Paul Mattick


Dynamo

(Juni 1934)


Aus: Neue Deutsche Blätter, Monatsschrift für Literatur und Kritik, Prag, Jg. 1 Nr. 9, Juni 1934, S. 554-564.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



I

Professor Gray sah nach der Uhr. Es war Zeit, länger als einundeinehalbe Stunde durfte sein Vortrag nicht dauern. Eigentlich hatte er auch schon alles gesagt, es galt nur noch einen guten Abschluß zu finden. Er trank einen Schluck Wasser und fuhr dann mit erfrischter Stimme fort: „Es mag phantastisch klingen, meine Herren, und doch bin ich davon überzeugt, daß es nach ein paar weiteren Flügen in die Stratosphäre gelingen wird, die Grundgesetze zu finden, die es uns ermöglichen werden, die Sterne zu unseren Dienern zu machen. Die kosmischen Strahlen, die vom Radium der Sterne ausgesandt werden, machen aus unserer Welt einen riesigen Dynamo, der ohne Zweifel mehr Strom zu erzeugen vermag, als die Menschheit für ihre industriellen und privaten Bedürfnisse jemals benötigen wird. Heute läuft diese Energiemenge sozusagen noch herrenlos herum, morgen wird sie unsere ganze Technik grundlegend verändern. Der Industrie und dem Handel erstehen unausdenkbare Entfaltungsmöglichkeiten. Im Lichte der kommenden technischen Revolution wird selbst die Elektrizitätsära bedeutungslos erscheinen.“

Professor Gray verbeugte sich. Der Direktor der Handelsvereinigung richtete noch einige Worte des Dankes an Redner und Zuhörer, um dann, noch während der Beifall ertönte, mit dem Professor und einigen Vorstandsmitgliedern das Büro des Handelshauses aufzusuchen. Dort trank man noch einige Schnäpse, schüttelte einander die Hände, und Professor Gray bestätigte den Empfang eines Schecks über 250 Dollars, ehe er sich von allen sehr herzlich verabschiedete.

Im Restaurant der Handelsvereinigung wurde der Vortrag diskutiert. Professor Gray war der allein Überlebende einer Gruppe von Radiumforschern, die sich um die industrielle und kommerzielle Verwertung der Radiumwissenschaft bemüht hatte. Um die toten Gelehrten, wie um Professor Gray selbst, woben sich viele Geschichten, die allerdings nur in den seltensten Fällen wirklich etwas mit dem Radium zu tun hatten. Speziell durch den Prozeß gegen die New Jersey Leuchtuhrenfabrik, in dem Gray als Sachverständiger aufgetreten war, hatte sein Name große Popularität gewonnen. Arbeiterinnen der Uhrenfirma hatten um hohe Entschädigungen geklagt, da der Betrieb ihre Gesundheit zerrüttete. Ehe jedoch der immer wieder vertagte Prozeß seinen Abschluß gefunden hatte, waren die Arbeiterinnen bereits gestorben und die Firma schon bankrott.

,,Verfluchte Sache, dieses Radium“, sagte, sich erinnernd, Herr Knittgen vom Zentralverband der Grundbesitzer zu seinen Tischgenossen Polizeirat McKinley und dem Leutnant Larkin, und blickte durch das Restaurationsfenster hinaus in den Park.

„Man ist gerade dabei, Radiumaktivität künstlich herzustellen,“ bemerkte Leutnant Larkin, „wäre ausgezeichnet gegen Krebs.“ „Krebs,“ antwortete Knittgen mißbilligend, „wer hat heut nicht alles Krebs? Die Leute fressen nur zu viel und alles durcheinander.“ Polizeirat McKinley nickte und füllte die Gläser.

Die drei Herren waren, wie sie es selbst nannten, über die Sonnenseite des Lebens hinaus. Man sah ihnen an, daß sie wichtige, oder ihnen doch wichtig erscheinende Positionen bei auskömmlichen Gehältern bekleideten. Nur Leutnant Larkin hatte sich schlank gehalten. Er war dem Vortrag des Professors in angeregtester Stimmung gefolgt. Selbst gezwungen, oft Reden und Ansprachen zu halten, die sich allerdings nicht mit Radium, sondern mit Tränengas beschäftigten, sah er doch viele Beziehungen zwischen seinen eigenen Aufgaben und den Ausführungen des Professors. Wurden der Kriegstechnik durch das Radium nicht ungeheure Möglichkeiten gegeben ? Gas war eigentlich schon eine alte Geschichte, wie alles andere auch, womit sich die Instruktionen der Miliz sonst noch beschäftigten. Über kurz oder lang würde alles bedeutungslos sein.

Seine Augen vom Park auf den Polizeirat lenkend, unterbrach Knittgen den Gedankengang Larkins: „Ekelhaft; dieses viele Zeitungspapier in den Anlagen. Eine Schande, daß man den Pennern erlaubt, im Park zu schlafen.“

„Das wird ja bald aufhören,“ rechtfertigte sich McKinley, „die Kälte wird sie schon vertreiben.“

„Kein Wunder, daß man hier überhaupt keine Grundstücke mehr verkaufen kann,“ murrte Knittgen weiter, „– – – mit dieser Aussicht!“

Larkin lachte. „Bald wird’s Krieg geben, dann sind Sie Ihre Sorgenlos, mein Lieber. Das werden alles gute Soldaten.“

„Vielleicht auch nicht, die ganze Geschichte wird sich ja doch nur in der Luft abspielen.“

„Na, dann sind wir ja weit vom Schuß; meine Frau,“ erzählte McKinley, „dachte zwar, daß ihr das Küstenklima zuträglicher sei, aber seit Balbos Flug hat sie ihre Auffassung geändert.“

„Mir erzählte ein Artillerieoffizier, daß unsere Luftabwehrkanonen ausgezeichnet arbeiten. Neun Treffer bei zehn Schüssen.“

„Wenn Professor Gray sich beeilt, dann wird das nicht mehr viel zu bedeuten haben,“ sagte Larkin, „die kosmischen Strahlen, wie Sie selbst hörten, können alles zerstören.“

„Ja,“ höhnte Knittgen, „man kann mit ihnen durch den dicksten Berg die größten Löcher bohren, man kann den Vesuv anzapfen und mit seiner Wärme unsere Stuben heizen, ... aber, leider werden wir das alles nicht mehr erleben.“

„Im Krieg geschehen Wunder, da werden mehr Erfindungen gemacht, als zu irgend einer anderen Zeit. Denken Sie doch nur daran, wie sich Deutschland im Weltkrieg das Nitrogen aus der Luft holte. Ich kann mir ganz gut vorstellen, daß wir bald Flugzeuge haben werden, die ohne Brennstoff und ohne Bemannung gelenkt werden können. Von einer zentralen Stelle kann man mittels eines Reflektors die tödlichen Strahlen auf die feindlichen Objekte lenken. Dann ist es Schluß mit den Festungen, Fabriken, Munitionslagern, dann kann wirklich im großen aufgeräumt werden.“

„Was nützt uns das,“ sagte Knittgen, „wir sind vielleicht schon vor dem nächsten Krieg bankrott... Phantasien!... Der Weltdynamo!... Was sollen wir damit? Auch die billigste Rechnung nützt nichts, wenn sie nicht bezahlt wird. Um was los zu werden, muß man’s heute ja verschenken. Und wenn der Strom selbst vom lieben Gott gratis geliefert würde, wir stehen ja jetzt schon vor der Pleite... Die neue Ära?... Wer kann darauf warten? Wer jetzt nicht mitkommt, der hat keine Zukunft. Ich wollte, der Handelsverein würde mal einen Professor bestellen, der mir erzählt, wie ich meine Mieten eintreiben kann!“

„Ja, wenn’s sich um praktische Dinge handelt, dann ruft man lieber nach der Polizei,“ ließ sich McKinley vernehmen, „500 Exmittierungen werden an einem Tage angeordnet, da kann man kaum noch mit.“

„Kann man kaum noch mit?“... „Mein Lieber,“ erregte sich Knittgen, „Sie machen Witze! Wen habt ihr denn schon rausgeschmissen? ... Was ist mit der Südseite? Wenn das so weiter geht, wird überhaupt keiner mehr bezahlen.“

„Zuviel Arbeitslose, wo sollen die armen Teufel es auch hernehmen?“

„Arme Teufel?... Diese verfluchten Nigger sind genau so raffiniert wie sie dreckig sind. Da es so vielen glückt, umsonst zu wohnen, versuchens auch die, die bezahlen können. Arbeitslos?... Was können wir dafür? Die spekulieren nur auf unsere Langmut. Die Gerichte sind einfach zum Kotzen. Drei Monate dauert es, ehe man jemand auf die Straße setzen kann, und obendrein haben wir noch die Kosten zu tragen.“

„Mein Lieber,“ wandte Knittgen sich abrupt an Larkin, „wir werden Ihrer Kaserne bald einen Besuch abstatten. Im Ernst!... Wir werden eine Mannschaft aufstellen, die dafür sorgen wird, daß die Leute rausfliegen und auch draußen bleiben.“

Knittgen beugte sich wieder dem Polizeirat zu: „Es wird nicht forsch genug vorgegangen. Man muß einmal eine richtige Lektion erteilen. Die verlassen sich darauf, daß es immer so weiter geht. Der Knüppel hilft da gar nichts. Wenn die Nigger merken, daß wir durchgreifen, werden sie schon zahlen oder ausziehen. Ein paarmal dazwischen geknallt, das hilft Wunder. Die Sache muß ganz anders angefaßt werden. Nicht mitten am Tage. Abends, überraschend, wenn keiner mehr darauf rechnet. Und nicht in Uniform; wenn drei Polizisten nur zusammenstehen, ist die ganze Straße schon mobilisiert und in ein paar Minuten hat man die schönste Demonstration auf dem Hals.“

Das wäre gar nicht so schlecht, dachte McKinley, während Knittgen immer eindringlicher und bestimmter auf ihn einsprach, ja, es lohnte sich vielleicht, die Sympathien des Vereins der Grundbesitzer für sich zu haben. Die Polizei hatte eine schlechte Presse, ein paar unaufgeklärte Schiebungen belasteten ihren Ruf. Es war Zeit, den Steuerzahlern etwas für ihr Geld zu bieten. Die Hausbesitzer könnten sich bei den nächsten Wahlen sehr nützlich machen. Überhaupt, wer sollte wohl auch etwas dagegen haben, den Niggern Respekt beizubringen? Und wenn es wirklich Krach gibt, das schadet ja nichts, ganz im Gegenteil! „Wir werden sehen,“ sagte er zu Knittgen, „wir werden sehen“, auch zu sich selbst.

Er leerte sein Glas und verabschiedete sich. Larkin schloß sich ihm an.

Knittgen bestellte eine neue Flasche.   Er war voller Sorgen und mochte nicht nach Haus gehen. Der Park versank langsam in einem tiefen Grau. Nur wenige Fenster der großen Hotels leuchteten.  Knittgen zählte sie. Alles steht leer, dachte er, der ganze Grundstücksmarkt ist vor die Hunde gegangen.

Der Kellner hatte das Radio angedreht. Knittgen folgte dem Takt der Musik mit seinen Fingern, die gegen das Weinglas trommelten. Sie bewegten sich immer langsamer, die Stimme Bing Crosbys wurde immer zärtlicher: „– – –s’ ist solche süße Sensation, doch ist es Liebe.. .wahre Liebe... ?“ Der hats leicht, dachte Knittgen. Hunderttausend im Jahr für das bißchen Singerei, und ich muß mich für fast den zehnten Teil mit diesen Saunegern rumschlagen. Eine verrückte Welt!


II

Die Stadt sparte Licht. Nur jede dritte Laterne brannte. Phyllis hatte nichts dagegen, bei hellem Licht schritten die Männer zu schnell vorbei. Sie rollte ihre baumwollenen Strümpfe über die Knie. Der Ostwind blies, ein Zeichen, daß es kälter werden würde. „Kein Mensch scheint heute Geld zu haben.“ Phyllis träumte von einem Wintermantel und nahm sich vor, auf die Hälfte des Preises herunterzugehen. Immer leiser und mutloser lockte sie mit ihren weißen Zähnen: „Come in boy!“

Die Straße war nicht besonders belebt. Sie hatte nur wenige Läden. Die Hälfte der Bewohner lebte von der Wohlfahrtspflege. Konserven, Trockenobst, Schmalz und Mehl wurden ins Haus gebracht. Man kaufte nur wenig. Aber es gab hier viele Mädchen, die mit Phyllis konkurrierten. Ihr Beruf war eine Selbstverständlichkeit. Jeder wußte darum, die Kinder der Straße, die Nachbarn, die Eltern und Geschwister. Die Angehörigen der Mädchen verließen die Zimmer, wenn Gäste kamen; sie kehrten zurück, wenn alles vorüber war. Es war jedem klar, daß verdient werden mußte. Die Mädchen hatten die Mieten aufzubringen. Und die waren hier nicht billig, trotz der verfaulten Fußböden, der Wanzen, der verfallenen Wände und der elenden Gegend.

Die Neger konnten aus ihren Distrikten nicht heraus. In anderen Gegenden forderte man von ihnen das Dreifache der wirklichen Preise, da die Häuser an Wert verloren, sobald sie von Schwarzen bezogen wurden. Die Weißen zogen sofort aus. Die Mietpreise im Negerviertel waren Monopolpreise, die gezahlt werden mußten, wollte man nicht auf die Straße fliegen. Wohl wußten die Herren des Vereins der Grundbesitzer, daß die Arbeitslosigkeit unter den Negern am größten war; aber sie wußten auch, daß es viele Negermädchen gab, und unabhängig von allen Erwägungen hatten sie ihre Interessen zu vertreten, so gut wie jeder andere auch. Sie waren Vermieter und keine Philanthropen.

Phyllis Flurnachbar, Johnny May, las in der Zeitung: „– – – Gewiß, wir haben wenig Sonne in unserer Stadt, aber dafür haben wir auch keine Überschwemmungen...“ Leider, dachte Johnny, leider, vielleicht gab’s dann Arbeit.

Arbeit! ... Einen hellblauen Anzug mit wattierten Schultern, gelbe Stiefel, karierte Kravatten und eine weiße Sportmütze. Johnny erinnerte sich, daß auf dem Wege zum Erfolg keine Bänke standen. Er wollte, nachdem alle anderen Prospekte versagt hatten, nun Stepptänzer und Sänger werden. Er warf die Zeitung fort und begann zu üben, daß die Petroleumlampe auf dem Tisch zitterte, der Boden vibrierte und die Wände ächzten. Seine Zehenspitzen waren so beweglich wie seine Stimme:

 

„– – – und wenn du dann gestorben bist, baby
der Himmel dir erschlossen ist, baby,
dann sing ich dir trotzdem am Grab, baby,
trataratat – – – trataratat, – – – my baby. – – –“

Johnny formte seine Hände zum Trichter und stieß die seltsamsten Töne aus. Je verrückter, je tierischer er heulen konnte, desto eher würde sein Traum verwirklicht werden. „– – – lululululullulalula– – –.“

Er brach plötzlich ab. In der Tür stand Phyllis. „Johnny, sie setzen Washingtons raus!“

„Du bist ja verrückt, – – – doch nicht jetzt.“

Aber Johnny hörte schon, wie auf der nächsten Etage gegen die Tür geschlagen wurde. „Aufmachen! – – – Polizei!“

Die Familie Washington rückte nur Möbelstücke vor die Tür. Voller Angst hatten sie schon seit drei Tagen auf diesen Augenblick gewartet. Vater Washington hatte den ganzen Tag am Fenster gesessen, um nicht überrascht zu werden. Es galt Ziehleute und Polizei aus der Wohnung zu halten. Einbrechen durften sie ja nicht, das wußte er, die Tür einschlagen durften sie auch nicht. Washingtons waren einfach nicht zu Haus.

Es half jedoch nichts, drei Mann warfen sich gegen die Tür; sie gab sofort nach. Die Möbelstücke wurden zur Seite gerückt.

Die Hausbewohner sammelten sich auf Treppen und Fluren. Sie waren erregt, sie schrien aufeinander ein, sie drängten sich nach oben, um zu sehen, was mit den Washingtons geschehen würde. Alle wußten, daß es ihnen eines Tags genau so ergehen konnte. Sie wußten, weshalb die Washingtons die Miete schuldeten. Leute kamen aus den Nachbarhäusern. Das Haus füllte sich. Auf der Straße begannen sich Menschen anzusammeln. Die Stimmen des Protestes wurden lauter und lauter.

Frau Washington zitterte und drückte sich fast in die Zimmerwand. Sie rang die Hände und murmelte mit geschlossenen Augen: „Wo sollen wir jetzt nur hin, wo sollen wir nur hin.“ Die Kinder versteckten sich unter das Bett. Auch Vater Washington wagte nicht, die Beamten anzusehen. Er fand kein Wort des Protestes, er hatte Angst vor der Menge, wie er auch Angst davor hatte, daß sie weggehen würde.

Die Beamten beachteten die Familie Washington überhaupt nicht. Sie sahen nur die drängende, fluchende, aufgeregte Menge vor der Tür. Sie sahen die wachsende Menschenmasse auf der Straße und wußten, daß sofort gehandelt, energisch gehandelt werden mußte, sollte die ganze Expedition nicht ergebnislos sein. Der Kommissar kannte seinen Auftrag genau, die Exmittierung war mit allen Mitteln zu erzwingen, auf ein paar Neger durfte es dabei nicht ankommen.

Johnny und Phyllis waren bereits mit anderen in die Küche gedrängt worden. Sie versuchten wieder herauszukommen. Aber die Menschen machten aus der Treppe eine feste Mauer. Der erste Versuch, ein Möbelstück auf die Straße zu bringen, zeigte, wie unsinnig das ganze Unternehmen war. Man kam nicht einmal durch die Tür. Kurz entschlossen und in Wut riß der Kommissar die Fenster auf.

„Schmeißt das Ding auf die Straße, raus mit dem Mist!“

Die Menschen vor dem Haus stoben auseinander. Die Kommode flog aufs Pflaster und zerbarst in viele Stücke. Hände griffen nach der Wäsche, dem Trockenobst, den Gegenständen, die sich über die Straße erstreuten.

„Kommt Jungens, ran ans Bett, raus mit dem Plunder!“

Der Kommissar hielt die Menge mit dem Revolver in Schach. Die Kinder klammerten sich schreiend an die jammernde Mutter. Vater Washington traten die Augen fast aus dem Kopf. Er krümmte sich, und seine Gedanken waren wie betrunken. Aus einer offenen Wohnungstür drang durch all den Lärm hindurch eine weinerliche Radiostimme: ——— „wenn mein Mädchen nicht bei mir ist, dann regnets immerzu...“

Wäre das Radio auf kurze Wellen eingestellt gewesen, dann hätte man zu gleicher Zeit eine klare, gleichgültige Stimme hören können:

„Polizeifunk – – – Alle Autopatrouillen nach 5000 South Wabash – – Aufruhr– –!“

Die Sirenen heulten, die Polizeiautos flizten um die Ecken. Die Insassen lösten ihre Knüppel vom Leibgurt.

Die Massen drängten plötzlich mit einem gewaltigen Ruck nach vorn, denn hinter ihnen schlug die Polizei auf sie ein. Wer nicht seitwärts entfliehen konnte, flüchtete ins Haus. Die Menschen auf den Treppen wurden in die Wohnungen gedrängt. Sie waren wie in einer Falle. Die Kriminalbeamten schlugen auf sie ein. Phyllis traf ein Revolvergriff, der sie bewußtlos machte. Das Treppengeländer brach zusammen. Die Herabstürzenden schrieen wie besessen. Ein paar Beherzte griffen nach den Geländerstangen, um sich zu wehren. Türen wurden zugeschlagen. Hinter ihnen standen zitternde Frauen, hoffend, daß man sie in Ruhe lassen würde. Fäuste donnerten gegen die Türen, forderten Einlaß. Aus den Nebenstraßen eilten Neugierige herbei und waren im Nu mitten im Handgemenge. Die gleichmäßige, kalte Stimme am Radio wiederholte noch immer: „– – Polizeifunk – – Aufruhr auf der Südseite – – Alle Autos – – –.“

Johnny stak wie ein Keil zwischen den Menschen. Er wurde immer weiter ins Zimmer geschoben. Einen Zoll nach vorn, ein leichtes Zurückfluten, und dann wieder einen Zoll nach vorn. Dann knallten Schüsse. Der Kommissar wußte, dies war sein Moment, er leerte die Trommel seines Revolvers. Fünf Schüsse trafen. Johnny brach zusammen, er hörte nicht mehr das irrsinnige Geschrei der Fliehenden, das Knacken der Knüppel auf den krausen Schädeln und auch nicht mehr die verschieden getönten Sirenen der Krankenwagen und des Totenautos.

Der Kriminalkommissar erstattete seinem Chef McKinley am Telefon Bericht. Der Chef beglückwünschte ihn und rief sofort Knittgen an. Knittgen telefonierte den Zeitungsredaktionen. Die Nachtausgaben brachten schon die Neuigkeit durch die ganze Stadt.

„Aufruhr Farbiger auf der Südseite“ – – “Schwarzer Pöbel attackiert Polizei“ – – “Mob versucht Exmittierung aufzuhalten“ – – “Polizei schießt in Notwehr auf Neger“.

Der Bürgermeister hatte jedoch Bedenken, der Arbeitslosensituation gegenüber war äußerste Vorsicht geboten. Ein Glück, daß es sich nur um Neger handelte. Die Telefone klingelten die ganze Nacht. Anderen Tags brachten die Zeitungen nur noch einige Zeilen auf der vierten Seite darüber. Es war zu gefährlich, die Sache „aufzuspielen.“

Die schon fertigen Leitartikel wurden ausgetauscht. Anstelle eines flammenden Appell’s für Ruhe und Ordnung trat ein Artikel Professor Obgurns über die kommende Prosperität.

Professor Obgurn verstand es, der knochigkalten Ökonomie Fleisch und Blut zu geben. Er belästigte niemanden mit Zahlen und Statistiken, für ihn war der menschliche Wille die Wurzel allen Fortschritts. Es gelte nur den allgemeinen Pessimismus loszuwerden, dann wäre auch die Krise überwunden. Mit fröhlicheren Gesichtern müßten wir paradiesische Zustände erreichen. Und so schrieb Professor Obgurn denn auch über die zukünftigen, in künstlichem Sonnenlicht gebadeten, gesunden Straßen; von den neuen Häusern und den modernen Wohnungen mit richtiger Luftzufuhr und automatisch geregelter Temperatur. Ja, jede Wohnung würde durch den Fortschritt der Television ihr eigenes Kino haben und für die Blinden werde es sprechende Bücher geben. Wer könnte nicht ermessen – – – ?“


III

Auf allen Wohlfahrtsämtern wurden die Vorgänge auf der Südseite diskutiert. Aus allen Teilen der Stadt erhielt der Bürgermeister Protestresolutionen, die ungelesen in die Papierkörbe wanderten. Die Arbeitslosenorganisationen beschlossen, am Begräbnistag gemeinsam zu demonstrieren. Bis zuletzt verweigerte die Stadtverwaltung die Marscherlaubnis, um dann, nach heißen Debatten mit der Arbeitslosendelegation, ein Kompromiß einzugehen. Die Demonstration sollte nur durch vorher bestimmte Straßen geleitet werden.

McKinley war enttäuscht, aber es hatte keinen Sinn, sich gegen die Stadtverwaltung aufzulehnen. Doch beklagte er sich bitter: „Kaum hat man ein bißchen Zug in die Sache gebracht, da wird einem von diesen Feiglingen alles wieder vermasselt“. Knittgen stimmte ihm zu und nahm sich vor, dem Verein der Grundbesitzer eine gegen den Bürgermeister gerichtete Resolution vorzulegen.

Dem Bürgermeister war die ganze Geschichte äußerst unangenehm, aber was sollte er tun? Die Demonstration zu verbieten, wäre sinnlos, da sie (darüber war er informiert) auch gegen das Verbot stattfinden würde. Straßentumulte mußten, wenn irgend möglich, vermieden werden, die städtische Viehausstellung würde darunter leiden. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Demonstration sicher nicht sehr groß werden würde, denn viel Sympathien hatte die Bevölkerung für die Neger ja nicht, und die Schwarzen selber waren viel zu ängstlich. Im übrigen hatten ihm die Negergeistlichen in einer Konferenz die Zusicherung gegeben, von den Kanzeln aus ihren Gläubigen die Teilnahme an der Demonstration zu verbieten. Für alle Fälle wurde jedoch die Miliz mobilisiert.

Während in der kleinen Kapelle weiße und schwarze Arbeiter mit mehr Neugier als Schmerz in den Augen an den vier toten Negerjungens vorbeidefilierten, während die schwarzgekleideten Angehörigen der Erschossenen warteten, weinten und müde wurden, und während sich auf der Straße die ersten Reihen der Demonstranten formierten, arangierte Leutnant Larkin seine Abteilungen in den verschiedensten Etagenwohnungen an strategisch wichtigen Straßenkreuzungen . McKinley ließ tausend Polizisten vor der Bibliothek Aufstellung nehmen und gab ihnen selbst die letzten Instruktionen! Sie hatten in Abständen von je fünf Schritt die Demonstranten zu umrahmen und nur im äußersten Falle sollte von der Waffe Gebrauch gemacht werden, dann aber: „God damn, no mercy!“

Der Bürgermeister hatte sich geirrt. Tausende von Arbeitslosen strömten in die Straßen der Südseite. Daß es Neger waren, für die sie sich einsetzten, war ihnen völlig nebensächlich. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Man hat geschossen, weil keine Miete bezahlt worden war. Was bedeuteten dieser Tatsache gegenüber schwarze Gesichter und krause Haare; man hatte Menschen totgeschlagen, weil sie sich weigerten, auf der Straße zu schlafen. „Nicht genug, daß wir hoffnungslos um Arbeit betteln, daß wir hungern, daß wir in längst verbrauchten Kleidern herumlaufen, nicht genug, daß wir von Morgens bis Abends grübeln, nichts als grübeln, jetzt sollen wir uns auch noch in Kellerlöcher verkriechen und unsere Kinder in die Polizeistationen und von dort in die Erziehungsanstalten treiben. – – – Ja, sind die denn wahnsinnig geworden?“

„Nieder mit den  Mördern!“ – – “Kämpft gegen  die Exmittierungen!“,schrieen die Schilder der Demonstranten.

Die Polizisten spielten mit ihren Knüppeln und grinsten.

Ihren verbundenen Kopf gesenkt, stand Phyllis vor den Toten. Bald würden die Särge geschlossen werden. Ein Neger hielt eine Ansprache, aber Phyllis hörte sie nicht. Die Musik spielte die Internationale, doch Phyllis wusste nicht, daß es eine Internationale gab und sie achtete nicht einmal auf die Töne. Noch immer summte in ihrem Kopf Johnny selbst, der lebendige, hoffnungsvolle Johnny:   „– – dann sing ich  dir trotzdem am Grab, – –  tratatratat – – trataratat, my baby“.

Sie folgte den Särgen, wunderte sich, weinte und marschierte in der Demonstration. Was sollten die roten Fahnen, die Lieder, die Rufe; was hat das alles mit Johnny zu tun ? Was hat sie selbst damit zu tun ? Aber sie marschierte und Tausende marschierten mit ihr.

Die Dächer der Häuser, die Fenster, die Feuerleitern waren voller Neugieriger. Menschen winkten mit roten Lappen, schrieen und sangen, immer mehr schlossen sich dem Zuge an.

Das Grinsen verschwand von den Gesichtern der Polizisten, ihre Kommandos wurden weicher und hörten bald ganz auf. Sie fühlten das Heranwachsen eines gefährlichen Enthusiasmus, sie wußten bald, daß man sie zertrampeln würde, wenn sich hier ein Kampf entwickeln sollte. Gewiß, die Linie von blauen Uniformen war eindrucksvoll, fünf Schritt ein Knüppel, wieder fünf Schritt und wieder ein Knüppel, aber vor ihnen und hinter ihnen standen und marschierten dicht gedrängt, unübersehbar die Massen. Ihnen gehörte die Straße. Die Straßenbahnen lagen tot auf den Geleisen. Die Autos suchten nach Umwegen, um ihre Ziele zu erreichen.  Immer wieder sangen die Marschierenden dieselben Worte, dieselbe Melodie: „– – – und McKinley wird bald hängen an dem höchsten Apfelbaum; denn vereinigt sind wir stark“. Leutnant Larkin war sehr enttäuscht. Seine strategisch so wichtigen Stützpunkte hörten auf strategisch zu sein. Die Maschinengewehre waren auf verlassene Straßen gerichtet, die Massen hatten die vorgeschriebene Marschroute verlassen. Es hatte auch keinen Sinn, die Miliz hinter den Massen herzujagen, selbst Tränengas würde hier nicht viel helfen, der Kampfplatz war zu groß.

Phyllis war müde geworden. Sie trat aus dem Zug, drängte sich durch die Menge, um sich auf den Stufen eines Hauses niederzulassen. Was für ein Begräbnis Johnny hatte, aber weshalb sangen die Menschen so laut, weshalb wurden sie immer fröhlicher und ausgelassener, je länger sie sangen? Eigentlich war dies gar kein Begräbnis, die Trauerstimmung fehlte. Der Totenwagen war vorbeigezogen, die Menschen vorbeimarschiert, der Bürgersteig hatte sich geleert.

Phyllis stand auf, ihr Rücken schmerzte und ihre Schuhe drückten, sie humpelte nach Haus. Als es zu dunkeln begann, zog sie den Hut tief ins Gesicht, um ihren Verband zu verdecken, nahm wie immer vor dem Hause Aufstellung, zeigte ihre weißen Zähne und lockte:  „Come in boy!“

Am Abend trafen sich Larkin und McKinley. „Wer konnte auch erwarten,“ sagte Larkin, „daß die Demonstration solche Formen annehmen würde.“

„Das nächstemal,“ antwortete McKinley verbittert, „wird’s anders werden. Wir dürfen nicht zulassen, daß sich solche Massen zusammenballen, gruppenweise müssen sie aufgelöst werden, sonst hat man einen regelrechten Krieg.“

Phyllis stand noch immer in der Haustür und sah nach den Sternen. Sie sah nur, daß die Sterne leuchteten, und dachte, daß dort irgendwo nun auch Johnny sein würde.  Sie wußte nicht, daß die Sterne Strahlen aussenden, die sich die Professoren einzufangen bemühten, in der Hoffnung, mit ihnen die Wirtschaft erneut zu beleben, damit die Knittgens bis in alle Ewigkeit hinein ihre Mieten ohne Schwierigkeiten kassieren konnten.

Die Welt ist wie ein riesiger Dynamo, hatte Professor Gray gesagt und auf ein paar Instrumente hingewiesen. Aber, abgesehen von der Wissenschaft, wer könnte dies wohl auch bezweifeln angesichts der strahlenden, elektrisch geladenen Menschen, die singend und kraftbewußt Johnny das letzte Geleit gegeben hatten. Wohl verkrochen sie sich wieder am Abend in ihre Rattenlöcher, jeder für sich, Arbeitslose, Leblose; wohl war der Strom dieses Tages wie ein Blitz niedergeschlagen, um in der Erde zu Nichts zu vergehen, aber wie lange würde es dauern, und die irregulären Funken würden in einem breiten bewußten, kraftvollen Strom über die Erde fließen und die Sterne erleuchten.


Zuletzt aktualisiert am 26.1.2009