Anton Pannekoek

 

Marxistische Theorie
und revolutionäre Taktik

Zum Schluss

Zu dem Artikel Kautskys: Der jüngste Radikalismus möchte ich mir, damit keine Missverständnisse übrig bleiben, noch einige Schlussbemerkungen gestatten. Wenn ich auch verstehen kann, dass in der Zeit der Kriegsgefahr die Lust zur Beschäftigung mit theoretischen Grundfragen der Taktik nicht groß ist, so kann uns dabei doch die Tatsache trösten, dass Massenaktionen auch in der Frage der Bekämpfung der Kriegsgefahr nicht ganz bedeutungslos sind.

Erstens: Wenn man von dem Klassencharakter als der bestimmenden Ursache des menschlichen Handelns redet, so handelt es sich nicht, wie Kautsky glaubt, um eine Ursache inmitten der Hunderte von anderen Ursachen, die bei jeder Erscheinung mitspielen. Der Klassencharakter von Volksmassen ist der Inbegriff der Eigenschaften, die ihnen durch ihre Stellung im Produktionsprozess zukommen, der auf ihren Willen und ihr Handeln einwirkenden Kräfte, die aus der Gesellschaft entsprießen. Wer die Aktion der Massen untersucht, hat diesen Klassencharakter zuerst als das Allerwichtigste in Rechnung zu ziehen, und der Vorwurf, den wir Kautskys historischer Untersuchung machten: dass er ihn völlig außer acht ließ, bleibt also im vollen Umfang bestehen. Zweitens glaubt Kautsky einen Gegensatz zwischen uns in der Frage der Organisationskämpfe aufstellen zu können in dem Sinne, dass er nur von siegreichen Kämpfen etwas wissen will, wir aber gleichgültig dagegen seien, ob sie Siege oder Niederlagen bringen. Dass das Unsinn ist, versteht jedermann. Man kämpft nur – außer ausnahmsweise in Zwangslagen –, wenn man mit Gewinn und Sieg rechnet. Kann aber Kautsky in diesen Fällen auch den Sieg garantieren? Wenn nicht, so wäre, wenn er Niederlagen wegen ihrer schlimmen Folgen unbedingt vermeiden will, die Konsequenz, vor jedem Kampfe zurückzuschrecken. Ich habe demgegenüber hervorgehoben, dass vernichtende Niederlagen bei hoch entwickelter Organisation nicht oder kaum möglich sind vorausgesetzt natürlich, dass man nicht blindlings drauflos schlägt, sondern dann und derart kämpft, wie Notwendigkeit und Aussicht auf Erfolg gebieten. Wann das ist, darüber mögen graduelle Unterschiede zwischen uns bestehen; aber nicht wir, die wir theoretisch darüber diskutieren, sondern andere, die Massen und die Organisationsleiter, entscheiden praktisch darüber.

Drittens noch eine Bemerkung über die Eroberung der politischen Macht. Auf die Frage, wie das Proletariat die Herrschaft erobern kann, und ob diese Eroberung möglich ist, ohne dass die Machtmittel der Staatsgewalt, die die herrschende Klasse dann anwendet, dabei gebrochen werden, geht Kautsky mit keinem Worte ein. Er sucht nicht nachzuweisen, dass meine Darlegungen und Anschauungen unrichtig sind; er sucht sie nur mit einem Namen zu belegen, der den Parteigenossen unsympathisch ist und dadurch ihre Voreingenommenheit weckt. Hat er aber recht, dass diese Anschauungen syndikalistisch sind, um so besser für den Syndikalismus. Wenn Kautsky die Richtigkeit meiner Ausführungen nicht anfechten kann, sie aber, um sie zu diskreditieren, als syndikalistisch bezeichnet, so liefert er im Grunde nur ein Plädoyer für den Syndikalismus. Es hieße den Lesern der Neuen Zeit, die meine Ausführungen, auch die Zurückweisung in der Leipziger Volkszeitung, gelesen haben, allzu viel Gedankenlosigkeit zumuten, wollte ich mich ernsthaft dagegen wehren; muss doch Kautsky selbst meine „Inkonsequenz“ hervorheben, dass meine Stellung zum Parlamentarismus derjenigen der Syndikalisten völlig entgegengesetzt ist. Wer sich näher dafür interessiert, den muss ich auf meine Schrift „Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung verweisen.

Gegen mein kleines Zitat von Engels führt Kautsky eine ganze Reihe anderer Zitate auf. Ich habe in meinen Artikeln fast keine Zitate von Marx und Engels gebracht; wer die neue Wissenschaft, die sie uns gebracht haben, völlig in sich aufgenommen hat, der braucht nicht immerfort mit Zitaten aus ihren Werken zu beweisen, dass er in ihren Fußstapfen wandert. Und er kann es nicht, wenn es sich um Fragen handelt, die in dieser Gestalt damals, als sie schrieben, der Sozialdemokratie noch nicht vorlagen. Ich führte Engels nur an, um zu zeigen, wie er für eine solche Staatsfrömmigkeit, wie sie in Kautskys Einwänden zutage trat, nur Spott übrig hatte. Demgegenüber führt nun Kautsky Marx selbst an. Er hätte nichts Besseres tun können, um den Unterschied unserer Methoden und Anschauungen in ein klares Licht zu setzen. Er beruft sich auf die Vorschläge, die Marx 1847 im Kommunistischen Manifest machte, zu deren Durchführung eine starke Staatsgewalt nötig wäre. Besteht darin aber der Marxismus, dass man auf die besonderen praktischen Vorschläge schwört, die Marx unter ganz anderen Verhältnissen machte, zu einer Zeit, als von einer proletarischen Massenbewegung noch keine Rede war? Gewiss, so wie ich die Entwicklung der sozialen Revolution darstelle, findet man sie nicht bei Marx und Engels, aus dem einfachen Grunde, weil sie die moderne Erscheinung einer stets wachsenden proletarischen Massenorganisation mit sozialistischem Geiste aus eigener Anschauung nie gekannt haben; und diese Erscheinung muss den Verlauf der Revolution und unsere Vorstellungen über sie gewaltig beeinflussen. Im Jahre 1847 war die proletarische Revolution nur denkbar als die Diktatur einer Minderheitsgruppe, die die Zwangsgewalt des Staates für die Arbeiterklasse anwendet. Heute sehen wir, dass jene Revolution nur als Auflehnung und Selbstherrschaft der großen Masse möglich ist. In dieser neuen Erscheinung wurzelt die von mir entwickelte Anschauung; ich untersuchte, welche Bedeutung sie für die soziale Revolution hat. Wenn Kautsky sich demgegenüber an die Buchstaben von Marx’ Vorschlägen aus 1847 hält, so ist das kein Marxismus, sondern eher sein direktes Gegenteil.

Schließlich noch eine Bemerkung. Kautsky fürchtet, von Massenaktionen könne am wenigsten was kommen, wenn ihre theoretischen Befürworter sich mit anderen Genossen entzweien. Aber Massenaktionen entstehen doch nicht dadurch, dass Theoretiker sich über ihre Bedeutung einigen und beschließen, dass es losgehen kann. Sie kommen empor aus der Notwendigkeit der Lage, durch das unmittelbare Empfinden der Massen, mögen wir sie wünschen oder nicht. Von unseren Diskussionen hängt nur ab, ob sie, statt instinktiv, mit klarem Bewusstsein ihres Wesens durchgeführt werden.


Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019