Paul Mattick


[Rezension von A. Thalheimer „Einführung in den dialektischen Materialismus“]

(September 1974)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 10 Jg., September 1974, Heft 3, S. 373f.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



THALHEIMER, August: Einführung in den dialektischen Materialismus. — Hrsg von der Gruppe Arbeiterpolitik. - Bremen, Kuhlmann 1973, 191 S.


Dieser Neudruck einer Reihe von Vorträgen über den dialektischen Materialismus, die Thalheimer 1927 an der Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau gehalten hat, hat wenig Berechtigung; es sei denn, als ein Dokument zur Ideologie der Dritten Internationale. Was Thalheimer seinen chinesischen Hörern hier unterbreitete, ist eine weitere Verflachung des schon von Plechanow und Lenin verflachten, sich auf Engels stützenden dialektischen Materialismus, als einer alles in sich einbeziehenden „modernen Weltanschauung“. Da die Dialektik nach Thalheimer „selbst eine dialektische Entwicklung durchmachte“, verfolgt er diese in der Religionsgeschichte, der griechischen-, indischen- und chinesischen Philosophie, um schließlich - über Hegel und Feuerbach hinaus - ihre vollendete Form bei Marx und Engels darzustellen.

Thalheimer zufolge ist die Dialektik den Menschen angeboren, wenn es auch recht lange dauerte, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Es handelt sich hier um „die Summe der allgemeinen Bewegungsgesetze der wirklichen materiellen Welt und der die sen Gesetzen entsprechenden Denkweise im Kopfe der Menschen, d.h. die wirkliche materielle Welt ist dialektisch, befolgt die Gesetze der Dialektik, und diese Dialektik findet sich auch im menschlichen Kopf vor, weil der menschliche Kopf auch ein Bestandteil der materiellen Welt ist“. Mit der Dialektik im Universum und im Kopf wird ersichtlich, daß sich alles aus Gegensätzen entwickelt und diese wieder eine Einheit bilden: z.B. „der Gegensatz zwischen Tag und Nacht ist in dem Begriff des vierundzwanzigstündigen Tages aufgehoben“. In der gleichen verblüffenden Weise, in der Thalheimer hier die Negation der Negation anschaulich macht, erklärt er auch das Umschlagen von Quantität in Qualität am Beispiel der Verdampfung des Wassers bei zuviel Hitze und seiner Vereisung bei zunehmender Kälte. Damit ergibt sich schließlich aus dem Gegensatz von Arbeit und Kapital unweigerlich und mittels zunehmender Klassenkämpfe die Revolution und der Sozialismus.

Obwohl Thalheimer zufolge die Dialektik einerseits schon im Kopfe steckt, so ist sie andererseits doch „nicht jedem, wie er steht und geht, angeboren. Sie ist eine Kunst, die gelernt und geübt sein will“. So gibt es gute und schlechte Dialektiker; eine wahre und eine Scheindialektik. Während wahre Dialektik „die theoretische Grundlage dafür ist, wie man Geschichte macht“, drückt sich die Scheindialektik darin aus, „daß zwischen dem Alten und dem Neuen eine Verständigung, ein Kompromiß versucht wird; man versucht, das Alte mit dem Neuen zu vereinigen, ohne das Alte aufzuheben“. Daraus ergeben sich „opportunistische“ und „anarchistische“ Entstellungen der Dialektik, oder praktisch: linke und rechte Abweichungen von der in der Parteilinie verkörperten wahren Dialektik.

Ohne Zweifel bildeten die Hegelsche Dialektik und der bürgerliche Materialismus den Ausgangspunkt der Marxschen Geschichtsbetrachtung. Diese aber hat mit dem von Thalheimer dargelegten dialektischen Materialismus nichts zu tun. Auch die Engels’sche Verwässerung des Marxismus zu einer Weltanschauung ragt noch weit über Thalheimers Darstellung hinaus und ist dieser vorzuziehen. Dennoch läßt gerade die Primitivität des Thalheimerschen Buches die Hoffnung aufkommen, daß es seine Leser nicht nur in diese Art dialektischen Materialismus ein-, sondern auch zugleich wieder hinausführt.


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009