Franz Mehring

 

Die Arbeiterklasse und der Weltkrieg [1]

(30. Juli 1914)


Sozialdemokratische Korrespondenz, 30. Juli 1914.
F. Mehring, Krieg und Politik, Bd. I, Berlin 1959, S. 142–144.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Für das internationale Proletariat hat eine große Stunde geschlagen. Es hat das Gewicht seiner Stimme in die heftig auf- und niederschwankende Waage des Weltkrieges zu werfen, und es muß sich zeigen, ob und inwieweit sein Widerstand das drohende Unheil zu beschwören vermag.

Mit den Erfolgen, die bisher in Deutschland erzielt worden sind, können wir wohl zufrieden sein. Nach dem ersten Bekanntwerden des österreichischen Ultimatums an Serbien schien der patriotische Mob Markt und Straßen zu beherrschen, unter wohlwollender Duldung der Polizei, die, wie in München, selbst nicht einmal Handlungen vandalischer Zerstörungswut hindern konnte oder wollte. Das hat sich sehr geändert, seitdem die Arbeiterbataillone aufmarschiert sind, um den Weltkrieg zu brandmarken. Auch die bürgerliche Presse kann sich der Wucht dieser Kundgebung nicht entziehen, mit scheinbarer Ausnahme ganz vereinzelter Blätter von dem Kaliber des berufenen Brotwuchererorgans, worin der Knuten-Oertel aus seinem Fettwanst falstaffischen Spott über die sozialdemokratischen Massenversammlungen herauszuquälen sucht.

Am wenigsten wird der deutsche Generalstab so töricht sein, den Willen der arbeitenden Klassen zu unterschätzen Wer die Kriegsgeschichte und namentlich die moderne Kriegsgeschichte einigermaßen kennt, ist hinlänglich darüber unterrichtet, wie sorgfältig die Neigungen und Stimmungen der Massen, aus denen sich das Heer rekrutiert, an den „maßgebenden Stellen“ beobachtet und bei der Entscheidung über Krieg und Frieden beachtet werden. Nach außen hin tut man natürlich so, als ob es darauf gar nicht ankäme, als ob der einfache Befehl des Kriegsherrn genügt, auf Vater und Mutter, geschweige denn auf Franzosen und Russen zu schießen Jedoch wo der Militarismus unter sich ist, weiß er sehr gut, daß in einer Zeit, in der so ungeheure Massen auf das Schlachtfeld geschickt und an ihre geistige, körperliche und sittliche Spannkraft so ungeheuere Anforderungen gestellt werden, sehr viel, ja im Grunde alles darauf ankommt, ob diese Massen den Krieg wollen oder nicht.

Er ist auch nicht so verblendet, sich durch den noch so lärmenden Spektakel des patriotischen Mobs über die wirkliche Lage der Dinge täuschen zu lassen. Er nimmt dies wüste Getobe mit, aber er weiß sehr gut, daß nichts Reelles dahinter steckt. Wie geringen Wert er darauf legt, hat er vor fünfzig Jahren gezeigt, als dieselben Schichten der bürgerlichen Gesellschaft, die heute für den Krieg brüllen, ebenso fanatisch gegen den Krieg brüllten. Noch am 14. Mai 1866, als das preußische und das österreichische Heer sich schon in voller Rüstung gegenüberstanden, erließ Herr v. Bennigsen als Präsident des National- Vereins einen Aufruf gegen die Kriegspolitik Bismarcks, der also begann: „Das Rechtsbewußtsein der Nation protestiert bis zum letzten Augenblick gegen die Willkür, die mit dem Schicksal Deutschlands ein unverantwortliches Spiel treibt. Treu seinem patriotischen Beruf, erhebt der Nationalverein nochmals seine Stimme gegen einen Bruch des deutschen Landfriedens, dessen Schuld wie ein Fluch auf das Haupt seiner Erheber fallen wird.“ Und in diesem Tone noch eine ganze Strecke weiter. Bismarck und Moltke kannten aber ihre Pappenheimer; sie pfiffen einfach auf dies Friedensgeplärr der „Edelsten und Besten“, und wir möchten ungern annehmen, daß der heutige Generalstab so geist- und gottverlassen ist, um auf das Kriegsgeplärr des patriotischen Mobs einen höheren Wert zu legen.

Worauf Bismarck und Moltke vor fünfzig Jahren ihre Zuversicht setzten, waren die Massen vor allen des Landvolkes, denen die eigen- süchtig verlogene Politik der Bourgeoisie völlig gleichgültig war, aber denen der monarchische Glaube, das patriarchalische Gefühl einer gottverordneten Untertänigkeit noch in allen Knochen steckte. Diese Rechnung hat sie auch nicht getrogen, wenigstens für den Augenblick nicht. Wenn selbst so gescheite Beobachter wie Marx und Engels – freilich in der Ferne – sich durch den Schein der Dinge täuschen ließen und 1866 mit der Möglichkeit rechneten, daß die Landwehr sich nicht gutwillig einkleiden lassen werde, so haben damals die Massen den Krieg doch gern durchgefochten. Aber freilich hat Bismarck selbst noch am eigenen Leibe erfahren, daß sich auf diesen Felsen dauernd keine Hütten bauen ließen; an dem allgemeinen Wahlrecht, womit er 1866 die Massen ködern wollte, hat er sich selbst noch die Finger blutig geschnitten.

Heute liegen die Dinge umgekehrt wie damals, insofern als die Bourgeoisie, wenigstens nach der Sprache ihrer Zeitungen, kriegslüstern ist und das Proletariat den Krieg verabscheut. Allein sie liegen genauso wie 1866, insofern als es auf den patriotischen Mob ganz und gar nicht ankommt, aber um so mehr auf den Willen des klassenbewußten Proletariats. Nicht als ob der deutsche Generalstab befürchtete oder zu befürchten brauchte, daß er auf einen Widerstand stieße, den er gewaltsam brechen müßte! Aber er weiß besser als sonst irgendwer, welche beispiellosen, bisher ganz unerhörten Ansprüche ein moderner Weltkrieg an die moralischen Kräfte der Truppen stellt, und er wird sich auch recht klar darüber sein, daß jener Fonds moralischer Dumpfheit, womit Bismarck und Moltke vor fünfzig Jahren noch wirtschaften konnten, längst aufgezehrt worden ist.

Gewiß hat das internationale Proletariat noch nicht die Macht, den Weltkrieg unter allen Umständen zu hindern. Diese Macht kann es erst mit seinem endgültigen Siege gewinnen. Aber es kann dem Weltkrieg heute schon Hindernisse in den Weg legen, die Moloch sehr schwer und nur um den Preis überwinden kann, ein Spiel auf Leben und Tod zu beginnen. Wir dürfen der frohen Hoffnung leben, daß es unsern heldenmütigen Brüdern in Rußland gelingen wird, dem zarischen Bären so auf die plumpen Tatzen zu klopfen, daß er sie nicht auszustrecken wagt: Deshalb haben die Arbeiterklassen aller Länder aber nicht weniger die Pflicht, dem Militarismus die Wege zu verbauen.

Die deutsche Arbeiterklasse ist dieser Pflicht bisher so eifrig wie wirksam nachgekommen, aber noch ist die Gefahr lange nicht gebannt, und die Agitation gegen den Weltkrieg darf keinen Tag ruhen. Ist der Abscheu vor ihm auch dem letzten Arbeiter in Fleisch und Blut übergegangen, dann bleibt er nach wie vor ein scheußliches, aber er wird ein ungefährliches Gespenst.

 

 

Anmerkung

1. Es liegt im Wesen des imperialistischen Krieges, daß er von den werktätigen Volksmassen geführt und entschieden wird. Bereits 1905 hatte Lenin in seinem Aufsatz Der Fall von Port Arthur geschrieben: „Die Kriege werden jetzt von den Völkern geführt ...“ (W. I. Lenin, Werke, Bd. 8, Berlin 1958, S. 37). Die führenden Vertreter der deutschen Linken wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring gelangten zur gleichen Erkenntnis und zogen daraus Schlüsse für die praktische parteipolitische Arbeit.

Auch der deutsche Generalstab hatte sich, wie Mehring ohne genaue Kenntnis der Einzelheiten treffend zeigte, vor 1914 eingehend mit der Haltung der deutschen Arbeiterklasse zum kommenden Krieg und dem Einfluß der Sozialdemokratie auf das Heer beschäftigen müssen. Er traf die verschiedensten Maßnahmen, um den Widerstand der revolutionären Arbeiterbewegung gegen die Entfesselung des Krieges nachdrücklich bekämpfen zu können. Trotzdem ließ sich ihr Einfluß auf die Kriegskunst und die Kriegsvorbereitungen des deutschen Imperialismus vor 1914 nicht zurückdrängen. Die Furcht vor dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse war eine der Hauptursachen für das Entstehen der abenteuerlichen Blitzkriegskonzeption des deutschen Generalstabes. Im Jahre 1914 bemühten sich die herrschenden Klassen mit aller Kraft, unter den Volksmassen eine chauvinistische Stimmung zu entfachen, wobei sich das sogenannte Brotwuchererorgan (die Kreuzzeitung) besonders hervortat.

 


Zuletzt aktualisiert am 21. Februar 2023