Franz Mehring

 

Die Unruhen in China [1]

(1900)


Die Neue Zeit, 18. Jahrgang (1899/1900), Bd.2, S.353-356.
aus Franz Mehring, Krieg und Politik, Bd.I, Berlin 1959, S.97-101.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Berlin, den 20.Juni 1900

Mitunter, wenn auch leider nicht immer, macht die Nemesis doch rasche Schritte: Auf die Annahme det Flottenvorlage und das endlose Getratsche von der Glorie der Weltpolitik antworten die Unruhen in China mit dankenswerter Pünktlichkeit. Es ist heute erst zu wenig über sie bekannt, als daß sich über ihre demnächstige Entwicklung schon sprechen ließe; rechnet man aber noch so viel an unbeglaubtigen Alarmnachrichten ab, so bleibt doch ein Rest, der für die deutschen Weltpolitiker schwer zu verdauen ist.

Eben haben sie ihren ganzen Fonds von sittlicher Entrüstung – und dieser Fonds war nicht klein – über den Burenkrieg der Engländer ausgeschüttet. Nun sollen sie dieselbe kapitalistische Raubpolitik, die zu diesem Kriege geführt hat, mit jenem überspannten Enthusiasmus verherrlichen, der sich für den deutschen Patrioten schickt, wenn es den Ruhm der deutschen Fahnen gilt. Es ist eine ganz verzweifelte Aufgabe, und man muß mit den halsbrecherischen Bocksprüngen der armen Tölpel, die dem deutschen Michel die „korrekte“ Auffassung dieses Falles beizubringen suchen, ein wenig Geduld und Nachsicht haben. Gewiß wenn die Tintenkulis des Königs Stumm im Stile des Vaters Arndt zum „heiligen Kriege“, zum „Kriege der Bildung und Humanität gegen ein hinter seinen Mauern geistig erstarrtes und sittlich unentwickeltes Volk“ aufrufen, so ist dieser Humor zum Totschießen, aber was sollen die dummen Teufel sonst anfangen? Ins Blaue hinein schwatzen müssen sie nun einmal, dafür werden sie besoldet, und je ausgiebiger sie dabei für die Lachmuskeln der Mitwelt sorgen, um so eher kann man ihnen mildernde Umstände zubilligen.

In dieser nachsichtigen Stimmung möchten wir einen Vorschlag machen, der ihnen gewiß willkommen sein wird, da er durchaus ihre „heilige Sache“ zu fördern geeignet ist. Sie sollten sofort die vaterländischen Liederbücher revidieren, ehe die Chinesen darüber kommen, etwa über Vater Arndts „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte, keine Knechte!“, oder gar über Heinrich v. Kleists „Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!“ Soviel werden auch die offiziösen und kapitalistischen Tintenkulis einsehen, daß die Chinesen die triftigsten Gründe haben, sich auf diese Dichterzungen zu berufen; ja ihre Totschlaglaune ist noch viel berechtigter, da sie nicht die Karnickel gewesen sind, die angefangen haben, und da die humane Bildung, die gegen sie mit der „gepanzerten Faust“ demonstriert, wirklich viel mehr zu wünschen übrig läßt als die Bildung und Humanität, die einst von den französischen Waffen nach Deutschland getragen wurde. Die französischen Revolutionäre hatten sehr recht, wenn sie meinten, daß der dicke Wilhelm von Preußen, von dessen Verdiensten um Bildung und Humanität die Geschichte nichts weiß, es sei denn, daß die Post seine hervorragenden Leistungen als Bigamist unter diesen Titel rubrizieren Will, ein „hinter seinen Mauern geistig erstarrtes und sittlich unentwickeltes Volk“ gegen die Französische Revolution, führe, und wenn es – mit der einzigen Ausnahme des 18. März 1848 – einen Tag im neunzehnten Jahrhundert gibt, der mit einem Ruck der Bildung und Humanität in Deutschland eine Gasse geöffnet hat, so war es der 14. Oktober 1806, als die preußischen Junker bei Jena so fürchterliche Schläge von den Franzosen bekamen. Unter diesen Gesichtspunkten haben die heutigen Chinesen allerdings ein besseres Recht als ehedem Heinrich v. Kleist, den Schlachtgesang anzustimmen „Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!“ Soviel wir wissen, haben die Chinesen niemals den Versuch gemacht, mit gewaffneter Hand die europäische „Bildung und Humanität“ zu ersticken, und was die Politik der „gepanzerten Faust“ nach China zu bringen versucht, mag mit vielen Dingen sonst etwas zu schaffen haben, nur mit Bildung und Humanität hat es auch nicht das geringste zu tun.

Es ist gar nicht zu sagen, wie anmutige Perspektiven die jetzt von der kapitalistischen und offiziösen Presse verbreiteten Grundsätze eröffnen. Danach wäre. es auch ein „heiliger Krieg“, wenn heute eine englische Panzerflotte in Danzig landete und Konitz mitsamt der Tuchelet Heide eroberte, sintemalen daselbst nach den bekannten Vorgängen der letzten Monate augenscheinlich „ein hinter seinen Mauern geistig erstarrtes und sittlich unentwickeltes Volk“ lebt, dem gegenüber sogar der preußische Militarismus, geschweige denn eine bürgerlich freie Nation wie die englische, Bildung und Humanität vertritt. Oder – da den einzelnen Klassen innerhalb einer Nation billig sein muß, was den einzelnen Nationen der menschlichen Gesellschaft recht sein soll, so wäre es auch ein „heiliger Krieg“, wenn das moderne Proletariat, das seit einem halben Jahrhundert für Bildung und Humanität kämpft, mit „gepanzerter Faust“ über die „hinter ihren Mauern geistig erstarrte und sittlich unentwickelte“ Klasse der Unternehmer herfiele. In der Tat preisen die Preßbedienten des Königs Stumm, um in ihrem eigenen Jargon zu reden, den „reinsten Anarchismus“, aber wenn ihr Herr und Meister sie deshalb bei den Ohren fassen wollte, so würden wir eine Fürbitte für sie einlegen: Was sollen sie Gescheiteres anfangen gegenüber der sehr ungescheiteren Aufgabe, den heiligen Kreuzzug zu predigen gegen ein Volk, das eine ausbeutende und unterdrückende Fremdherrschaft abschütteln will?

Bedenklicher ist das Treiben der liberalen Blätter, die gegenüber den chinesischen Unruhen nicht kalt und nicht warm zu blasen wagen, sondern mit ungewissen Redensarten einherschwanken. Einerseits wissen sie ganz gut, daß es sich bei dem Überfall Chinas durch die europäischen Mächte nicht um Kultur oder Zivilisation oder sonst dergleichen schöne Dinge, sondern allein um eine Aufteilung des letzten großen Absatzmarktes der Erde zwischen den kapitalistisch produzierenden Nationen handelt; auch verstehen sie genug von kapitalistischer Ökonomie, um die Politik der „gepanzerten Faust“ als die gemeingefährlichste und rückständigste Form der kapitalistischen Politik einzuschätzen. Auf der anderen Seite aber erwägen sie vorsichtig, daß die Kugel nun einmal im Rollen und sie aufzuhalten eine nicht unbedenkliche Sache ist, zumal für die deutsche Bourgeoisie, der die Vorsicht immer der bessere Teil der Tapferkeit war. So drehen und wenden sie sich hin und her mit Redensarten, die nicht gehauen und nicht gestochen sind. Besonders schön macht es sich, wenn sie über den „Stillstand“ des Chinesen jammern, der „am ganz Gemeinen, am ewig Gestrigen“ hänge gegenüber dem europäischen Geiste, der allemal für die stete Entwicklung und den unhemmbaren Fortschritt sei. Soweit das Gerede überhaupt einen Sinn hat, wurzelt der chinesische „Stillstand“ und der europäische „Fortschritt“ in der ökonomischen Struktur einerseits Chinas und andererseits Europas, und wie rührend, wenn dieselben liberalen Manchesterblätter, die mitten in den unaufhörlichen Umwälzungen der kapitalistischen Produktionsweise eben diese Produktionsweise für ein ganz unerschütterliches Naturgesetz, für das ewig Gestrige und auch für das ewig Morgige erklären, jetzt ihre staatsmännischen Brauen runzeln über den chinesischen „Stillstand“, der von seinem Standpunkt aus wenigstens konsequent und logisch ist. Im übrigen läuft die liberale Schwachherzigkeit wie üblich darauf hinaus, im günstigen Falle mit den patriotischen Wölfen zu heulen, und im ungünstigen Falle den verkannten Biedermann zu spielen, der, falls er nur rechtzeitig gehört worden wäre, alles Unheil verhütet haben würde.

Wenn wir in dieser liberalen Taktik eine größere Gefahr sehen als in dem „heiligen Kriege“, den König Stumm trommelt, so aus dem Grunde, weil sie den deutschen Spießbürger viel eher betölpeln kann. Um so notwendiger ist es, daß die Arbeiterklasse von vornherein sich jedem Versuch widersetzt, ihr ein X für ein U zu machen. Niemand kann mehr als sie die chinesischen Verwicklungen beklagen und das deutsche Blut, das schon dabei geflossen ist; die Tatsache, daß sie sich unerschütterlich der abenteuerlichen Politik widersetzt hat, die nach China führte, ist dafür der schlagendste Beweis. Wußte sie doch im voraus, daß für diese kurzsichtige Interessenpolitik der herrschenden Klassen in erster Reihe wieder ihre Klassengenossen büßen müssen! Es ist nur ein halb lichter Moment, wenn der Bund der Landwirte durch sein Organ verkündet, für die drei deutschen von den Chinesen erschossenen Blaujacken fielen die englischen Earls und sonstige Offiziere, die in dem grausamen, blutgierigen, ungerechten Kriege gegen die Euren geblieben seien, federleicht in die Waagschale. Wozu in die Ferne schweifen, wenn der richtig e Vergleich so nahe liegt? Gegen jene drei Blaujacken, die mit ihrem Blute gebüßt haben, was sie nicht verschulden, fallen alle Urheber einer Weltpolitik, die nach dem Muster des Burenkriegs arbeitet, federleicht in die Waagschale. Aber das ehrlichste und tiefste Mitgefühl mit den unschuldigen Opfern einer verkehrten und verwerflichen Politik darf niemals dazu verführen, diese Politik selbst zu billigen und ihre unheilvollen Konsequenzen zu unterstützen.

Gewiß spielt sich die internationale Politik nicht nach den Regeln eines Bagatellprozesses ab, und es kann Fälle geben, wo die Arbeiterklasse sagt: right or wrong my country! In gewissem Sinne lag ein solcher Fall im Sommer 1870 vor, als auch die deutschen Proletarier mit unverfälschter Begeisterung gegen Napoleon ins Feld zogen, obgleich von den beiden Urhebern des Krieges Bismarck moralisch womöglich noch verwerflichere Mittel angewandt hatte als Napoleon. Worauf es damals ankam, war das Recht der Nation, aus eigener Kraft und nach eigenem Willen ihre Geschicke zu bestimmen, und auf dies von Napoleon gefährdete Recht konnte sie nicht verzichten, gleichviel wie es von Bismarck vertreten worden war. Am wenigsten konnte die Arbeiterklasse darauf verzichten, die an der Unabhängigkeit der Nation immer in erster Reihe interessiert ist. Um so entschiedener aber verwirft sie, die Unabhängigkeit einer anderen Nation anzutasten; aus demselben Prinzip heraus, das sie 1870 gemeinsam mit ihren Unterdrückern einen frivolen Angriff abwehren hieß, wird sie sich vor allem hüten, was nach einer Unterstützung frivoler Angriffe auf eine fremde Nation aussehen könnte.

Es ist überaus traurig, daß die arbeitenden Klassen zuerst und zumeist die Zeche zu zahlen haben für die eigensüchtige und verblendete Politik der besitzenden Klassen, aber um diesem unsinnigen Zustand endlich einmal ein Ziel zu setzen, könnte man keinen unsinnigeren Weg betreten, als in ein begeistertes Hurrageschrei auszubrechen, sobald die „Blaujacken“ wieder einmal zu bluten beginnen für das, was die „Earls“ gesündigt haben. In der deutschen Chinapolitik liegt die Sache so einfach, daß selbst der deutsche Spießer sich wohl entschließen könnte, einmal die Nachtmütze vom Kopfe zu ziehen, womit wirklich keine unbescheidene Anforderung weder an seinen Charakter noch an seine Intelligenz gestellt wäre. Allein nach der bisherigen Haltung der liberalen Presse zu urteilen, ist die Hoffnung darauf nicht sehr groß, und die patriotische Phrase wird in all ihrem schäbig gewordenen Glanze wieder fürchterliche Musterung unter den Unentwegten halten.

Um so standhafter muß der Widerstand des Proletariats gegen eine Politik sein, die es von Anbeginn verworfen hat und die es niemals billigen kann, ohne seine Prinzipien zu verleugnen und den nationalen Interessen einen tödlichen Schlag zu versetzen. Raubkriege bleiben Raubkriege, woran der deutsche Patriotismus so wenig etwas ändern kann, als der englische oder französische oder russische Patriotismus jemals etwas daran geändert hat. Sie züchten vor allen Dingen den einheimischen Despotismus, und jeder Arbeiter, der an dem Joche schmieden hülfe, das den Chinesen auf den Nacken gelegt werden soll, würde nur seine eigenen Ketten fester schmieden. Dieser selbstmörderischen Politik ist die deutsche Arbeiterklasse unfähig.

 

Anmerkung

1. Mehring entlarvt hier den Chauvinismus und die Heuchelei der bourgeoisen Presse, die die Teilnahme des deutschen Imperialismus an der Unterdrückung des chinesischen Volksaufstandes 1900/01 (sogenannter „Boxeraufstand“) begrüßte. Der Aufstand richtete sich gegen die rücksichtslose Ausbeutung Chinas durch die imperialistischen Staaten. Bei der unerhört grausamen Niederschlagung durch die Truppen der imperialistischen Mächte Europas, der USA und Japans trat der deutsche Imperialismus besonders aggressiv und brutal auf. Wilhelm II. hatte das deutsche Truppenkontingent in Bremerhaven mit der berüchtigten „Hunnenrede“ verabschiedet. Der Frieden von Peking (7.9.1901) verstärkte den ökonomischen und politischen Einfluß der imperialistischen Mächte in China. Trotzdem war der Volksaufstand ein schwerer Schlag gegen die imperialistischen Räuber, die China aufteilen wollten.

 


Last updated 13.2.2005