Paul Mattick


Arbeitsteilung und Klassenbewußtsein

(November 1971)


Zuerst abgedruckt in Die Soziale Revolution ist keine Parteisache No. 2 vom November 1971, S.114-135. Abgedruckt in der Broschüre P. Mattick Kapitalistischer Reproduktionsprozeß und Klassenbewußtsein 2 Aufsätze, Hamburg, Verlag O, 1973, S. 12-32.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Produktive und unproduktive Arbeit

In jüngster Zeit wurde die Frage des proletarischen Klassenbewußtseins erneut mit den Marxschen Begriffen der produktiven und unproduktiven Arbeit in Zusammenhang gebracht und eingehend diskutiert.[1] Obwohl sich Marx über dies von den Physiokraten und der klassischen Ökonomie aufgeworfene Problem weitgehend geäußert hat,[2] läßt sich seine diesbezügliche Auffassung doch in wenigen Sätzen zusammenfassen. Die Frage, was die produktive von der unproduktiven Arbeit unterscheidet, bezieht sich für Marx nur auf die kapitalistische Produktionsweise. „Bloß die bürgerliche Borniertheit“, schrieb er, „die die kapitalistischen Formen der Produktion für die absoluten Formen derselben hält – daher für ewige Formen der Produktion – kann die Frage, was produktive Arbeit vom Standpunkt des Kapitals aus ist, mit der Frage, welche Arbeit überhaupt produktiv ist oder was produktive Arbeit überhaupt ist, verwechseln und daher sich weise dünken in der Antwort, daß jede Arbeit, die überhaupt etwas produziert, in irgend etwas resultiert, eo ipso produktive Arbeit ist.“[3]

Für Marx ist nur die Lohnarbeit produktiv, welche Kapital produziert, während unproduktive Arbeit solche ist, die sich nicht gegen Kapital, sondern unmittelbar gegen Profit oder Lohn austauscht. „Das Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses“, führt Marx aus, „ist weder ein bloßes Produkt (Gebrauchswert) noch Ware, d. h. Gebrauchswert, der einen bestimmten Tauschwert hat. Sein Resultat, sein Produkt ist Schöpfung des Mehrwerts für das Kapital und daher faktische Verwandlung von Geld oder Ware in Kapital, was sie vor dem Produktionsprozeß bloß der Intention nach, an sich, ihrer Bestimmung nach sind. In dem Produktionsprozeß wird mehr Arbeit eingesaugt, als gekauft ist, und dieses Einsaugen, Aneignen fremder unbezahlter Arbeit, das im Produktionsprozeß vollbracht wird, ist der unmittelbare Zweck des kapitalischen Produktionsprozesses; denn was das Kapital als Kapital (daher der Kapitalist als Kapitalist) produzieren will, ist weder unmittelbarer Gebrauchswert zum Selbstkonsum noch Ware, um sie erst in Geld und später in Gebrauchswert zu verwandeln. Sein Zweck ist die Bereicherung, die Verwertung des Werts, seine Vergrößerung, also das Erhalten des alten Werts und Schaffen von Mehrwert. Und dieses spezifische Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses erreicht es nur im Austausch mit der Arbeit, die daher produktive Arbeit heißt.“[4]

Allerdings ist die kapitalistische Gesellschaft eine Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozeß, und in der Zirkulation wird nichts produziert. Die Produktion von Mehrwert muß sich damit von seiner Verteilung unterscheiden, womit sich der Unterschied von produktiver und unproduktiver Arbeit verwischt, da in der Sphäre der Produktion wie in der der Zirkulation Löhne gezahlt und Profite gemacht werden. Die kapitalistische Arbeitsteilung als historisches und sich fortlaufend veränderndes Produkt der kapitalistischen Entwicklung bringt die Aufteilung des Kapitals in den verschiedenen Branchen der Marktwirtschaft mit sich und damit die Anteilnahme der unproduktiv angewandten Einzelkapitale an dem gesellschaftlich produzierten Gesamtmehrwert. Wie das mehrwertproduzierende Kapital tritt auch das unproduktiv angelegte Kapital als kapitalistisches Unternehmen auf, das dem in ihm investierten Kapital den durchschnittlichen Profit vermittelt.

Nicht nur der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktionsweise zeigt diese Einheit von produktiv und unproduktiv angewandter Arbeit. In den mehrwertproduzierenden Unternehmen herrscht eine Arbeitsteilung, die einen Teil der Beschäftigten zum direkten und einen anderen Teil zum indirekten Schöpfer des Mehrwerts macht. Nach Marx

„ist es ja eben das Eigentümliche der kapitalistischen Produktionsweise, die verschiedenen Arbeiten, also auch die der Kopf- und Handarbeiter – oder die Arbeiten, in denen die eine oder andere Seite vorwiegt – zu trennen und an verschiedene Personen zu verteilen, was jedoch nicht hindert, daß das materielle Produkt das gemeinsame Produkt dieser Personen ist oder ihr gemeinsames Produkt in materiellem Reichtum vergegenständlicht, was andererseits ebensowenig hindert oder gar nichts daran ändert, daß das Verhältnis jeder einzelnen dieser Personen das des Lohnarbeiters zum Kapital und in diesem eminenten Sinn das des produktiven Arbeiters ist. Alle diese Personen sind nicht nur unmittelbar in der Produktion von materiellem Reichtum beschäftigt, sondern sie tauschen ihre Arbeit unmittelbar gegen das Geld als Kapital aus und reproduzieren daher unmittelbar außer ihrem Salair einen Mehrwert für den Kapitalisten[5].“

Abgesehen von der Warenproduktion und ihrer Zirkulation gibt es zahllose Berufe, die weder mit der einen noch mit der anderen Sphäre zu tun haben, die keine Waren produzieren, sondern Dienste leisten. Diese Berufe leben entweder von dem Einkommen der Arbeiter, der Kapitalisten oder von beiden zugleich und sind vom Standpunkt des Kapitals aus unproduktiv, wie nützlich oder notwendig sie auch sein mögen. Ob ihre Dienste wie Waren verkauft oder aus Steuern bezahlt werden, in jedem Fall beziehen sie ihr Einkommen aus der Revenue der Kapitalisten und den Löhnen der Arbeiter.

Hier scheint sich eine Schwierigkeit zu ergeben, da viele dieser Berufe, Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Schauspieler, Künstler usw., obwohl sie Dienste leisten und keine Ware produzieren, sich doch in einem Angestelltenverhältnis befinden und den sie beschäftigenden Unternehmern Profit bringen. Diese Unternehmergewinne und die ihnen unterliegende bezahlte Arbeit macht diese Arbeit dem Unternehmer gegenüber produktiv, da sie sein Kapital verwertet, aber bleibt den Gesellschaftskapital gegenüber unproduktiv, da sich das auf diesem Wege verwertende Kapital aus dem in der Produktion geschaffenen Wert und Mehrwert bildet. Es steht nicht anders mit dem Kaufmanns- und Bankkapital und seinen Angestellten, in dem ebenfalls Mehrarbeit geleistet und Kapital verwertet wird. obwohl hier Lohn und Profit dem in der Produktion geschaffenen Wert und Mehrwert entnommen werden müssen.

Weiterhin gibt es auch heute' noch selbständige Handwerker und Bauern, die keine Arbeiter beschäftigen, also nicht als Kapitalisten produzieren. „Sie treten nur als Verkäufer vor Waren, nicht als Verkäufer von Arbeit auf, und dieses Verhältnis hat also mit dem Austausch von Kapital und Arbeit nichts zu tun, also auch nichts mit dem Unterschied von produktiver und unproduktiver Arbeit. der bloß darauf beruht, ob die Arbeit gegen Geld als Geld oder gegen Geld als Kapital ausgetauscht wird. Sie gehören daher weder in die Kategorie der produktiven noch der unproduktiven Arbeiter, obgleich sie Produzenten von Waren sind. Aber ihre Produktion ist nicht unter die kapitalistische Produktionsweise subsumiert[6]“.

Das Klassenbewußtsein mit Bezug auf produktive und unproduktive Arbeit

Die über Angebot und Nachfrage durch die Konkurrenz vermittelte Durchschnittsprofitrate macht es für den Kapitalisten gleichgültig, ob sein Kapital innerhalb der Produktion, der Zirkulation oder in beiden zugleich angelegt ist. Das Problem der produktiven und unproduktiven Arbeit existiert für ihn nicht. Es interessiert auch die Arbeiter nicht, ob sie produktiv oder unproduktiv beschäftigt werden. In beiden Fällen hängt ihre Existenz vom Verkauf ihrer Arbeitskraft ab. Die kapitalistische Arbeitsteilung ergibt unterschiedliche Löhne für verschiedene Berufe. Die Konkurrenz der Arbeiter untereinander dreht sich so um den Arbeitsplatz überhaupt und um die besser bezahlten und angenehmeren Beschäftigungen. Im großen und ganzen überläßt das Kapital die Reproduktion der Arbeitskräfte dem Konkurrenzkampf der Arbeiter.

Die Akkumulation des Kapitals ist begleitet von der Konkurrenz der Kapitale, der Arbeiterkonkurrenz und den Lohn- und Profitauseinandersetzungen zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Diese Aktivitäten überschneiden und beeinflussen sich gegenseitig. Weder für das Kapital noch für die Arbeiter erscheinen ihre ökonomischen Interessen unmittelbar als Klasseninteressen. Die einzelnen Arbeiter stehen nicht dem Gesamtkapital gegenüber, die einzelnen Kapitalisten nicht der Gesamtarbeit. Das gemeinsame Interesse der Kapitalisten an der Erhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse wird durch den kapitalistischen Staat und die kapitalistische Ideologie wahrgenommen. Das kollektive Interesse der Arbeiter muß sich gegen ihre Konkurrenz durchsetzen und ist in seiner Wirksamkeit durch die Abhängigkeit der Arbeit vom Kapital begrenzt, Dies gilt sowohl für die produktive wie für die unproduktive Arbeit.

Was Marx über die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins zu sagen hatte, bezog sich nicht auf den Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, sondern auf die sich wandelnden Klassenverhältnisse im Laufe der kapitalistischen Akkumulation. Die Akkumulation des Kapitals war zugleich die zunehmende Zweiteilung der Gesellschaft in Arbeiter und Kapitalisten, in der eine abnehmende Zahl der letzteren mit der fortschreitenden Proletarisierung der Masse der Bevölkerung zusammenfiel. „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten,“ heißt es im Kapital, „welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropriiert[7].“

Es konnte erwartet werden, daß die im „kapitalistischen Produktionsprozeß geschulten, vereinten und organisierten Arbeiter“ sich ihrer Ausbeutung und Klassenlage bewußt würden und ebenfalls der ihnen gegebenen Möglichkeit der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die Fabrik, die Zusammenfassung von Tausenden von Arbeitern, deren gemeinsame Tätigkeit und dauernde Konfrontierung mit den Kapitalisten und deren Agenten sollten einen Niederschlag im Bewußtsein der Arbeiter finden. Von hier aus war es nur ein Schritt zur Arbeiterorganisation, zu Gewerkschaften und Parteien, und zu der Herausbildung eines politischen Klassenbewußtseins. Obwohl nicht auf die Arbeiter in der Produktion beschränkt, sollte das Klassenbewußtsein doch am stärksten bei ihnen hervortreten, da die kapitalistische Ausbeutung hier am offensichtlichsten ist und der Kampf gegen die Ausbeutung die besten Erfolge verspricht. Tatsächlich wurde für lange Zeit der ökonomische Kampf zwischen Kapital und Arbeit fast ausschließlich in der Produktionssphäre ausgetragen.

Daraus läßt sich jedoch nicht schließen, daß es der produktive Charakter der Arbeit ist, der diese Art von Klassenbewußtsein vermittelt, und daß die unproduktive Arbeit dessen Herausbildung erschwert und sogar unmöglich macht. Auch unproduktive Arbeit kann durch ihre Ausbreitung und durch den kapitalistischen Konzentrationsprozeß in der Zirkulationssphäre zur Zusammenfassung großer Massen von Arbeitern führen und ihnen Aktionsmöglichkeiten bieten, die denen der produktiven Arbeiter nicht nachstehen. Jedenfalls haben sich unproduktive Arbeiter ebenfalls organisiert und sich in Streikaktionen eingelassen, die sich von denen der produktiven Arbeiter nicht unterscheiden. Wenn also Klassenbewußtsein im ökonomischen Kampf der Arbeiter zum Ausdruck kommt, dann trifft dies auf beide Typen von Arbeitern zu.

Die Herausbildung eines proletarischen Klassenbewußtseins hat mit der Klassenlage der Arbeiter zu tun, nicht mit den besonderen Beschäftigungen in der kapitalistischen Arbeitsteilung, auch dann, wenn es bei den produktiven Arbeitern eher als bei den unproduktiven zum Vorschein kommt. Die Frage, ob die unproduktiven Arbeiter in demselben Maß Klassenbewußtsein entwickeln können wie die produktiven, setzt eine Definition von Klassenbewußtsein voraus. Wenn Klassenbewußtsein nicht mehr wäre als die Erkenntnis der Produktionsverhältnisse und die Wahrnehmung der Arbeiterinteressen gegenüber dem Kapital, dann existiert Klassenbewußtsein bei den produktiven wie bei den unproduktiven Arbeitern. Beide sehen sich als eine den Kapitalisten gegenüber opponierende Klasse – selbst wenn der Begriff Klasse nicht angewandt wird – und versuchen, ihre Interessen dem Kapital gegenüber wahrzunehmen. Und beide haben bisher keine Vorstellung davon oder machen sich keine Gedanken darüber, wie dem Kapital-Arbeiter-Verhältnis abzuhelfen ist. Sie sind „klassenbewußt“ im Rahmen des Kapitalismus, und es lohnt sich nicht, auf ihre eigenen ideologischen Vorstellungen über ihre gesellschaftliche Situation einzugehen, da sie objektiv gezwungen sind, ihre ökonomischen Interessen den existierenden Klassenverhältnissen entsprechend einzusetzen.

Von dieser Art Klassenbewußtsein unterscheidet sich das revolutionäre Klassenbewußtsein, das dem Kapitalismus ein Ende machen will. Von solchem Klassenbewußtsein sind die produktiven wie die unproduktiven Arbeiter gleichmäßig weit entfernt. Es stimmt, daß Teile der europäischen Arbeiterschaft in sozialen Krisenzeiten Versuche zur Abschaffung des Kapitalismus unternahmen, aber diese Versuche hingen nicht mit der Produktivität ihrer Arbeit, sondern mit der Krise zusammen und umfaßten, neben ihnen, Elemente verschiedener sozialer Schichtungen. Es stimmt auch, daß die entstehende Arbeiterbewegung neben ihren Tagesprogrammen den Sozialismus zum Endziel hatte, aber dieses Ziel wurde bald preisgegeben. Es ist deshalb nicht möglich, in den produktiven Arbeitern, nur weil sie solche sind, die ausschließlichen Träger des revolutionären Klassenbewußtseins zu sehen. Sie können in Krisenzeiten dazu werden, aber das können auch andere Schichten der arbeitenden Bevölkerung.

Arbeit und Wissenschaft

Allerdings bezieht sich die Debatte über produktive und unproduktive Arbeit, von der wir ausgingen, nicht auf die von Marx gemachte allgemeine Unterscheidung, sondern auf spezifische Ereignisse der letzten Jahre, die einerseits die unproduktive Arbeit auf Kosten der produktiven wachsen ließ und andererseits die Wissenschaft in größerem Maß als bisher in die Produktion einschaltet. Die produktive Arbeit, so wurde gesagt, sei damit nicht länger nur durch das Industrieproletariat repräsentiert, sondern umfasse auch die Wissenschaft, die sich in sachlichen Arbeitsbedingungen vergegenständlicht. In Anbetracht dieses Umstandes wäre es an der Zeit, das Verhältnis der Wissenschaft den Arbeitern und der Gesellschaft gegenüber erneut zu untersuchen.

Hier handelt es sich zuerst um zwei, obwohl zusammenhängende, so doch einander widersprechende Dinge: die Zunahme der unproduktiven Arbeit und die Verwissenschaftlichung der Produktion. Die Verwissenschaftlichung der Produktion erhöht den Mehrwert, das Anwachsen der unproduktiven Arbeit vermindert ihn und behindert damit die kapitalistische Akkumulation. Die wachsende Produktion ist von einem schneller zunehmenden Anteil unproduktiver gegenüber produktiver Arbeit begleitet und erschwert damit die Verwertung des Gesamtkapitals. Läßt sich die unproduktive Arbeit nicht zurückschrauben, so erfordert die fortgesetzte Akkumulation eine weitere Erhöhung der Produktivität der Arbeit durch eine noch intensivere Anwendung wissenschaftlicher Produktionsmethoden.

Die Verwissenschaftlichung der Produktion verwandelt mehr Wissenschaftler in produktive Arbeiter, setzt aber zugleich eine größere Anzahl anderer Arbeiter frei, da die Anwendung wissenschaftlicher Technik kein anderes Ziel hat als die Ersparung von Arbeitskräften gegenüber der wachsenden Produktion. Diesem Bestreben aller Einzelkapitale, die sich am Markt zu orientieren haben, steht die unterliegende Realität der gesellschaftlichen Produktion entgegen, in der sich in diesem Prozeß das Verhältnis zwischen dem totalen Kapitalwert und dem gesamtgesellschaftlichen Mehrwert verändert. Da Mehrwert unbezahlte Arbeit ist, muß sich die dem Gesamtkapital gegenüber vermindernde Gesamtarbeitszeit, und damit schließlich die der unbezahlten Arbeit, als abnehmende Selbstverwertung des Kapitals äußern. Dies zwingt alle Einzelkapitale zur weiteren Erhöhung ihrer Produktivität und damit zur fortlaufenden Reproduktion dieser dem kapitalistischen Akkumulationsprozess eigenen Widersprüche.

Die durch die Verwissenschaftlichung der Produktion erhöhte Produktivität der Arbeit unterscheidet sich nicht von der allgemeinen Zunahme der Arbeitsproduktivität im Laufe der kapitalistischen Akkumulation. Sie stößt auf dieselben, nämlich auf die durch die Verwertung des Kapitals gesetzten Grenzen, die der Entfaltung der Produktivität im allgemeinen gesetzt sind. Die wissenschaftliche Technik wird von der Akkumulation bestimmt, sie hört auf gefördert zu werden, wo sie aufhört profitabel zu sein. Ihre mangelnde Rentabilität wird allerdings erst auf dem Umweg des Marktes ersichtlich und tritt dort nicht als disproportionales Verhältnis von Wert und Mehrwert auf, sondern als Mangel an Nachfrage, die eine weitere Vermehrung der Produktion vom kapitalistischen Standpunkt aus sinnlos nacht. Diese Grenzen der Akkumulation, die zugleich Grenzen der Technik sind, nämlich der Technik der Mehrwertvermehrung, können allerdings zum Ausgangspunkt weiterer kapitalistischer Expansion werden, wenn strukturelle Veränderungen der Gesamtwirtschaft den Mehrwert erneut den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals anpassen.

Ist letzteres der Fall, so äußert es sich in einer zunehmenden Akkumulationsrate und einer aufsteigenden Konjunktur mit wachsender Beschäftigung, obgleich die Investierungen in Kapitalgütern schneller zunehmen als die in Arbeitskraft. Ist es nur in unzureichendem Maße der Fall, so äußert sich dies in einer stagnierenden oder abnehmenden Akkumulationsrate und zunehmender Arbeitslosigkeit. Der aktuelle Gang der kapitalistischen Akkumulation hat sich seit dem zweiten Weltkrieg nur schlecht ermitteln lassen, da die zyklische Bewegung der Wirtschaft durch politische Eingriffe von außen zum Teil verwischt wurde. Die Ausdehnung der staatlich veranlaßten unproduktiven Produktion mittels Defizitfinanzierung, d. h. der staatlichen Kreditausweitung, hat die Beschäftigung der Arbeiter auf einem Niveau gehalten, das nicht dem der notwendigen Akkumulationsrate entsprach, sondern sich in wachsender Staatsverschuldung, zunehmender Besteuerung und ununterbrochener Inflation widerspiegelte. Der Anteil der unproduktiven Arbeit an der Gesamtarbeit ist damit ständig gewachsen.

Mit der Akkumulation des Kapitals und der Ausdehnung der Märkte wachsen auch die Kosten der Zirkulation. Nimmt die Produktion durch die wachsende Produktivität der Arbeit schnell zu, so vergrößert die Masse der auf den Markt geworfenen Waren die unproduktive Arbeit in der Zirkulationssphäre. Während z. B. in der Ölindustrie durch die fortschreitende Automatisierung sehr wenig Arbeit angewandt wird, beschäftigt die Ölverteilung eine sich dauernd vermehrende Arbeiterzahl. Obwohl Arbeitsersparnis auch in der Verteilung als Prinzip vorherrscht, läßt es sich hier nicht in demselben Maß wie in der Produktion durchführen. Im allgemeinen hat sich die zunehmende Produktivität der Arbeit in einer Veränderung der Arbeitsteilung zwischen produktiven und unproduktiven Arbeitern zugunsten der letzteren durchgesetzt, so daß in den industriell entwickelten Ländern die produktiven Arbeiter zu einer Minderheit wurden.

Während die Zahl der produktiven Arbeiter gegenüber der der unproduktiven zurückgeht, ändert sich zugleich das Verhältnis zwischen den Industriearbeitern und den wissenschaftlich geschulten technischen Kräften in der Produktion. In Amerika z.B. wuchs der Anteil der Wissenschaftler und Techniker, gemessen an der Gesamtzahl der Beschäftigten, von 1 1/2 % 1940 auf fast 5 % 1970, während die Gesamtzahl der Industriearbeiter stagnierte und die Produktion sich verdoppelte. Von dieser größeren Anteilnahme der Wissenschaft und Technik an der Produktion wird deren gesteigerte Produktivität abgeleitet. Dieser Umstand führte zu dem Begriff des „menschlichen Kapitals“, das neben der Arbeit und dem Kapital schlechthin für eine besondere und zunehmend wichtigere Produktionskraft erklärt wird.

Kapitalanlagen in Wissenschaft und Technik werden für einträglicher gehalten als solche in zusätzlichen Produktionsgütern, weil deren Anwendung zu weiteren Kapitalersparnissen und größerer Rentabilität führe. Obwohl dies nicht zu bezweifeln ist, so kann es sich im Kapitalismus doch nur um die Produktion von Mehrwert handeln, der sich am Gesamtkapital zu messen hat, um etwas über die kapitalistische Profitabilität auszusagen. Wenn die Kapitalersparnis durch die wissenschaftlich gesteigerte Produktivität der Arbeit von einer verhältnismäßig noch größeren Verminderung der allgemeinen menschlichen Arbeit begleitet ist, dann ändert auch die Kapitalersparnis nichts an dem mit der Akkumulation zusammenhängenden tendenziellen Fall der Profitrate, der nur durch die Beschleunigung der Akkumulationsrate latent gehalten werden kann. Auch bei Kapitalersparnis muß sich das Kapital verwerten, d. h. die gegebene Produktion muß das gegebene Kapital in ein größeres verwandeln.

Der kapitalistische Überfluß

Die Abnahme der produktiven Arbeit und die Zunahme ihrer Verwissenschaftlichung führte zu neuen Illusionen. Es wird angenommen, daß die sich so ausdrückende Steigerung der Produktivität die kapitalistische Problematik aus der Sphäre der Produktion in die der Verteilung verlegt habe. Die Schwierigkeiten des Kapitalismus seien rächt dem Mangel an Mehrwert, sondern seinem Überfluß zuzuschreiben, der seine Realisierung im Rahmen der Marktwirtschaft in wachsendem Maße erschwere.[8] Der unrealisierbare Überschuß müsse deshalb unproduktiv verbraucht werden, um die Produktionskapazitäten und die Beschäftigungszahlen auf einem gesellschaftlich tragbarem Niveau zu halten. So zeige sich das Problem der produktiven und der unproduktiven Arbeit nunmehr als die Verschwendung von Arbeit zu unproduktiven, ja zu destruktiven Zwecken. In diesem Sinne wird die unproduktive Arbeit als solche definiert, die in einer „rational geordneten Gesellschaft“ nicht notwendig wäre.

Diese Definition teilt grundsätzlich die bürgerliche Nichtbeachtung des von der Mehrwertproduktion bestimmten wesentlichen Unterschieds zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Die Verschiedenheit wird erst auf dem politisch-moralischen Gebiet wahrgenommen. Da jede Gesellschaftsform jedoch ihre eigene Rationalität besitzt, kann man der kapitalistischen Gesellschaft nicht eine „rational geordnete Gesellschaft“ entgegensetzen, sondern nur eine andere Gesellschaftsform mit einer anderen Rationalität. Im Kapitalismus, sei es dem der Konkurrenz oder dem des Monopols, ist alle Tätigkeit, die Mehrwert produziert, rational – und damit jede Aktivität, die die Bedingungen der Mehrwertproduktion sichert und reproduziert. Dazu gehört alles „Irrationale“ im Kapitalismus: unproduktive wie destruktive Unternehmungen, Mangel wie Überfluß, Arbeitslosigkeit und ungenutzte Produktionsmöglichkeiten, Krisen als Voraussetzung der Konjunkturen und Konjunkturen als Wegbereiter neuer Krisen, die Bereicherung eines Teils der Bevölkerung auf Kosten des anderen, die Verarmung ganzer Erdteile zugunsten der führenden Kapitalmächte, die Verwüstungen und neuen Aufschwünge durch Krieg und Imperialismus, die Mehrwertzerstörung als Voraussetzung größerer Mehrwertproduktion.

Das Problem der produktiven und unproduktiven Arbeit auf die Ebene eines angeblichen Widerspruchs zwischen Rationalität und Irrationalität zu verlagern, wird zwar von Altvater und Huisken[9] in der hier behandelten Diskussion abgelehnt, doch zugleich als Instrument der Kritik der monopolistischen Gesellschaft für entschuldbar gehalten. Tatsächlich hat sich die Studentenopposition der letzten Jahre vornehmlich gegen die „irrationalen“ Aspekte der kapitalistischen Herrschaft gewandt, ohne sich viel um die unterliegenden Produktionsverhältnisse zu kümmern, als ob sich die äußeren Erscheinungen der inneren Widersprüche des Kapitals auch rein äußerlich beseitigen ließen. Mit Recht betonen Altvater und Huisken, „solange nicht das Proletariat aus den Bedingungen des Produktionsprozesses bestimmt wird und die Bedingungen für die Genesis von Klassenbewußtsein nicht aus den objektiven Bewegungen der Klassenkämpfe analysiert werden, können auch die Konflikte des Kapitalismus nicht als Ergebnis des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital verstanden werden, sondern werden als Widerspruch zwischen Rationalität und Irrationalität, technischen Möglichkeiten und sozialen Hindernissen aufgefaßt.[10]

Es ist zwar bedauerlich, jedoch kein Zufall, wie Altvater und Huisken bemerken, daß die Theorien von Marcuse und von Baran und Sweezy in der Studentenbewegung weiteste Verbreitung fanden. Neben anderen haben diese Autoren sich besonders um die ideologische Abtrennung der sozialistischen Bewegung von der Arbeiterbewegung verdient gemacht. Ausgehend von der Illusion, daß es dem Kapitalismus gelungen sei, seine ökonomischen Probleme auf politischem Wege zu lösen, halten sie eine von den Arbeitern getragene Revolution nicht mehr für möglich. Doch bedarf die Welt trotzdem einer Revolution, um dem Elend der Majoritäten in den unentwickelten Ländern und dem unbeachteter Minoritäten in den entwickelten Ländern abzuhelfen, um neue, die Menschheit selbst bedrohende Kriege abzuwenden und um die potentielle schon gegebene menschenwürdige Gesellschaft aus einer Utopie zur Wirklichkeit zu machen. Die Träger dieser Revolution ließen sich jedoch nicht mehr genau bestimmen; jedenfalls seien die Arbeiter nicht mehr ihre Wortführer. Diese auf der Oberfläche der Gesellschaft bleibenden Beobachtungen brauchen nicht verneint zu werden, bedürfen jedoch selbst einer Erklärung und verlangen damit ein Eingehen auf die Produktionsverhältnisse.

Marcuse versucht dies auch mit Bezugnahme auf die Begriffe produktiver und unproduktiver Arbeit. In seiner Auffassung haben die kapitalistischen Strukturveränderungen auch die Klassen und ihre Lage verändert. Weit mehr Bevölkerungsteile als die Industriearbeiter seien heute der Ausbeutung ausgesetzt. Obwohl zugegebenermaßen noch eine umstrittene Frage, „ob die Millionen von Angestellten in der Reklameindustrie Mehrwert schaffen oder nicht, tauschen diese Leute“, Marcuse zufolge, „unmittelbar Arbeit gegen Kapital ein, und das ist der Marxsche Begriff der Ausbeutung. Ihre Löhne sind nicht einfach overhead-Kosten, sondern sie sind unbedingt notwendig, um den kapitalistischen Produktionsprozeß aufrechtzuerhalten. Nicht nur das. Sie sind bereits zur Produktion der Waren notwendig, indem sie z. B. die Form der Ware, ja selbst deren Quantität und Qualität vorherbestimmen. Dasselbe gilt natürlich von der dauernd und rapide wachsenden Zahl von Technikern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, Psychologen, Soziologen im Produktionsprozeß. Das alles sind Strukturverwandlungen innerhalb der Arbeiterklasse. Und da wir heute schon wissen, daß die white-collar-Arbeiter immer mehr zunehmen werden auf Kosten der Blue-collar-Arbeiter, daß sich das Verhältnis von Hand- und Kopfarbeitern immer mehr verschieben wird und die Kopfarbeiter mehr und mehr zur menschlichen Basis des Produktionsprozesses werden, sollten wir mit dem Begriff des Proletariats und dem der Diktatur des Proletariats etwas vorsichtiger umgehen[11].“

Allerdings haben die Ereignisse der letzten Jahre, die großen Streikbewegungen in allen kapitalistischen Ländern und die zersetzenden Krisenerscheinungen des amerikanischen Kapitalismus – Marcuses Auffassung von der „Eindimensionalen Gesellschaft“ und ihrer Fähigkeit, das Klassenproblem innerhalb der Klassengesellschaft zu lösen, etwas modifiziert. Die „Konsumgesellschaft“ ist auch für ihn inzwischen zur „sogenannten Konsumgesellschaft“ geworden, in der die kapitalistische Produktionsweise auf ihre innere Grenze stößt, nämlich der „Saturierung des Investitions- und Warenmarktes. Die „unproduktive“ Arbeit wächst im Verhältnis zur produktiven. Inflation, und das heißt Sinken des Reallohns, gehört jetzt zur Dynamik des Systems[12].“ Es ist also vorbei mit der Verbürgerlichung der Arbeiter durch die fortgesetzte Verbesserung ihrer Lebenslage.

Während es nur zu begrüßen ist, daß sich Aalreuse der veränderten Situation anzupassen versucht, muß doch bemerkt werden, daß es sich hier nicht um die „Saturierung des Investitions- und Warenmarktes“ handelt, sondern, umgekehrt, um die Schwierigkeiten und vielleicht die Unmöglichkeit, die einer wirklichen „Saturierung des Investitions- und Warenmarktes“ auf Basis der kapitalistischen Mehrwertproduktion entgegenstehen. Der sinkende Reallohn als „Dynamik des Systems“ weist daraufhin, daß die Schwierigkeiten des Kapitalismus in einem Mangel an Mehrwert zu suchen sind, den oben die „Dynamik des Systems“ zu überwinden trachtet. Der Mehrwert kann nur in der Produktion gewonnen werden und kann nur durch zusätzliche Investierungen und höhere Produktivität vergrößert werden. Die relative Stagnation muß auf die als kapitalistische Wertverhältnisse erscheinenden Produktionsverhältnisse zurückgeführt werden, auf die Ausbeutungsrate im Verhältnis zum Gesamtkapital oder die Profitrate von der die Akkumulation abhängig ist. Daß eine unzureichende Akkumulationsrate sich auf dem Markt als Überproduktion von Kapital und Waren zeigt, hängt ebenfalls mit den Produktionsverhältnissen zusammen, die den Produktionsprozeß nur als Verwertungsprozeß des Kapitals erweitern können und ohne diese Erweiterung den Krisenzustand der Überproduktion hervorrufen.

Stehen Verwertungsbedürfnisse und Rentabilität in Konflikt, so vermindert sich die Akkumulationsrate und setzt damit Arbeiter und Produktionsmittel frei, die nur auf Basis einer beschleunigten Akkumulation beschäftigt werden können. Der scheinbare Überfluß an Waren und Produktionsmitteln drückt so nur einen tatsächlichen Mangel an Mehrwert aus, und es ist dieser Mangel, der für die kapitalistische Produktionsweise ausschlaggebend ist. Um zu wiederholen, das Kapital produziert weder Produktionsmittel noch Waren, sondern produziert diese nur, um Mehrwert und Kapital zu produzieren. Seine Stärke oder Schwäche ist nicht vom Mangel oder Überfluß an Gebrauchsgütern abzuleiten, sondern von seiner Fähigkeit oder Unfähigkeit, Mehrwert zu erzeugen. Schon allein auf Grund des tendenziellen Falls der Profitrate kann es im Kapitalismus nicht zu einer absoluten „Saturierung des Investitions- und Warenmarktes“ kommen, nur zu einer relativen „Saturierung“ als Ausdruck mangelnder Profitabilität, die erst in der Produktionssphäre überwunden werden muß, um einen weiteren Aufschwung der Wirtschaft zu ermöglichen, d. h. die weitere Ausdehnung des „Investitions- und Warenmarktes.“

Obwohl an den inneren Zusammenhängen der kapitalistischen Gesellschaft interessiert, bleibt Aalreuse doch der Welt der Erscheinungen verhaftet. Er sieht den Widerspruch des Kapitals als einen „zwischen dem ungeheuren gesellschaftlichen Reichtum und dem miserablen und destruktiven Gebrauch, der davon gemacht wird[13].“ Tatsächlich aber gibt es diesen „ungeheuren gesellschaftlichen Reichtum“ gar nicht, da er nur einer privilegierten Minderheit zur Verfügung stehen kann und kein „ungeheurer Reichtum“ wäre, würde die Gesellschaft daran teilhaben. Und es ist gerade die destruktive Anwendung eines Teils dieses „Reichtums“, welche eine beschränkte Anteilnahme der Arbeiter an ihm ermöglicht. Die Arbeiterschaft weiß, führt Aalreuse aus, „wo ihre Interessen, ihre unmittelbaren Interessen liegen, und was für sie auf dem Spiel steht. Sie weiß z.B. ganz genau, daß, wenn der Krieg in Vietnam wirklich beendet wird, ich weiß nicht, wieviel zehntausende von Arbeitern ihren Job einbüßen. Sie weiß genau, auf welcher Seite ihr Brot gebuttert ist[14].“ Dieses „Wissen“ teilen sie jedoch mit allen anderen Schichten der Bevölkerung, und es besagt nicht mehr, als daß die Arbeitsbedingungen vom Kapital gesetzt sind. Unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hängt die Qualität und Quantität der Produktion vom Kapital ab. Es sind nicht die „unmittelbaren Interessen“ der Arbeiter, die sie der Kriegsproduktion zugänglich machen, sondern der unmittelbare Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft, ohne Rücksicht auf den Zweck ihrer Anwendung, der aus ihrer Klassenlage entspringt. Da sie keine Wahl haben, hat es keinen Sinn, sie für die kapitalistische Politik verantwortlich zu machen, obwohl man ihnen das Versäumnis der Abschaffung des Kapitalismus „vorwerfen“ kann.

Der „ungeheure Reichtum“ und seine unmenschliche Verwendung erscheint bei Marcuse als unproduktive Verschwendung produktiver Arbeit. Für ihn ist fast alle Arbeit zur produktiven Arbeit geworden, da sie sich gegen Kapital austauscht. Er vergißt allerdings, daß, obwohl die sich gegen Kapital austauschende Arbeit vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten Mehrwert produziert und damit produktive Arbeit ist, sie vom Standpunkt des Gesamtkapitals zum Teil unproduktiv ist, da die Kosten der Zirkulation vom Gesamtmehrwert getragen werden, und die durchschnittliche Profitrate dementsprechend vermindert. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß unproduktive Arbeit zum Teil aus den Löhnen der Arbeiter beglichen wird, so wie ein Teil der Steuern sich aus Abzügen der Arbeitereinkommen zusammensetzt. In der abstrakten Wertanalyse kann jedoch von diesen Komplikationen abgesehen und das gesellschaftliche Produkt als Wert als aus dem Wert der Arbeitskraft – die notwendigen Kosten seiner Reproduktion –und als aus dem Mehrwert des Kapitals zusammengesetzt behandelt werden, von welchem Gesamtwert die Kosten der Zirkulation abzuziehen sind. In Wirklichkeit werden die Kosten der Zirkulation den Kostpreisen der Waren aufgeschlagen und so zum Teil von den Arbeiterkonsumenten gedeckt. Man kann weiterhin die wirklichen Löhne der Arbeiter als die bezeichnen, die ihnen nach Abzug der Steuern verbleiben, und damit den Mehrwert als ausschließliche Quelle der Besteuerung ansehen, obwohl in Wirklichkeit die Besteuerung der Arbeiter die der Profite vermindert und dazu beiträgt, den Lohn dem abstrakten Wert anzunähern.

Die Produktion für Aufrüstung und Krieg, die einen Teil der Arbeiter in kapitalistischen Unternehmungen beschäftigt, vermittelt diesen Unternehmungen Profit und vergrößert ihr Kapital. Die Arbeit, die in ihnen geleistet wird, ist dementsprechend produktive Arbeit. Der Käufer der Produkte ist jedoch der Staat, der mit Geld bezahlt, das sich aus Steuern und Anleihen zusammensetzt, d. h. aus Löhnen und Profiten der gesamtgesellschaftlichen Produktion. Der in der Kriegsproduktion gewonnene Mehrwert kann nur „realisiert“ werden durch die Beschneidung des anderweitig gewonnenen Mehrwerts. Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, tauscht sich die Arbeit für Aufrüstung und Krieg nicht gegen Kapital, sondern gegen Löhne und Profite aus und bleibt damit im kapitalistischen Sinne unproduktiv. Unabhängig von der durch die Konkurrenz bestimmten Durchschnittsprofitrate, vermittelt die unproduktive Arbeit eine Umverteilung des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts zugunsten der Kriegsproduzenten, die allerdings den anderen Produzenten als ein Fallen ihrer Profite ins Bewußtsein gerückt wird, dem sie durch Preissteigerungen zu entrinnen suchen.

Mit der allgemeinen Zunahme der unproduktiven Arbeit als Folge der wachsenden Produktivität der produktiven Arbeit, und ihrer besonderen Zunahme durch die staatlich veranlaßte zusätzliche Produktion, d. h. mit der über die gewöhnlichen Ansprüche des Staates hinausgehende Produktion, muß sich der Gesamtmehrwert dem Gesamtkapital gegenüber vermindern und dessen Verwertung fortlaufend erschweren. Der kapitalistische Reichtum, der nur Reichtum von Mehrwert

sein kann, ist damit eine abnehmende Größe, und alle kapitalistischen Anstrengungen müssen auf die Umkehrung dieses Zustandes gerichtet sein. Ob diese Anstrengungen Erfolg haben, ist allerdings eine andere Frage, die aber nicht vom Kapital gestellt werden kann.

Es ist ein Irrtum, mit Altvater und Huisken[15] anzunehmen, daß die der Verschwendung gewidmete unproduktive Arbeit die Tendenz des Falls der Profitrate abschwächt, obwohl, ihrer Ansicht nach, der akkumulationsfähige Teil des Mehrwerts dadurch verringert wird. Fällt die Akkumulationsrate, dann muß auch die Profitrate fallen, da sie nur unter den Bedingungen einer beschleunigten Akkumulation auf einem gegebenen Niveau gehalten werden kann. Verwertung des Kapitals heißt immer seine Vergrößerung, also seine Akkumulation, und mit abnehmender Verwertung, oder abnehmender Akkumulationsrate, befindet sich der Kapitalismus in einem Krisenzustand, der einen aktuellen Fall der Profitrate mit sich bringt. Die Tendenz des Falls der Profitrate als Folge der strukturellen Veränderungen des Gesamtkapitals kann durch die beschleunigte Akkumulation, die Vermehrung des Profits aufgehoben werden, womit aber nicht gesagt ist, daß eine relative Stagnation des Kapitals den tendenziellen Fall der Profitrate ebenfalls aufzuhalten vermag. Im Gegenteil, die Tendenz wird nun zur Realität, da der damit verbundene Krisenzustand die aktuellen Profite vermindert und zum Teil vernichtet.

Altvater und Huisken zufolge eröffnen die unproduktiven Arbeiten neue Felder der Realisierung des Mehrwerts, da sie im ökonomischen Sinne Konsumtion darstellen und der Konsumtionskraft der Massen hinzuzufügen sind. „Sie erweitern also auch das Feld, auf dem produzierte Werte vom Kapital realisiert werden können. Die unproduktive Arbeit der Soldaten also ist eine Voraussetzung geworden für die produktive Arbeit der Arbeiter in den Rüstungsfabriken unter kapitalistischen Bedingungen. Diese Umkehrung des Verhältnisses von produktiver und unproduktiver Arbeit ist es denn auch, die die Entstehung von Klassenbewußtsein der produktiven Arbeiter in Rüstungsfabriken stark behindert. Dies als irrational zu bezeichnen – wie Marcuse es unternimmt – oder die Rüstungsarbeiter als unproduktiv zu kategorisieren, wie Baran es unternimmt, zeigt nur, daß das wirkliche Prinzip der ökonomischen Verhältnisse der Kapitalverwertung und Kapitalrealisierung nicht begriffen worden ist. Die Aufblähung des Staatsapparates erweist sich als funktional für das Kapital, sobald seine Möglichkeiten für produktive Anlagen begrenzt erscheinen, der Kapitalismus sich also in seiner Niedergangsperiode befindet[16].“

Obwohl es zutrifft, daß die Ausdehnung staatlich veranlaßter Produktion der Bourgeoisie aus einem akuten Krisenzustand heraushalf und für lange Zeit eine scheinbare Konjunktur entfesselte, d.h. im größeren Maßstab veranlaßte, was jede Kreditausweitung erlaubt, hat sie weder das Problem der Kapitalverwertung noch das der Kapitalrealisierung, die beide der Krise zugrunde lagen, in irgend einer Hinsicht gelöst. Die Verwertung des Kapitals bedingt, daß der Mehrwert durch die Akkumulation realisiert wird; es ist der Überschuß über den Konsum, der sich verwerten kann, ganz gleich welcher Art der Konsum sein mag. Die abnehmende Akkumulationsrate ist damit ein Ausdruck der sich vermindernden Verwertung des Kapitals, der abnehmenden Möglichkeit, Mehrwert als Kapital zu realisieren. Sie setzt im Rahmen einer falschen Konjunktur fort, was in jeder Krisenperiode in Erscheinung tritt, nämlich die Schwierigkeiten, Mehrwert in Kapital zu verwandeln. Was sich in früheren Krisen in Arbeitslosigkeit und ungenutzten Produktionskapazitäten darstellte, stellt sich nun als Zunahme der unproduktiven Arbeit, der profitlosen Produktion dar, die sich nur so lange tragen läßt, wie die Produktivität der Arbeit schneller als der Mehrwertverlust durch unproduktive Arbeit wächst.

Arbeiter und Studenten

Muß es den Arbeitern, ihrer Klassenlage entsprechend, gleichgültig sein, ob sie produktive oder unproduktive Arbeit leisten, so ist ihnen der von ihrer Beschäftigung abhängende Lebensstandard umso wichtiger. Es ist die unausbleibliche Verschlechterung dieses Lebensstandards und die wieder um sich greifende Arbeitslosigkeit, welches sich beides aus einer fallenden Akkumulationsrate ergibt und nur vorübergehend durch die Vermehrung unproduktiver Arbeit zu kompensieren ist, die zu einer Radikalisierung der Arbeiter führen können. Trotz all des Geschwätzes über die Unzulänglichkeit einer sogenannten Katastrophenpolitik macht die Geschichte der Arbeiterbewegung offensichtlich, daß revolutionäres Klassenbewußtsein sich nur in Zeiten katastrophaler Krisen zu zeigen vermag. Sogar Klassenkämpfe, die sich noch kein Klassenziel gesetzt haben, die aber über die reine Lohnbewegung hinausgehen, sind spontane Reaktionen auf eine sich dauernd oder plötzlich vollziehende Verschlechterung der proletarischen Lebenslagen, wie es z.B. Ende des Jahres in Polen und 1968 in Frankreich der Fall war.

Es kann sich revolutionäres Klassenbewußtsein nur in Krisenzeiten entwickeln. Das Bewußtsein der Klassenzugehörigkeit allein hat wenig Bedeutung und ist im allgemeinen sowieso vorhanden. Es gibt natürlich Idioten, die, obwohl zum Proletariat zählend, sich nicht als Arbeiter fühlen. Aber im großen und ganzen wissen die Arbeiter, daß sie einer Klasse angehören, die der der Kapitalisten als Gegner gegenübersteht. Trotz des Lohnsystems wissen sie auch, daß sie ausgebeutet werden und den Kapitalisten Profite schaffen, auch dann, wenn sie die Existenz des Kapitals als notwendig erachten, wie aus allen Lohnverhandlungen ersichtlich ist und aus ihrem Verlangen nach Einsicht in die Geschäftsbücher, um den Grad ihrer Ausbeutung zu ermitteln.

Man muß sich die ungeheure Macht, die allen proletarischen Klassenbestrebungen entgegengesetzt ist, vor Augen halten, um zu begreifen, warum die Arbeiter es vorziehen, sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen, anstatt sie anzugreifen. Sie sind weder Berufsrevolutionäre, noch haben sie Zeit oder Lust, sich in Protesten zu ergehen, die endlos sein müßten, da die kapitalistische Politik zu dauernder Opposition aufruft. Eine auf lange Sicht gerichtete politische Betätigung mag sie ideologisch befriedigen, ist aber ihren nächsten Notwendigkeiten nach bedeutungslos. Es gibt zwar einen politisch denkenden, organisierten Teil der Arbeiterschaft, was aber nicht besagt, daß eine wirkliche Bereitwilligkeit zu revolutionärer Tätigkeit damit verbunden ist. Ein anderer Teil akzeptiert die bürgerliche Ideologie bedingungslos, womit aber auch nicht gesagt ist, daß er sich rückhaltlos der Bourgeoisie zur Verfügung stellt. Die breite, indifferente Masse fügt sich der kapitalistischen Gesellschaft, ohne sie damit zu bejahen, und versucht sich schlecht und recht in ihr einzurichten, da sie nicht imstande ist, sich eine andere vorzustellen.

Solange es der herrschenden Klasse möglich ist, ihre politische Macht Wirtschaftlich zu unterbauen, sei es auf dem Wege einer realen oder einer künstlichen Konjunktur, läßt sich nicht erwarten, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu einem revolutionären wird. Aber es ist ja gerade das Eigentümliche des Kapitalismus, daß er keine Kontrolle über seine wirtschaftliche Entwicklung hat. Die politisch-wirtschaftlichen Eingriffe der letzten 20 Jahre haben daran nichts geändert. Sie haben nur gezeigt, daß sich bei entsprechender Erhöhung der Produktivität der Arbeit die unproduktive Arbeit vermehren läßt und daß damit eine annährende Vollbeschäftigung mit wachsender Produktion erzielt werden kann. Da diese wachsende Produktion mit sinkender Kapitalverwertung verbunden ist, kann sie nicht von Dauer sein. Das zeigt sich bereits beim höchstentwickelten amerikanischen Kapitalismus, in dem die reale Gesamtproduktion erneut im Sinken und die Arbeitslosigkeit im Steigen begriffen ist. Mit der Wiederkehr des schon totgeglaubten Krisenmechanismus und den sich erschöpfenden Möglichkeiten, die Produktion auf Kosten der Verwertung vorwärtszutreiben, läßt sich erwarten, daß auch die Einstellung der Arbeiter zu diesem System sich ändern wird.

Die Bestimmung der von Marcuse, Baran und Sweezy vertretenen Auffassung, daß in den kapitalistisch entwickelten Ländern nicht mehr auf Arbeiterrevolutionen zu rechnen sei, da die Industriearbeiter dem System völlig eingegliedert und gesellschaftlich zu einer Minorität geworden sind, ist teilweise ihrer eigenen Vergangenheit und teilweise ihrer Enttäuschung über den Gang der Geschichte zuzuschreiben. Diese Leute waren für Jahrzehnte dem Stalinismus verschrieben und sehen auch heute noch im staatskapitalistischen System die objektive Voraussetzung für die sozialistische Gesellschaft. Sie können in ihren Klassenanalysen deshalb nicht von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ausgehen – der Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln – da diese Trennung im staatskapitalistischen System fortgesetzt wird. Sie wenden sich nicht gegen das staatskapitalistische System als solches, sondern nur gegen die Fehler und Missetaten der führenden Bürokratien, die sich politisch oder moralisch nicht mehr decken lassen. Sind sie nicht länger imstande, den Staatskapitalismus in seiner russischen Gestalt zu verteidigen, so sind sie umso mehr bereit, sich für ihn in China, Kuba oder Vietnam einzusetzen.

Dreht sich die sozialistische Revolution nicht mehr spezifisch um das Arbeiter-Kapital-Verhältnis, so kann sie jede Bewegung einbeziehen, die sich aus anderen Gründen dem herrschenden Kapital widersetzt. In der Leninschen Theorie z. B. ist der Imperialismus eine notwendige Erscheinung des modernen Kapitalismus und eine Voraussetzung seiner weiteren Expansion. Der Kapitalismus läßt sich so von innen und außen angreifen, durch die Arbeiterbewegung einerseits und die antiimperialistische Bewegung andererseits. Allerdings kann die antiimperialistische Bewegung keine reine Arbeiterbewegung sein, sondern muß sich auf die armen Bauern stützen, die wiederum von der sich bildenden Schicht der Intellektuellen geführt werden muß, um im Namen nationaler Befreiung die mit dem Imperialismus verbundenen Klassen der unterdrückten Länder und damit den Imperialismus selbst zu stürzen. Die Verbindung des proletarischen Klassenkampfes in den kapitalistischen Ländern mit dem antiimperialistischen Kampf in den industriell zurückgehaltenen Ländern fand seinen Ausdruck im Wandel des Marxismus zum Marxismus-Leninismus.

Ohne auf die Theorie weiter einzugehen, sei nur bemerkt, daß die an sie geknüpften Hoffnungen sich bisher noch nicht erfüllt haben. Wohl haben sich, durch die' Umstände des zweiten Weltkrieges begünstigt, eine Reihe kolonialer und halbkolonialer Nationen ihre politische Selbstbestimmung errungen, und wohl existiert eine weltweite, wenn auch noch schwache Bewegung gegen die kapitalistisch-imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung unentwickelter Länder, doch hat sich keine Verbindung dieser Bestrebungen mit der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Ländern herstellen lassen. Was unter den Bedingungen einer allgemeinen Weltkrise eine Wahrscheinlichkeit hätte sein können, wurde unter den tatsächlichen Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwunges nach dem zweiten Weltkrieg zur Illusion. Und wenn dieser Aufschwung auch nur der Vorläufer einer neuen Krise sein kann und zudem mit Mitteln erreicht wurde, die selbst auf die Unlösbarkeit der kapitalistischen Widersprüche hinweisen, so erstickte die sich in den kapitalistischen Ländern entfaltende Konjunktur nichtsdestoweniger jede Möglichkeit revolutionärer Solidarität.

Die national-revolutionäre Bewegung kann verschieden verstanden werden und verschiedene Ziele verfolgen, eben weil sie an die nationalen Besonderheiten der einzelnen Länder und an deren besondere Beziehungen zu anderen Staaten gebunden ist. Sie kann mit bürgerlich-nationalen, national-sozialistischen oder kommunistischen Ideologien operieren, die unter Umständen sogar austauschbar sind. In jedem Fall dreht es sich hier im wesentlichen nicht um Erhebungen revolutionärer Arbeiter gegen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern um soziale Aufstände zur Überwindung eines allgemeinen Elends, dem unter der imperialistischen Oberherrschaft nicht abzuhelfen ist. Die ideologischen Träger dieser Bewegung sind die unter diesen Bedingungen unzufriedenen Intellektuellen und Studenten, die sich auf die verelendete Bevölkerung zu stützen haben, und auch Teile der Mittelklassen, die sich von einer ungehemmten nationalen Entwicklung eine Verbesserung ihrer Lage versprechen. Die Ideologie des Nationalismus hat zudem eine Eigenwirkung und findet Widerhall selbst bei denen, die durch die Verwirklichung der Selbstbestimmung nichts zu gewinnen haben.

Die Beseitigung des Elends und der Rückständigkeit erfordert eine rapide industrielle Entwicklung, die den unmittelbaren Interessen der imperialistischen Mächte widerspricht. Im Prinzip hat das internationale Kapital nichts gegen die kapitalistische Industrialisierung der unterentwickelten Länder, d. h. gegen die Mehrwertvermehrung und das Wachsen der Produktivität der Arbeit. Dieser Prozeß hat sich jedoch auf dem Wege der Verwertung des vorhandenen Kapitals durchzusetzen. Ist dessen Rentabilität bereits in Frage gestellt, dann sinken die Investierungen im internationalen Maßstab und zumeist in den rückständigen Ländern. Da ein großer Teil des dort produzierten Mehrwerts nicht in ihnen akkumuliert wird, sondern der Verwertung des Kapitals der starken Kapitalmächte zu dienen hat, so führt die Mehrwertabschöpfung einerseits und der schwindende Kapitalimport andererseits zu einer verschärften Verelendung der unentwickelten Länder und damit zu sozialen Unruhen. Kurz gesagt, es sind die Eigentumsverhältnisse der Kapitalproduktion, die ihrer schnelleren Entfaltung im Wege stehen.

Der Antiimperialismus und die soziale Reform werden damit zu einer Lebensfrage der unterentwickelten Länder und verlangen die Enteignung des fremden und des einheimischen Kapitals. Es ist diese notwendige Expropriation, die der national-revolutionären Bewegung die sozialistische Aureole verleiht. Sie kann aber nicht zum Sozialismus führen, d. h. zur Selbstbestimmung der Produzenten über ihre vergesellschaftete Produktion und Verteilung. Selbst in den entwickelten Ländern hat es das revolutionäre Klassenbewußtsein bisher nicht zu der Erkenntnis gebracht, daß der Sozialismus nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann, daß keine sich als Regierung etablierende Partei oder Kombination von Parteien ihnen den Sozialismus zum Geschenk machen kann. Die Ausgebeuteten und Verelendeten der unterentwickelten Länder teilen nicht nur diesen subjektiven Mangel, sondern leben in Gesellschaften, die die Verwirklichung des Sozialismus auch objektiv ausschließen. Wenn auch in modifizierter Form, so müssen sie doch den kapitalistischen Entwicklungsprozeß nachholen. Die Polarität der Klassen des modernen Kapitalismus ist ihnen noch fremd, und die Koordinierung der verschiedenen Sonderinteressen, unter denen die der landbesitzenden wie landlosen Bauern eine besondere Rolle spielen, verlangt nach einer der Gesellschaft gegenüberstehenden und sie beherrschenden Staatsgewalt. Diese unabhängige Staatsgewalt, personifiziert durch ihre Bürokratie, übernimmt die Funktionen, die in den frühen kapitalistischen Ländern das Privileg der Bourgeoisie bildeten. Sie wird zu einer neuen herrschenden Klasse, da ihre Herrschaft Voraussetzung der weiteren Entwicklung ist. Dieses Resultat mag den revolutionären Kräften, die sich an die Spitze der national-revolutionären Bewegungen stellen, nicht ins Bewußtsein rücken; es ist trotzdem unausweichbar, solange die Massen nicht aus sich selbst heraus imstande sind, die organisatorischen Formen zu schaffen, die dieser neuen „revolutionären Arbeitsteilung“ den Wind aus den Segeln nehmen. In den unterentwickelten Ländern ist dies nicht zu erwarten, in den entwickelten ist es eine Möglichkeit.

Diese Möglichkeit gehört der Zukunft. Bisher haben sich die Arbeiter der kapitalistischen Länder nicht um ihre Selbstbestimmung bemüht, nicht einmal in den eigenen Organisationen. Haben sich die Arbeiter bisher selbst nicht gegen die Produktionsverhältnisse aufgelehnt, so ist es nicht verwunderlich, daß die Studentenopposition, aus ihrer besonderen gesellschaftlichen Lage heraus, noch weniger imstande war, die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausgangspunkt ihrer Bewegung zu machen. Sind die Arbeiter nicht revolutionär, dann existiert auch keine revolutionäre Situation, der sich die Studenten anpassen könnten. Befinden sie sich trotzdem in Opposition und wollen sie dies sichtbar machen, so kann sich dies nicht auf die wirklichen grundlegenden Probleme der Gesellschaft beziehen, wo sie noch keinen Widerhall finden, sondern nur auf die allgemein mögliche Entrüstung über die „schlechten Seiten“ der kapitalistischen Herrschaft.

Die Studentenbewegung selbst ist kein überraschendes Phänomen; es wäre wirklich eigenartig, wenn die Studenten auf die sich unablässig ausbreitende kapitalistische Barbarei nicht reagieren würden, selbst dann, wenn ihnen bewußt wäre, laß ihre Opposition vorerst noch keine praktischen Erfolge haben kann.

Da sich die Studentenbewegung nicht auf die Produktionsverhältnisse beziehen kann, war ihre anfänglich antiautoritäre Tendenz von vornherein zweideutig und ein Resultat ihrer Isolierung. Von sich aus unfähig, die herrschenden Zustände zu ändern, blieb ihr nur der Protest, dem allerdings der Stoff nicht ausgehen kann. Unfähig, den Gang der Dinge wesentlich zu beeinflussen, versuchte sie, sich zum Gewissen der Welt zu machen in der Hoffnung, zuletzt auf Resonanz zu stossen. Die Umstände, die ihre antiautoritäre Einstellung mit sich brachte, verliehen der Studentenbewegung zugleich einen Elite-Charakter, der sich, unter anderen Umständen, auch autoritär zu zeigen vermag. Aus der Radikalisierung der Studenten und der Passivität der Arbeiter ergab sich bald ein Rückfall auf die Leninschen Revolutions- und Organisationstheorien. Da diese Theorien in der sogenannten Dritten Welt Realitätswert besitzen, ist es möglich, sich auch in den kapitalistischen Ländern durch die einfache Identifizierung mit der antiimperialistischen Bewegung revolutionär vorzukommen. War diese revolutionäre Bewegung auch weit vom Schuß, so hing sie doch nicht völlig in der Luft, da jede sozialistische Politik eine antiimperialistische ist.

Es ist selbstverständlich, daß die sozialistische Bewegung jede Art imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung bekämpft. Um jedoch den Imperialismus zu beseitigen, muß der Kapitalismus beseitigt werden. Der antiimperialistische Kampf kann nur als antikapitalistischer Kampf geführt werden. Dazu gehören ohne Zweifel alle Protestbewegungen gegen die Verbrechen des Imperialismus und jede Sabotage, die ihn zu schwächen vermag. Aber die gemeinsame Front der Antiimperialisten in den unterdrückten und den unterdrückenden Ländern kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß deren Zielsetzungen nicht die gleichen sind. Der kubanische Kampfruf „Vaterland oder Tod“ oder, um mit Marcuse zu sprechen, „Chinas Weg zur kommunistischen Großmacht“[17] sollten den Arbeitern und Studenten der kapitalistischen Länder genau so fremd und verhaßt sein wie die imperialistischen Aktivitäten der eigenen Bourgeoisie.

Es hat natürlich keinen Sinn, von den Revolutionären der unentwickelten, militärisch und ökonomisch beherrschten Länder nicht zu realisierende Zielsetzungen zu verlangen, so wie es für diese sinnlos wäre, auf die Vernichtung des Imperialismus durch die proletarische Revolution in den entwickelten Ländern zu warten. So entfaltet sich die national-revolutionäre Bewegung ihren eigenen Notwendigkeiten entsprechend, ohne Rücksicht auf den Stand der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Ländern. Sind ihre Erfolgschancen damit schon weit beeinträchtigt, so führen die tatsächlich errungenen Erfolge zu Konsequenzen, die weder der Arbeiterbewegung noch der antiimperialistischen Bewegung zuträglich sind. Der Feind von gestern wird zum Geschäftspartner von heute, wie z. B. in Algerien und in vielen afrikanischen Staaten, oder die Amerika gegenüber gewonnene Selbständigkeit Kubas führt zu einer neuen Abhängigkeit von Rußland. Da es unter den heutigen Bedingungen keine nationale wirtschaftliche Selbstbestimmung geben kann, läßt sich auch die politische Selbstbestimmung nicht verwirklichen, es sei denn in der Wahl der Unterordnung unter die eine oder andere imperialistische Macht.

Hatte der Marxismus-Leninismus noch einen gewissen Sinn unter den Bedingungen des ersten Weltkrieges und der Hoffnung einer Weltrevolution, so hat die nachfolgende Entwicklung die Zeit- und Ortsgebundenheit der Leninschen Theorien bloßgelegt und deren Unzulänglichkeit für die kapitalistisch entwickelten Länder nachgewiesen. Es ist deshalb mehr denn eigenartig, daß die Erfahrungen der letzten 50 Jahre völlig negiert werden und daß man von neuem versucht, der proletarischen Revolution auf Leninschen Wegen vorwärtszuhelfen. Und dies um so mehr, da die Arbeiter der sogenannten „sozialistischen Staaten“ bereits begonnen haben, mit Streiks und Aufständen gegen ihre neuen Ausbeuter und Unterdrücker aufzutreten. Die damit verbundene Flucht aus dem autoritären „Kommunismus“ des russischen Bolschewismus in den mehr freiheitlichen Kommunismus der chinesischen und kubanischen Revolutionen kann nur vom Regen in die Traufe führen, da die Anforderungen der „primitiven Akkumulation“ die arbeitende Bevölkerung hier noch mehr belasten müssen, als es in Rußland und den osteuropäischen Staaten der Fall war. Die Methoden der Herrschaft und der Manipulation mögen sich unterscheiden, aber in all diesen Systemen hängt das Schicksal derBevölkerungen nicht von ihrer Selbstbestimmung, sondern von dem Willen und den Notwendigkeiten neuer herrschenden Klassen ab, deren Privileg der Herrschaft und ihrer Reproduktion nur durch neue Revolutionen zu brechen ist.

Allerdings läßt sich der revolutionäre Akt gedanklich von seinen gesellschaftlichen Resultaten trennen, und man kann sich einbilden, daß die Revolutionsmethoden der national-revolutionären Bewegung unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus andere Ergebnisse haben werden als in den unentwickelten Ländern. Scheinbar hatte Lenin Recht mit der Behauptung, daß das Proletariat aus sich selbst heraus kein revolutionäres Klassenbewußtsein entwickeln kann und deshalb der Führung der aus der Mittelklasse stammenden Intellektuellen bedarf. So stellt schon die Vorbereitung und der Ausbruch der Revolution, ohne Rücksicht auf ihre Resultate, die Frage nach der Rollenverteilung zwischen Arbeitern und Intellektuellen. Die Führung der revolutionären Bewegung fiele nach Lenin dann den Intellektuellen zu, da die Theorie der Praxis vorausgeht, was natürlich auch nach der Revolution der Fall ist, so daß der Aufbau des neuen Systems weiterhin von der Sonderstellung der Intellektuellen, den Leuten mit Sachkenntnissen abhängig ist. Im Lichte dieser Theorie mögen sich die revolutionären Studenten nicht als potentiell neue herrschende Klasse sehen, wenn sie sich heute um ihre Position – als Studenten, Intellektuelle, Theoretiker – in den Klassenkämpfen Gedanken machen, sondern als notwendige Voraussetzung der Revolution und des Sozialismus in vollem Einklang mit den Interessen des Proletariats.

Die Arbeiter werden dies hoffentlich anders sehen, wenn ihr Klassenbewußtsein revolutionären Charakter annimmt. Die wirklichen Zustände und sozialen Verhältnisse in den „sozialistischen Staaten“ sind ihnen nicht verborgen geblieben, und der Anspruch irgend einer Partei auf die Leitung der revolutionären Bewegung und der kommenden Gesellschaft wird höchstwahrscheinlich auf ihren Widerstand stoßen. Aber davon abgesehen: um sich durchzusetzen, muß die revolutionäre Bewegung das Proletariat als Klasse umfassen und sich Organisationen schaffen, die zugleich die Produktionsverhältnisse umwälzen und damit die Möglichkeit staatskapitalistischer Transformation aus dem Wege räumen. Gegen diese Notwendigkeit und damit Wahrscheinlichkeit spricht auch die Tatsache nicht, daß es in ein paar kapitalistischen Ländern noch starke kommunistische Parteien gibt, und daß man in anderen versucht, solche aufzubauen. Diese Kommunistischen Parteien existieren nur deshalb, weil sie in Wirklichkeit keine sind. Sie funktionieren als reine Reformparteien und haben weder die Absicht noch die Möglichkeit, den Kapitalismus abzuschaffen.

Trotz der schlechten Erfahrungen, die mit den traditionellen Arbeiterparteien gemacht worden sind, werden politisch interessierte Arbeiter doch immer wieder versuchen, sich mit ihresgleichen organisatorisch zu verbinden, um ihre Propaganda wirksamer zu gestalten und um einen organisatorischen Ausgangspunkt für revolutionäre Aktionen zu gewinnen. Läßt sich eine revolutionäre Organisation oder Partei aufbauen, wird sie auch aufgebaut werden. Und da jede neue Arbeiterpartei in Opposition zu den existierenden Parteien stehen muß, ist es nicht ausgeschlossen, daß die sich ändernden Umstände neue Organisationen ins Leben rufen werden, die, entgegen den bisherigen Erfahrungen der Klasse nicht nur in Redensarten den Vorrang vor der Partei geben und der Partei nicht die Zeit lassen, zum Selbstzweck auszuarten. Zu bedauern ist beides, die Weiterexistenz der traditionellen Organisationen und die Nichtexistenz neuer revolutionärer Organisationen, die den wirklichen Bedürfnissen des proletarischen Klassenkampfes entsprechen.

Obwohl der Sozialismus keine Studentenbewegung ist, können Studenten doch Sozialisten sein und damit an der Schaffung neuer revolutionärer Organisationen teilhaben. Machen die Arbeiter selbst keine Anstrengungen in dieser Hinsicht, nützen den Studenten auch ihre eigenen Organisationen nichts, da sie, auf sich selbst gestellt, an der Gesellschaft nichts zu ändern vermögen, obwohl sie imstande sind, besonderen Bedürfnissen im akademischen Getriebe nachzugehen. Allerdings mag ihre revolutionäre Agitation in Wort und Tat doch zur Revolutionierung der Arbeiter beitragen, wenn die Arbeiter schon aus sich selbst heraus im Begriff sind, revolutionäres Klassenbewußtsein zu entwickeln. Dies wäre der Moment, wo sich die Studentenbewegung mit der Arbeiterbewegung zu verschmelzen hätte, wo sie aufhören muß, als Studentenbewegung weiter zu existieren, und dadurch, ohne Sonderinteressen, zum Teil der Gesamtbewegung wird.

Mögliche Perspektiven

Gab die Verbesserung der proletarischen Lebenslage in den kapitalistischen Ländern Anlaß, von der Verbürgerlichung der Arbeiter zu sprechen, so führte die Verwissenschaftlichung der Produktion zur Vorstellung der Proletarisierung der aus dem Kleinbürgertum stammenden intellektuellen Berufe. Weder das eine noch das andere trifft in dieser krassen Form zu. Die Verbesserung der proletarischen Lebenslagen hat nichts an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen geändert; nach wie vor stehen die Arbeiter dem Kapital als ausgebeutete Klasse gegenüber, und nach wie vor hängt ihre Existenz von den Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals ab. Sie sind „verbürgerlicht“ in dem nicht viel gesagenden Sinn, daß sie sich unter den Bedingungen eines besseren Lebensstandards mit den gegebenen Zuständen zufrieden geben. Die vermehrte Einbeziehung akademisch geschulter Arbeitskräfte in den Produktionsprozeß macht diese nicht ohne weiteres zu Proletariern. Die kapitalistische Arbeitsteilung erlaubt ihnen Gehälter, die ihnen, ihrem Lebensstandard nach, die kleinbürgerliche Existenz auch weiterhin sichern. Sie haben oft die Möglichkeit, vom Betrieb zur Universität hinüberzuwechseln und andersherum, und sind so, ganz nach Geschmack, einmal produktive und andermal unproduktive Arbeiter. Insoweit sie produktive Arbeiter sind, hängt ihre Existenz ebenfalls von den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals ab. Als unproduktive Arbeiter werden sie aus den Löhnen und Revenuen erhalten, wobei natürlich die eine Art der Abhängigkeit mit der der anderen eng verbunden ist.

Wie die Löhne der Arbeiter, so sind die Gehälter der produktiven Wissenschaftler und Techniker Teil der Produktionskosten. Oft willkürlich gesetzt, sind sie doch im allgemeinen durch Angebot und Nachfrage geregelt. Sie können nicht nach ihrer Produktivität gemessen werden, da sich diese nicht messen läßt. Der Betrieb funktioniert nur als Ganzes, eine Tätigkeit hängt von der anderen ab, und besondere Beiträge zur Produktion lassen sich nicht vom Gesamtprodukt ableiten. Dies hindert jedoch niemand, von der unterschiedlichen Produktivität der verschiedenen Arbeiten zu sprechen, und dies umso mehr, da die individuell zu tragenden Reproduktionskosten komplizierter Arbeit weit über denen der einfachen Arbeit stehen. Es wird sogar behauptet, daß die hohen Gehälter der Wissenschaftler und Techniker „ihren direkten Beitrag zum technischen Fortschritt reflektieren, so daß, wären Wissenschaftler und Techniker die einzigen Produktionskosten und der Marktmechanismus perfekt, diese Gehälter als Maßstab der technischen Veränderungen dienen könnten[18].“ Jedenfalls sehen sich die Wissenschaftler und Techniker weder als Ausbeuter fremder Arbeitskraft noch als Agenten des Kapitals zur erhöhten Erpressung von Mehrwert, sondern als Produktionsfaktoren, die entsprechend ihrer Wirksamkeit bezahlt werden.

Solange alles gut geht, d. h. mit anhaltender Konjunktur, haben die Wissenschaftler und Techniker keinen Grund zur Unzufriedenheit. Von den sozialen Verhältnissen begünstigt, sind sie im allgemeinen konservativ und an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse interessiert. Die Ideologie der Neutralität der Wissenschaft bietet ihnen ein weites Feld der Betätigung. Der Kannibalismus der Kriegsproduktion berührt sie so wenig wie andere vom Kapital bestimmte „Irrationalitäten“ der wissenschaftlichen Forschung. Ihre hohen Gehälter fördern nicht nur den technischen Fortschritt, sondern auch die von ihm abhängende Macht der Zerstörung – die andere Seite der sich entfaltenden „Produktivkraft des Kapitals“. Da der Fortschritt, der zu fordern ist, von der Kapitalverwertung bestimmt wird, hängt auch das Wohlbefinden der Wissenschaftler und Techniker von dem Krisenmechanismus der kapitalistischen Akkumulation ab.

Wie die Arbeitslosigkeit die jungen Arbeiter mehr betrifft als die älteren, da sich dem Zuwachs weniger Arbeitsplätze öffnen, so sind auch die Berufsaussichten der Studenten durch jeden Rückgang der Konjunktur mehr beeinträchtigt als für die schon etablierten Wissenschaftler und Techniker. Und wenn der Wirtschaftszyklus die letzteren auch der Arbeitslosigkeit ausliefert, dann sind die Erfolgschancen der Studenten doppelt gefährdet. Die um sich greifende allgemeine Sicherheit der Existenz äußert sich in politischen Formen, die das persönliche Dilemma mit den allgemeinen gesellschaftlichen Zuständen in Verbindung setzen. Nach dem zweiten Weltkrieg war die allgemeine Unsicherheit allerdings zuerst nicht direkt ökonomischer Natur, sondern fand ihren Grund in einer das nackte Leben bedrohenden kapitalistischen Machtpolitik, die jede „Normalisierung“ des gesellschaftlichen Lebens ausschloß. Die von diesem Zustand nicht direkt profitierenden oder zur Anpassung direkt gezwungenen Schichten der Bevölkerung, und damit vornehmlich die Studenten, gaben ihrem Mißbehagen Ausdruck in der Friedensbewegung und den Protestdemonstrationen gegen die sich anhäufenden Verbrechen der imperialistischen Machtpolitiker. Aus dieser Bewegung heraus erwuchs naturgemäß die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und die wachsende Erkenntnis, daß auf ihrem Boden keine menschenwürdige Daseinsmöglichkeit ist.

An dieser Situation wird auch die nächste Zukunft nichts ändern, womit zu erwarten ist. daß sich alle dem Kapital eigentümlichen Widersprüche verschärfen werden. Zur allgemeinen Unsicherheit – charakterisiert durch das atomare Wettrüsten, die Kriege in Indochina und dem Nahen Osten, die Zuspitzung der nationalen Befreiungsbestrebungen und die entsprechenden Reaktionen der imperialistischen Staaten, die innere Zersetzung der Großmächte, die Verschärfung der wirtschaftlichen Konkurrenz, der Eintritt Chinas und der Wiedereintritt Japans in die imperialistische Weltpolitik usw. gesellt sich nun auch der wirtschaftliche Niedergang der kapitalistischen Länder, der die Weltwirtschaft als ganzes beeinträchtigen muß. Ohne weiter darauf einzugehen, sei nur bemerkt, daß diese Krise die Wissenschaftler und Techniker und damit deren Nachwuchs, die Studenten, nicht weniger betrifft als die Arbeiter. In Amerika z. B. ist die Arbeitslosigkeit der Wissenschaftler und Techniker prozentual sogar eine höhere als die der Arbeiter. Dies hängt zum Teil mit der durch die Krise erzwungene Reduzierung der militärischen Ausgaben zusammen, da ungefähr 63 % aller Wissenschaftlerund Techniker direkt oder indirekt von der Militärmaschine beschäftigt werden. Aber auch im privaten Sektor fliegen die Wissenschaftler und Techniker auf die Straße. Ihre kleinbürgerliche Existenzweise wird damit vernichtet; sie zählen nun nicht nur zum Proletariat, sondern konkurrieren mit den Arbeitern um die schwindenden manuellen Arbeitsplätze.

Die tatsächliche „Proletarisierung“ von Studenten und Akademikern hat so bereits eine gewisse Realität, da eine zunehmende Zahl von ihnen keine ihrer Schulung entsprechende Position zu finden vermag und damit ins Proletariat absinkt. Zum Teil äußert sich dieser Prozeß in der mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage verbundenen Tendenz der verschärften Ausbeutung der Kopfarbeiter und der Kürzung ihrer Gehälter. Mehr noch als bei den besser organisierten Industriearbeitern kann die Arbeitslosigkeit in den intellektuellen Berufen zu deren Verbilligung genutzt werden. Aber im großen und ganzen bleibt die hierarchische Form der kapitalistischen Arbeitsteilung und Entlohnung doch bestehen, so daß sich der Großteil der Wissenschaftler und Techniker auch weiterhin von den Arbeitern unterscheidet.

Andererseits hängt die „Proletarisierung“ der Studenten und Akademiker sozusagen in der Luft, und es ist durchaus möglich, daß ihre Radikalisierung damit im Zusammenhang steht. Wie die Studenten der unentwickelten Länder in ihren Erwartungen betrogen werden und nur in der sozialen Veränderung die Möglichkeit eines auch ihnen zugute kommenden allgemeinen Fortschritts erblicken, so mögen die Studenten in den entwickelten Ländern in der Weiterexistenz des Kapitalismus ihre eigene drohende Deklassierung voraussehen. Sie können sich vorstellen, daß in einer anderen Gesellschaft ihre besonderen Kenntnisse besser gewürdigt würden. Nicht das Kapital, sondern Wissenschaft und Technik zusammen mit allen anderen intellektuellen Berufen würden die Führung der Gesellschaft übernehmen und ihr einen anderen, sozialeren Charakter verleihen. Bewußt oder unbewußt, die Neigung zur leninschen Theorie mag so nicht mehr ausdrücken als die Verteidigung der vom Kapital bedrohten gesellschaftlichen Sonderstellung.

Wenn wir, um auf Marcuse zurückzukommen, „mit dem Begriff des Proletariats und dem der Diktatur des Proletariats etwas vorsichtiger umgehen“ sollten, so läßt sich von der Herrschaft oder der Diktatur der Intellektuellen überhaupt nicht reden. Nur durch die Beherrschung einer zur Staatsmacht gewordenen Partei und der Institution neuer Formen der Unterdrückung können die Intellektuellen innerhalb des Staats- und Parteiapparates eine Art unsicheren Mitbestimmungsrechts gewinnen, das ihnen aber, durch denselben Apparat, wieder entzogen werden kann. Es sind nicht die Intellektuellen – als Intellektuelle – die die Herrschaft in den sozialistischen Staaten ausüben, sondern konkurrierende Politiker, die nur zum Teil aus intellektuellen Kreisen stammen. Die Wissenschaftler und Techniker, nicht zu sprechen von anderen Kopfarbeitern, sind wie die Handarbeiter einer neuen politisch herrschenden Schicht durch deren Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ausgeliefert. Wie bisher mögen sie ihrem Lebensstandard nach weiterhin als privilegierte Klasse gelten, aber das sind Privilegien der fortgesetzten kapitalistischen Arbeitsteilung, die nichts an ihrer Abhängigkeit ändert.

Wenn die kapitalistische Gesellschaft nur von den Produktionsverhältnissen her begriffen werden kann, so läßt sich der Sozialismus in der Abschaffung dieser Verhältnisse erklären. Er muß so von den durch diese Verhältnisse ausgelösten sozialen Kämpfe ausgehen und ist damit vornehmlich ein Kampf der Arbeiter gegen das von den Kapitalisten personifizierte Kapital. Da das Kapital in der Produktion wie in der Zirkulation vorherrscht, steht es in beiden Sphären der Arbeiterschaft als Gegner gegenüber, und es hat keinen Sinn, die Möglichkeit eines erwachenden revolutionären Klassenbewußtseins nur den produktiven Arbeitern zuzutrauen. Dies umso weniger, als die Charakterisierung „produktiv“ sich nur auf die spezifischen Ausbeutungsverhältnisse des Kapitals bezieht und in einer sozialistischen Gesellschaft keine Bedeutung hat. Wo kein Mehrwert produziert wird, da fällt auch das Problem seiner Realisierung und Verteilung fort, und damit der dem Kapitalismus eigentümliche; Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit.

Anmerkungen des Verfassers

[1] z.B. in der Artikelserie Produktive und unproduktive Arbeit im Kapitalismus, Sozialistische Politik . Berlin 6/7/8, Juni und September 1970, an der sich Joachim Bischoff, Heiner Gamssmann, Gudrun Kummel, Gerhard Lohlein, Christoph Hubner, Ingrid Pilch, Lothar Riehn, Elmar Altvater und Freerk Huisken beteiligten.

[2] Theorien über produktive und unproduktive Arbeit. In Theorien über den Mehrwert. MEW. Bd. 26. 1, Seite 122 bis 277.

[3] ebda. S. 368-369.

[4] ebda. S. 375.

[5] ebda. S. 387.

[6] ebda. S. 382.

[7] MEW. Bd. 23. S.790.

[8] z.B. Joseph M. Gillmann, Prosperität in der Krise, Frankfurt, 1968 und Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, Frankfurt, 1969. Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, Monopolkapital, Frankfurt, 1967. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied u. Berlin 1967.

[9] Sozialistische Politik, Nr. 8, S. 52-53.

[10] ebda. S. 53.

[11] Frankfurter Rundschau, 5. Dezember 1970, S. IV.

[12] ebda.

[13] ebda.

[14] ebda..

[15] Sozialistische Politik, Nr. 8, S. 78-79.

[16] ebda.

[17] Frankfurter Rundschau.

[18] R.R. Nelson, Aggregate Production Functions and Medium-Range Growth Projection. The American Economic Review, September 1964, S. 591


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009