Paul Mattick


[Rezension von E. Mandel & G. Novack The Marxist Theory of Alienation
& P. C. Roberts Alienation and the Soviet Economy]

(September 1974)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 10 Jg., September 1974, Heft 3, S. 376–8.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



MANDEL, Ernest und George NOVACK: The Marxist Theory of Alienation. Three ssays. — New York: Pathfinder Press 1973. 94 S.

ROBERTS, Paul Craig: Alienation and the Soviet Economy. Toward a General Theory of Marxian Alienation, Organizational Principles, and the Soviet Economy. — Albuquerque: University of New Mexico Press 1971. VIII. 121 S.


Im Zusammenhang mit der Zerstörung und Selbstauflösung der revolutionären Arbeiterbewegung vor dem und im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und angeregt durch die verspäteten Veröffentlichung der Marxschen Frühschriften, wie der Vorarbeiten zum Kapital, vollzog der akademische Marxismus eine rückläufige Bewegung durch die Vernachlässigung des „alten“ zugunsten des Jungen“ Marx. Marx’ Weg führte von der Philosophie zur Ökonomie – als Ausdruck der fetischisierten kapitalistischen Produktionsweise – und zur historischen Spezifizierung des von Hegel aufgeworfenen Problems der Entfremdung des Menschen von seinem wahren Wesen durch die Aufzeigung der konkreten Entfremdung oder Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln und der sich daraus ergebenden Beherrschung der Produktion und Verteilung durch das Kapital. Die erneute Hervorhebung der philosophisch-ethischen Ausgangspunkte von Marx machte die Entfremdung wieder zu einem allgemein-menschlichen Problem dem, unabhängig von Klassenverhältnissen und Klassenauseinandersetzungen, nachgegangen werden konnte. Damit wurde eine Art „Marxismus“ für den scheinbar krisenlosen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der sich auch gut im ideologischen Kampf gegen den „unmenschlichen Marxismus“ der staatskapitalistischen Systeme verwenden ließ. Jedenfalls entstand eine kaum noch übersehbare Literatur zur Entfremdung, die für einige Zeit den ganzen Inhalt des Marxismus auszumachen schien.

Die populären Essays von Mandel und Novack geben einen kurzen Überblick über die der Entfremdung gewidmeten Literatur und ihre Beurteilung vom Standpunkt des trotzkistischen Leninismus. Die Autoren sehen die Entfremdung als ein reales Problem jeder Klassengesellschaft, das nur im Sozialismus zu seinem Ende kommen kann. Allerdings stellt sich die Frage, weshalb Entfremdung auch in den „sozialistischen“ Gesellschaftssystem weiter besteht. Nach Mandel und Novack liegt das an den noch unterentwickelten Produktivkräften und dem der Übergangsperiode entsprechenden Widerspruch zwischen der sozialistischen Produktionsweise und der weiterbestehenden bürgerlichen Distribution – ganz im Gegensatz zu der Marxschen Auffassung, wonach sich die Distribution nur aus der Produktion erklären läßt. Nach Mandel ist der Schlüssel zur Beendigung der Entfremdung in der Abschaffung der notwendigen, schematischen und meachnistischen Arbeit zu suchen und in der Herausbildung einer menschlicheren schöpferischen Tätigkeit, die nicht mehr als Arbeit im alten Sinne gewertet wird. Obwohl es demzufolge mit dem Ende der Entfremdung noch gute Weile hat, bleiben ihre jetzigen Formen doch beklagenswert und möglicherweise wenigstens teilweise aufhebbar. Die kapitalistische Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen und die „sozialistische“ Beibehaltung proletarischer Machtlosigkeit müßten politisch bekämpft werden, was denn auch eine der Aufgaben des Trotzkismus ist.

P. C. Roberts „Entfremdung in der Sowjetunion“ ist ein bei weitem interessanteres Buch. Es unternimmt einen Vergleich der sowjetischen Realität mit den dem Marxismus zugrundeliegenden Prinzipien einer sozialistischen Wirtschaft. Roberts kommt zu dem Schluß, daß die russische Wirtschaft nichts mit dem Marxismus zu tun hat und auch keine Planwirtschaft ist, sondern lediglich eine ideologisch verkleidete Marktwirtschaft. Er hält eine Planwirtschaft überhaupt für unmöglich und damit den Sozialismus für eine Utopie. In seiner Auffassung beinhaltete der Begriff Entfremdung für Marx nichts weiter als die Marktwirtschaft selbst. Der Warenfetischismus und die Wertrelationen machten für Marx den Inhalt der politischen Ökonomie aus, die damit im Sozialismus zu ihrem Ende kommt. In den diesbezüglichen Thesen Bucharins und der politischen Praxis Lenins – der die ganze Gesellschaft in eine große Fabrik zu verwandeln trachtete – sieht Roberts einen ernsthaften Versuch, die Marxschen sozialistischen Vorstellungen zu realisieren. Dieser Versuch, später abfällig als Kriegskommunismus bezeichnet, mußte bald wieder zugunsten des unerläßlichen Preis- und Geldsystems aufgegeben werden.

Nach Roberts sind für Marx nicht das Privateigentum, die Arbeitsteilung und die Mehrarbeit die Charakteristika des Kapitalismus, sondern die Produktion von Tauschwerten für den Markt. Da die Warenproduktion auch in Rußland existiert, ist das System von einem konsequenten Marxistischen Standpunkt aus als Warenwirtschaft zu betrachten, die den früheren Bestrebungen zur Zeit des Kriegskommunismus direkt widerspricht. Roberts zufolge begriff der Pragmatiker Lenin sehr schnell das Utopische der ursprünglichen bolschewistischen Politik und wandte sich der rationellen Marktwirtschaft zu. Auch Trotzki überzeugte sich, daß es — ganz unabhängig von der Frage der Ausweitung der russischen zur Weltrevolution – notwendig wäre, die zentralgeleitete Naturalwirtschaft zugunsten , rationellerer Wirtschaftsmethoden aufzugeben.

Roberts zufolge übersteigt die optimale Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit und Produktion die Möglichkeiten der Planung und bedarf der durch den Markt gegebenen Preis- und Profitsignale. Da die russische Wirtschaft ebenfalls an die Kriterien von Preis und Profit gebunden ist, erscheint ihm die gleichzeitige Planung als völlig überflüssig. Was die Planungsbehörden anstreben, vollzieht sich auch ohne sie. Sie simulieren nur einen Zustand, der sich aus den Marktrelationen von selbst ergibt. Die „geplante Warenproduktion“ sei ein Widersinn, der sich nur aus einem ideologischen Bedürfnis erklären lasse. In Wirklichkeit kontrolliert der Markt den Plan, nicht umgekehrt, was sich aus den fortwährenden Planveränderungen ergibt. Die Planungsbehörden lösen nur die Probleme, die sich aus ihrer eigenen Existenz ergeben.

Da Rußland keine Planwirtschaft hat, kann eine solche auch nicht aufgegeben werden. Was Roberts vorschlägt, ist, alle diesbezüglichen Versuche zu unterlassen. So wendet er sich gegen alle Theorien, vornehmlich die von Oskar Lange, die Markt und Planung zu verbinden trachten. Roberts stellt allerdings fest, daß es sich hier nicht um reale Probleme handelt, sondern nur um rein theoretische Differenzen zwischen Ökonomen: um die logische Konsistenz von wirklichkeitsfremden Modellen der Marktsimulation. Diese Gleichgewichtsmodelle gehen von den Tauschrelationen der Warenproduktion aus, nur um nachzuweisen, daß sich diese auch planen lassen. Nach Roberts läuft dies auf nichts weiter als den Versuch hinaus, dem Markt ein sozialistisches Vokabular anzuhängen.

Gegenüber Lange und Konsorten ist Roberts mit der Behauptung im Recht, daß sich die bürgerliche Markttheorie nicht mit einer sozialistischen Planwirtschaft in Einklag bringen läßt und ebenfalls mit dem Nachweis, daß die Marxschen Vorstellungen einer sozialistischen Gesellschaft nichts mit den russischen Zuständen gemeinsam haben. Diese Feststellungen bleiben wahr, auch wenn sie von einem radikalen laissez-faire Standpunkt aus vorgetragen werden. Roberts ist hier völlig konsequent. Wie ihm die Planungsversuche und die russische Revolution selbst als sinnlos erscheinen, so wendet er sich auch gegen alle zentralen Wirtschaftseingriffe in den kapitalistischen Ländern. Die große Krise von 1929 ist für ihn ein Produkt von Fehleingriffen der Regierungen in den sonst krisenlosen Marktmechanismus. Aber dieser Mechanismus war und ist nicht weniger illusionär, wie die Illusionen einer sozialistischen Marktwirtschaft und genau so ideologisch bestimmt wie das sozialistische Etikett des russischen Staatskapitalismus. Dem Pseudo-Markt der russischen Planwirtschaft steht die Pseudo-Planung des privatwirtschaftlichen Kapitalismus gegenüber, da sich die bürgerliche wie die bolschewistische Ideologie nicht mit der Wirklichkeit verträgt.


Zuletzt aktualisiert am 29. September 2019