich vollziehen zu sehen.

Weder Genossenschafter, noch Tradesunionisten, Liberale, Radikale, Temperenzler noch irgendwelche anderen Reformer hatten die Vorstellung, dass noch irgend ein anderes wirtschaftliches System möglich sei als dasjenige, in welchem sie geboren und aufgewachsen waren. Nicht dass England nie klare Denker oder Verkünder eines tieferen Systems hervorgebracht hätte; aber was immer an Klarheit einige der früheren Genossenschafter ausgezeichnet halte, was an wirklicher Unabhängigkeit der Gedanken und Handlungen einige der Chartisten zur Schau getragen hatten, war absorbirt worden durch den Wunsch nach einer behaglichen Achtbarkeit, wobei man die kapitalistischen Parteien imitirte, welches Streben systematisch durch die Politiker der Bourgeoisie grossgezogen und mit Bedacht in Sonntagsschulen, Bibelstunden, Kapellen und Kirchen genährt wurde.

Solche so ungeheuer widerstrebende Kräfte anzugreifen, war in der That eine immense Aufgabe, und zu jener Zeit, vor ungefähr 15 Jahren, gab es wahrscheinlich nicht mehr als 25 Engländer, welche man für intelligent genug halten konnte, die Prinzipien des Sozialismus zu begreifen!

Eine Zeit lang war die einzige Gelegenheit, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Sozialismus zu lenken, die Abhaltung von Versammlungen an Strassenecken, in den öffentlichen Parks und kleine Versammlungen in geschlossenen Räumen; doch bald begannen die Kämpfe mit den Polizeibehörden um die Erlaubniss zur Abhaltung öffentlicher Versammlungen, welche fast alle mit einem Siege der Sozialisten endigten; dann brachten die von den Sozialisten angeregten Arbeitslosendemonstrationen ungeheure Mengen zusammen, welche eifrig sozialistische Flugschriften kauften.

Die Kritik aller und jeder Regierung und die rücksichtslose Beurtheilung vieler bekannter Politiker verschaffte bald scharfe Angriffe und Feindseligkeiten von Seiten der Bourgeoisie.

Aber nun begann eine systematische Agitation von Seiten derjenigen Trades-Unionisten, welche den Sozialismus acceptirt hatten, um ihre beireffenden Berufsvereine zur Annahme der sozialistischen Prinzipien zu bekehren. Eine ausserordentlich schwierige Arbeit ist es gewesen und ist es noch immer, aber ohne Zweifel war sie sehr erfolgreich, obgleich dies dem gelegentlichen Beobachter, besonders einem Fremden nicht so erscheinen mag. Zehn Jahre lang sind die sozialistischen Gewerkschafter bei der Arbeit geblieben, indem sie bestimmten Gruppen, wie den vereinigten Maschinenbauern, dem Londoner Schriftsetzerverein, den allgemeinen Gewerkschaftskongressen eine besondere Aufmerksamkeit zuwandten, In keiner dieser grossen Verbindungen giebt es bisher eine Majorität von Sozialisten, aber es kann immerhin behauptet werden, dass von einigen Vereinen ein Drittel sich jetzt zu Gunsten des wissenschaftlichen Sozialismus erklären würde und gegen jedes andere System, welches es auch sei; und wenn wir von der Trades-Union-Bewegung im Allgemeinen sprechen, d.h, von den anderthalb Millionen Menschen, welche jetzt die Mitgliedschaft der Gewerkschaften in Grossbritannien und Irland bilden, so sind schon 25 % derselben Sozialisten. Das ist natürlich nur ein kleiner Prozentsatz im Vergleich zum Festlande, aber vor 7 Jahren hätte man nicht sicher behaupten können, dass es bereits 10 % der Trades-Unionisten dieses Landes seien.

Mit dem grossen Streik von 1889/90 wurde ein grosser Anstoss gegeben nicht nur für die gewerkschaftliche Entwickelung, sondern auch für die Annahme sozialistischer Prinzipien durch die Gewerkschafter. Wie schon erwähnt, war es der Neu-Trades-Unionismus, der zuerst für den ungelernten Arbeiter die Anerkennung als vollwerthige Persönlichkeit und für ihn die gleiche Behandlung forderte, wie sie der höchst ausgebildete und relativ gut organisirte Arbeiter erfuhr. Wenn dies meinen Lesern als eine lächerlich kleine Angelegenheit erscheinen sollte, so muss daran erinnert werden, dass vor der erwähnten Periode es allgemeiner Brauch der gelernten Arbeiter in den vereinigten Königreichen war, auf die ungelernten als untergeordnetere Wesen herabzusehen, welche alles empfingen, wozu sie berechtigt waren, wenn sie genau nach dem Maassstab behandelt wurden, nach dem die Unternehmer und Werkführer in den städtischen Fabriken die gelernten Arbeiter behandelten. Der zweite Hauptpunkt in der Neu-Trade-Unionistischen Bewegung war das Bestreben, die Arbeiterbewegung als ein Ganzes zu betrachten, indem sie den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Berufen und Nationen anerkannte, indem sie den Lohn den Arbeitern zur Hauptsache an der Industrie machten, aber immer betonten, dass die wahren Ursachen der industriellen Veränderungen, der Arbeitslosigkeit und darum der niedrigen Lohnsätze in der Thatsache zu finden seien, dass das Material und Maschinen Monopolbesitz von bestimmten Klassen seien, und dass Handel und Gewerbe der Nation nicht im Interesse des gesammten Volkes, sondern ausschliesslich im Interesse der Gewinn machenden und ausbeutenden Klassen betrieben würden. Kurz, die Verkünder des Sozialismus drangen in die Berufsvereine ein und wurden tonangebend, sowohl was die aktuelle Organtsationsarbeit anbetraf, als den Gebrauch, den man von der Organisation machen konnte.

Dieses unbestreitbar erfolgreiche Auftreten der sozialistischen Trades-Unionisten rief, wie man sich denken kann, eine starke Opposition hervor. Die Sozialisten bemühten sich eifrigst, auf den Gewerkschaftskongressen vertreten zu sein und das geschah mit einem solchen Erfolg, dass auf einem Dutzend oder mehr der Landes-Gewerkschaftskongresse gegenwärtig ¾ der Delegirten anerkannte Sozialisten und von 30-40 anderen 50 % möglicherweise Sozialisten sind.

Dies heisst nicht gleich, dass ein ebenso grosser Theil der Vereinsmitglieder, welche die Sozialisten zu den Kongressen entsandten, auch selbst Sozialisten sind, sondern dass die sozialistische Partei, am ernsthaftesten um die Arbeiterbewegung überhaupt bemüht ist.

Während der letzten 7 oder 8 Jahre haben sich die ungelernten Arbeiter in sehr ausgedehntem Maasse gewerkschaftlich orgänisirt und obgleich einige von ihnen nur durch sehr harte Kämpfe während des wirthschaftlichen Niederganges ihre Position aufrecht erhielten, so bestehen ihre Vereine heute fast alle noch, und man kann sogar sagen, dass wir uns jetzt in einer Periode kräftigen Wiederaufblühens befinden.

Ausser dem einfachen Zusammenschluss in Vereinen stellte sich die Nothwendigkeit heraus, die Gewerkschaften verwandter Berufe untereinander zu verbinden; in einigen Fällen bildeten und bilden sich noch internationale Verbände.

Die Bergleute und die Textilarbeiter haben ihre periodischen internationalen Kongresse und diese sind dazu bestimmt, die in unmittelbarer Zukunft erreichbaren Vortheile sicherzustellen. Als ein Zeichen für das Anwachsen des richtigen Gefühls und Verständnisses für den Internationalismus können die Antworten gelten, welche verschiedene Gewerkschaften der gelernten Arbeiter gaben, als vor einigen Monaten der Aufruf der Dockarbeiter an sie erging. Daraufhin veranstalteten die Maschinenbauer sofort unter ihren Mitgliedern eine Abstimmung über eine besondere Sammlung zu Gunsten der Hamburger. Das Resultat ergab eine überwiegende Majorität dafür und 500 Lstrl. wurden abgeschickt; ebenso wurden 500 Lstrl. von der Maurergewerkschaft und 225 Lstrl. von den Kesselarbeitern und Schiffszimmerern gesandt. Und wenn man sich erinnert, dass erst zwei Monate vor dem Hamburger Aufruf ähnliche Summen für die damals streikenden Brüsselet Zimmerer und Schreiner bewilligt wurden, so spricht es Bände, für die unter den erwähnten Gewerkschaftsmitgliedern gemachten Fortschritte, erstens, dass sie, die selbst gelernte Arbeiter waren, freudig die Summen diesen Arbeitern zuwandten, zweitens und am wichtigsten, dass diese Arbeiter fremde waren und einem Lande angehörten, gegen welches nationaler Patriotismus keinerlei brüderliche Annäherung, sondern Stammesfeindschaft gebot.

All dieses kann wirklich als ein Zeichen eines wahrhaften Umschwungs zum Besseren in der Stellung der Arbeiter dieses Landes zu der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung gelten und kann als erstes Ergebniss der sozialistischen Propaganda angesehen werden. So scheint schliesslich der beschränkte Brite seinen Gesichtskreis zu erweitern, der aus der Unwissenheit entstandene und von den die gesammten erzieherischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen beherrschenden kapitalistischen Klassen bereitwilligst genährte Standpunkt, räumt nun den Platz einer gesunden Erkenntniss dafür, dass die Menschen ganz ebenso gut wie wir, ja vielleicht besser in den anderen Ländern leben und arbeiten und mit einem Wissen ausgestattet sind, von dem wir an allgemeiner Einsicht wahrscheinlich noch viel gewinnen könnten.

Ein dementsprechender Fortschritt ist auch in der Genossenschaftsbewegung gemacht worden, wenn auch nicht ganz so charakteristisch. Aber während einige Jahre zuvor die einzige Rede über Genossenschaften, die den Mitgliedern derselben recht war, von dem raschen Wachsthum der Bewegung als Geschäftsunternehmen und den grösstmöglichen Profiten und den überaus grossen Beträgen, welche den Einkäufern in Gestalt von Dividenden zurückgezahlt wurden, handelte, so ist jetzt der Redner willkommen, welcher in klaren Worten erklärt, dass wahre Genossenschaft gleichbedeutend ist mit vollständiger Bekämpfung des kapitalistischen Systems, mit der Besitzergreifung und Handhabung der Produktions- und Distributionsmittel durch die Allgemeinheit und einer vollkommenen Beseitigung des Lohnsystems.

Dies ist ein nicht zu verachtender Fortschritt und Niemand braucht zu fürchten, dass die Genossenschafts Bewegung, sowohl bezüglich der Produktion wie der Konsumtion, in wenigen Jahren etwas anderes als ein wirksames Hilfsmittel zur Verwirklichung des Kollektivismus sein wird.

Den ausländischen Sozialisten mögen die bei Wahlen für sozialistische Kandidaten den vereinigten Königreichen abgegebenen Stimmen erbärmlich gering und äusserst entmuthigend erschienen sein; nicht so den britischen Sozialisten, die bei der Propaganda betheiligt waren und noch sind.

Wie die Sozialisten der anderen Länder von den Vertheidigern der bestehenden orthodoxen Institutionen bekämpft und in einigen festländischen Staaten besonders durch die monarchischen Gewalten beengt werden, so haben wir in England noch grössere Schwierigkeiten schon allein wegen des Wahlsystems zu überwinden.

In diesem (angeblich) wundervollen Lande der politischen Freiheit, welches ein Pluralwahlsystem besitzt, durch das ein Grundbesitzer ein Dutzend Stimmen oder mehr haben kann, welches ferner ein schlechtes System der Listenführung und unvernünftig lange Wahlperioden hat, sind wir weit hinter den meisten festländischen Nationen zurück, wo ein Mann nur eine Stimme, aber jeder Mann eine Stimme hat.

Aber vielleicht das grösste Hinderniss für die Durchdringung der Kandidaten ist die Thatsache, dass die Partei, welche die Kandidaten autstellt, alle damit verbundenen Ausgaben, einschliesslich der staatlichen Abgaben, welche sich häufig bis zu 150 Lstrl. belaufen, tragen muss und zu welchen durchschnittlich wenigstens noch einmal 150 Lstrl. pro Kandidat für Saalmiethe, Wahlflugschriften und andere dazu erforderliche Dinge hinzukommen; die kapitalistischen Kandidaten geben wenigstens dreimal soviel für diese Zwecke aus

Was für eine drückende Steuer dies für eine junge Partei ist, welche durch ihre sonstige Propaganda notwendigerweise schon schwer belastet ist, kann auf den ersten Blick erkannt werden.

Bis jetzt ist noch kein Kandidat aut das sozialistische Programm allein hin gewählt worden und vermuthlich wird nicht ein Sitz den Sozialisten bei den Nachwahlen zufallen, die vor den nächsten Neuwahlen stattfinden.

Die im Kampte stehen, haben bereits die Kosten berechnet und werden weder übermässig entzückt noch enttäuscht angesichts der Thatsache sein, dass das zu vollbringende Werk ungeheuer gross und die entgegenstehenden Kräfte schier unüberwindlich sind.

In allen Ländern ist der Kampf notwendigerweise hart und ernst, den Anforderungen entsprechend wächst aber auch die Widerstandsenergie der sozialistischen Streitkräfte und wir werden wohl kaum je eine schwerere Zeit durchmachen als die jetzige; der Widerstand gegen den Sozialismus ist gross; der Bourgeoisie steht das heuchlerische Gewinsel zu Diensten, das in Kirchen und Kapellen erfolgt, und sie bedienen sich derselben ohne Skrupel gegen die andringende Fluth des Sozialismus. Aber der Ausgang ist sicher, der Sieg der Prinzipien desselben ist zur Gewissheit geworden.

Eine Abschätzung der gegenwärtigen Kräfte und der demnächstigen Entwickelung ist mehr oder minder Sache der Vermuthung; aber die folgenden Ausführungen können weder als zu optimistisch noch als zu pessimistisch gelten.

Zuerst mag hier die Zahl der sozialistischen Organisationen folgen. Der offizielle monatliche Bericht der unabhängigen Arbeiterpartei vom 14. März 1897 zeigt, dass 14.289 Mitglieder Beiträge an das Zentral-Komité entrichten; eine Anzahl von Vereinen zahlte keine Beiträge, die wahrscheinlich die Mitgliederzahl noch um 5.000 erhöhen; wenn wir aber die Beitragslisten heranziehen, so ergeben sich uns für

die unabhängige Arbeiterpartei

 . . . . . 

14.289

die sozialdemokratische Föderation

 . . . . . 

10.000

die Fabian und andere sozialistische Gruppen

  2.000

 

26.209

Dies ist Alles, was wir an wirklicher Organisation aufweisen können. Aber Niemand, der die Thatsachen kennt, würde bezweifeln, dass von der gesammten männlichen Bevölkerung etwa 12 % Sozialisten sind, d.h. Zirka 10 % der Wähler.

Von 670 Parlamentsmitgliedern, welche im Juli 1895 ins Unterhaus gewählt wurden, waren 411 Konservative mit 2.480.524 Stimmen, 177 Liberale und 82 Iränder mit 2.376.710 Stimmen; die unabhängige Arbeiterpartei stellte 28 Kandidaten mit 44.322 Stimmen, die sozialdemokratische Föderation 4 Kandidaten mit 3.730 Stimmen.

Die Höhe der Wahlkosten, welche den Sozialisten bei den nächsten Wahlen bevorsteht, hängt natürlich von der Anzahl der Sitze ab, um die sie kämpfen werden; wir haben zwar siebenjährige Legislaturperioden, aber das gegenwärtige Parlament scheint nicht länger als bis 1900 tagen zu wollen – noch 3 Jahre, während welcher die sozialistische Agitation tüchtig arbeiten wird, mit der sicheren Aussicht darauf, bei der nächsten Wahl die sozialistischen Stimmen bedeutend zu vermehren. Die gegenwärtig angenommenen Kräfte, 10 %, ergeben 485.000 Sozialisten für das Land, aber wir haben weder die Möglichkeit, die gesammten Wahlkreise anzugreifen, noch ist es wahrscheinlich, selbst wenn alle sozialistischen Gruppen sich zu gemeinsamer politischer Aktion vereinigen, was vermuthlich geschehen wird, dass die Hälfte der Wahlkreise bei den nächsten Wahlen in Angriff genommen wird, da die Finanzen dies nicht gestatten; das Höchste, was wir bei der nächsten Hauptwahl erreichen, werden 150 Kandidaten sein, welche wahrscheinlich 300.000 Stimmen auf sich vereinigen werden, ein halbes Dutzend davon werden ins Parlament kommen.

Sollte das Unerwartete eintreffen, dass aus einem oder dem anderen Grunde die gegenwärtige Regierung die Bestreitung der amtlichen Wahlkosten aus den öffentlichen Geldern anordnet, so würde dies die Aufstellung von mehreren sozialistischen Kandidaten erleichtern und vom sozialistischen Standpunkt würde es das Beste sein, wenn die Tories dies und die Bezahlung der Parlamentsmitglieder aus den staatlichen Mitteln anordneten. Dies würde für die konservative Partei ihre Rückkehr bei den nächsten Wahlen bedeuten, es würde auch bedeuten, dass einige Sozialisten hineinkämen, und die meisten Sozialisten sind der Meinung, dass es ein grosser Fortschritt in der Zersetzung der liberalen Partei sein würde, was die Vorbereitung für den Schlusskampf mit der Tory-Reaktion ist.

Jedoch, mag kommen was da will, das Eine ist gewiss, dass die sozialistische Propaganda thatsächlich rasch fortschreitet und dass, ob die Wahlen gewonnen sind oder nicht, der Sozialismus auf alte politischen Parteien und die meisten unserer staatlichen und Erziehungsanstalten einwirkt.

Einen klaren Beweis dafür hat man, wenn man die sozialistische Thätigkeit in den Versammlungen, welche sich mit der indischen Hungersnoth beschäftigt, betrachtet. Die Sozialisten halten Versammlungen in allen Landestheilen ab und beweisen, dass die gegenwärtige schreckliche Hungersnoth durch England hervorgerufen ist, dass selbst jetzt, wo zur selben Zeit 500.000 Lstrl. zu einem Unterstützungsfond gesammelt werden, die grosskapitalistischen Ausbeuter nicht weniger als 8.000.000 Lstrl. aus Indien herausziehen, dass die Gerechtigkeit eine sofortige Beendigung dieses Zustandes verlangt und die zur völligen Beseitigung der Hungersnoth erforderliche Summe sofort aus dieser Quelle zu decken sei. Es wird ferner gefordert, den Indiern sofort Erleichterungen zu gewähren, damit sie selbst ihre Aemter besetzen können, und dies soll fortgesetzt werden, bis Indien sich völlig selbst regiert. Die Sozialisten erziehen die Gesellschaft zur Einsicht in die Thatsache, dass die Beherrschung Indiens durch die englische Bourgeoisie nur ein Theil des kapitalistischen Ausbeutungssystems ist, dass jede Regierung diese Herrschaft gern verewigt, dass es dieselbe Bourgeoisie ist, die die Arbeiter unseres eigenen Landes ausbeutet, dass Liberale und Konservative in gleicher Weise dieses ganze System stützen und dass diese beiden Parteien von allen Sozialisten aut das Energischste zu bekämpfen sind. Die letzte Lehre ist es, die Manche nicht fassen können. Die jüngsten Nachwahlen in Eastbradford und Halifax zeigen dies. Besonders in Halifax machten Diejenigen, welche sich selbst liberale Arbeiter nennen, heftige Anstrengungen, die Sozialisten zu bekämpfen, und unter Denen, welche für den liberalen Kandidaten sprachen – einen wohlhabenden Rechtsanwalt und typischen Bourgeois – waren die Herren Mr. Charles Fenwick M.P., der den Bergarbeiterverband von Northumberland vertrat, ferner Mr. Henry Broadhurst M.P., eines der Mitglieder für Leicester und Ex-Sekretär des Parlamentarischen Komités des Trades-Umon-Kongresses, und Mr. John Wilson, M.P. von den Durhamer Bergarbeitern. Diese und andere Arbeitermitglieder des Parlaments unterstützten den orthodox-liberalen Kandidaten, während der Schreiber dieses der Kandidat der Sozialisten war, aufgestellt durch die Halifaxer unabhängige Arbeiterpartei, die 600 Mitglieder zahlt. Der Liberale erhielt 5.664 Stimmen, der Konservative 5.252 und der Sozialist 2.000 Stimmen.

In keinem anderen Lande Europas wird man eine so sonderbare Lage der Verhältnisse finden. Hervorragende Leute aus der Gewerkschaftsbewegung helfen bereitwilligst einem typisch-kapitalistischen Rechtsanwalt gegen einen anderen Gewerkschafter, weil der Letztere auch Sozialist ist. Aber man darf über das Vorgefallene keine Verwunderung und keinen Kleinmuth empfinden; die Männer, welche wir erwähnten, haben politisch nie etwas Anderes als Liberale zu sein beansprucht, während jeder Einzelne von ihnen in früherer Zeit ein Laienprediger war, und einer von ihnen noch diesem Luxus huldigt. Sie gehören in Wahrheit alle zu der ausgesprochen individualistischen Richtung, welche nie die Nothwendigkeit kollektivistischer Aneignung und Vertheilung der Lebensbedürfnisse eingesehen hat; aber dfe Sozialisten brauchen sich nicht im Geringsten über die besondere Stellung, welche diese Leute einnehmen, zu beunruhigen, denn Eins ist sicher, dass selbst in der Trades-Union-Bewegung ihr Einfluss in rascher Abnahme begriffen ist und in Leicester und der Grafschaft Durham wird ein systematischer sozialistischer Feldzug gefühlt. Die nächsten drei Jahre sind die Zeit für die wichtigste sozialistische Propaganda, alsdann werden wir sehr schnell fortschreiten und in dem zweiten Parlament nach diesem, das heisst also bei den zweiten allgemeinen Wahlen von jetzt ab, welche voraussichtlich in etwa 7 Jahren stattfinden werden, ist es mehr als wahrscheinlich, dass das britische Parlament eine ebenso grosse Zahl von Sozialisten haben wird als Deutschland, Frankreich, Belgien oder Italien.

Eines ist für viele englische Sozialisten schwer verständlich an dem festländischen Sozialismus, nämlich wie es möglich sein kann, dass die soziale Lage der Arbeiter sich dort so wenig verändert hat, obgleich doch Frankreich 62 sozialistische Mitglieder in der Deputirtenkammer zu haben scheint, Deutschland 48, Belgien 33 u.s.w.; es scheint uns, – unzweifelhaft, weil wir mit den thatsächlichen Schwierigkeiten, welche im Wege stehen, nicht bekannt sind, – dass mit solch einer Anzahl sicher anerkannter Sozialisten in den erwähnten Parlamenten eine grössere Veränderung hätte erzielt werden können, oder, das nothwendige Gegenstück, ein heftigerer Kampf. Jedenfalls werden wir, wenn die englischen Sozialisten zehn oder ein Dutzend Mitglieder ins Parlament bekommen, sicher Dinge von wesentlicher Bedeutung auf dem Gebiete der Reform-Gesetzgebung sich erfüllen sehen, die der kapitalistischen Mehrheit abgezwungene Fürsorge für die Arbeitslosen, die Regelung der Arbeitszeit u.s.w., oder das Gegenstück wird eintreten, eine so kräftige Opposition gegen die üblichen kapitalistischen Maassregeln, dass fortwährende Unruhen daraus entstehen, bis den Forderungen der Arbeiter Beachtung zu Theil wird; dies wird wahrscheinlich einstweiligen Ausschluss vom. Parlament, möglicherweise auch Verbannung und Gefängniss für die kämpfenden Sozialisten bedeuten, mag es nun einen oder alle betreffen, aber ich glaube sicher, unseren Mitgliedern wird es gleichgiltig sein und die Bourgeoisie wird keinen Frieden haben.

Inzwischen bewundern wir aufs Höchste die äusserst wirksame Organisation der sozialistischen Streitkräfte auf dem Festlande und die – für uns – bemerkenswerthen Erfolge der sozialistischen Presse, da wir hören, dass die deutschen Sozialdemokraten 41 Tageszeitungen und 32 Wochenschriften besitzen; Frankeich 78 Zeitungen, Italien 33 u.s.w. In England haben wir bis jetzt keine sozialistische Tageszeitung und alles zusammen, nationale und lokale, wöchentliche und monatliche haben wir nur 10. – Auch dies wird bald geändert werden und wie schwer auch der Kampf ist und sein wird, so sind doch Diejenigen, welche als die Ersten vor 12 Jahren den revolutionären Sozialismus in diesem Lande predigten, schon jetzt hoch befriedigt. Auf den Universitäten erklären Professoren offen ihre Sympathie mit den sozialistischen Prinzipien, in den öffentlichen Schulen wird ein grosser, immer mehr zunehmender Theil der Lehrerschaft in einer oder der anderen Form zu Verkündern des Sozialismus. In allen Gewerkschaften gewinnen die sozialistischen Mitglieder steigenden Einfluss und Filialen irgend einer sozialistischen Organisation befinden sich in der Hälfte der gesammten parlamentarischen Wahlbezirke, in welche das Land eingetheilt ist. – Für ein so kapitalistisches Land wie England ist das wirklich nicht ungünstig für ein Dutzend Jahre! Wir kommen vorwärts und wir werden vorwärts kommen in immer steigendem Maasse, indem wir jene Mächte besiegen, welche ausbeuten, aussaugen und unterdrücken, und indem wir das Vorwärtsschreiten derjenigen Prinzipien unterstützen, welche gesellschaftlichen Zuständen den Weg ebnen, in welchen die Lebensbedürfnisse für alle leicht zu befriedigen sind, und in welchen die Lebensauffassung auf einer höheren und würdigeren Stufe steht als es diejenige ist, welche raffgieriger Kapitalismus zulässt.


Fußnote

1. Der Malthusianismus besagt, dass eine starke Tendenz der Bevölkerung dahin geht, sich schneller zu vermehren als dies die Unterhaltsmittel (hini, und dass das natürliche Gleichgewicht durch Todesfälle infolge Entbehrung und Mangel wieder hergestellt werde, dass daher die Menschen die Geburten von Kindern gemäss der Möglichkeit Unterhaltsmittel zu produziren, reguliren sollten, indem die Letzteren sich nur in arithmethischer, die Ersteren in geometrischer Progression vermehren.


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2008