Anton Pannekoek

 

Die Teilung der Beute

(1918)


Quelle: A. Pannekoek, Die Teilung der Beute, Rückübersetzt aus dem Russischen von V. Kischka, Herausgegeben von der Deutschen Gruppe in der russischen kommunistischen Partei (Bolschewiki), Moskau, 1918.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


 

Sobald die Arbeiter irgend eines Betriebes ihre Lage durch Kampf mit ihrem Arbeitgeber verbessern wollen, merken sie sofort, daß ihr Arbeitgeber nicht allein ist. Und je hartnäckiger die Arbeiter kämpfen, desto schwerer wird auch ihr Kampf, weil ihrem Arbeitgeber die ganze Klasse von Arbeitgeberkapitalisten zu Hilfe eilt. Und nicht nur die Fabrikanten desselben Industriezweiges helfen ihm, – für diese, freilich, wird es sehr unvorteilhaft sein, wenn die Arbeiter auch nur in einer Fabrik von gleicher Branche bessere Arbeitsbedingungen erzielen – nein, die Klassensolidarität der Kapitalisten geht bedeutend weiter und zieht einen viel größeren Kreis von Kapitalisten in eine enge Verbindung zusammen. Wir brauchen unser Augenmerk nur auf die großen Streiks oder einen der alltäglichen Konflikte zwischen den organisierten Arbeitern einer Gewerkschaft und den Kapitalisten zu werfen und wir werden sehen, wie sich alle Arbeitgeber und Kapitalisten mit ihren Handlangern zusammen auf die „dreisten“ Arbeiter werfen. Noch deutlicher tritt diese Solidarität der Bourgeoisie hervor, wo es sich nicht um wirtschaftlichen, sondern um politischen Kampf handelt: die Arbeiterklasse wird in ihrem Kampfe für die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung von keiner Seite unterstützt; alle anderen gesellschaftlichen Klassen, wie sie sich auch gegenseitig bekämpfen mögen, werden stets geschlossen und einmütig gegen unser Endziel – den Sozialismus – kämpfen.

Die Ursache dazu ist leicht zu begreifen. Alle diese Klassen, nicht zugezählt freilich das Kleinbauerntum und Handwerkertum, welche nur dem Scheine nach selbständig, in der Tat aber von den Kapitalisten ebenso ausgebeutet werden, wie die Arbeiter, also halbproletarische Schichten sind, – sie alle nehmen Anteil an der Ausbeutung der Proletarier, folglich ist es für sie alle auch wichtig, daß die Ausbeutung bestehen bleibt.

Wenn wir es uns genau überlegen, so wird es uns klar, daß der Arbeiter nicht von einem, sondern von der ganzen Klasse von Kapitalisten ausgebeutet wird. Denn der Fabrikant kann nicht den ganzen Mehrwert in die Tasche stecken, d. h. nicht den ganzen Unterschied zwischen dem Wert der Ware, vom Arbeiter erzeugt, und dem, was den Wert der Lebensbedürfnisse für den Arbeiter, oder was den Wert seines Arbeitslohnes ausmacht. Der Fabrikant muß von seinem Gewinn einen Teil den Bankiers und Geldwucherern abgeben, die ihm zur Errichtung und Führung der Fabrik das Geld gegeben; bei Aktienunternehmungen stecken diese Herren als Aktionäre den Löwenanteil ein, dem Leiter des Unternehmens aber geben sie nur ein – freilich bei weitem kein bettelhaftes – Direktionsgehalt. Ein weiterer Teil vom Gewinn kommt den Grundeigentümern zu, die für die Pacht eines kleinen Grundstückes, auf dem die Fabrik errichtet, oft Riesensummen verlangen. Ferner geht ein Teil vom Gewinn in Form von Steuern in die Staatskasse, aus der wieder die Beamte, Offiziere, Minister usw. unterhalten werden. Und endlich bekommen die Kaufleute einen Teil vom Mehrwert, die den Lieferanten die Waren stellen. Dann alle Zwischenhändler, durch deren Hände die Ware hindurch geht, ehe sie zum Konsumenten kommt – sie wollen auch verdienen und erhöhen zu dem Zweck den Preis der Ware. Danach müssen die Arbeiter beim Kauf von Lebensmitteln für sich weit mehr bezahlen, als die Fabrikanten für diese Produkte bekommen haben.

Wenn also beispielsweise der Wert, der in einer Fabrik in einem Jahre erzeugten Waren, pro Kopf eines jeden Arbeiters durchschnittlich 1.500 Mark ausmacht, der Arbeitslohn aber für jeden Arbeiter durchschnittlich 1.000 Mark betragt, so wird der Mehrwert nicht gleich 500 Mark sein, wie das auf den ersten Blick erscheint; man muß nämlich in Betracht ziehen, daß in diesen 1.000 Mark, die der Arbeiter auf die Hand bekommt, ebenfalls ein erheblicher Teil Mehrwert steckt. Ziemliche Einnahme hat seinerseits der Hauseigentümer vom Arbeiter – ohne jegliche Mühe – in Form von Hausmiete. Beim Einkauf von ihm benötigten Produkten gibt der Arbeiter seinen Verdienst den zahlreichen Händlern dieser Produkte und zahlt Steuern in die Staatskasse. Ein erheblicher Teil geht durch die Zahlung fürs Brot und Fleischwaren seitens des Arbeiters in die Taschen des Großgrundbesitzers und Viehzüchters. Auf diese Weise nehmen vom Arbeitslohn des Arbeiters ein gut Teil andere Klassen für sich.

Das kann man noch anders zeigen. Alle Produkte – Maschinen, Arbeitsbänke, Bauten sowie alle Gebrauchsgegenstände und Luxusartikel – werden von der ganzen Arbeiterklasse erzeugt; und diese Produkte befriedigen die Bedürfnisse aller Menschen. Aber nur ein Teil dieser Produkte deckt die Bedürfnisse der Arbeiterklasse selbst; der übrige, weit größere Teil, bildet die ganze Summe des Mehrwerts. Diesen Teil eignen sich alle anderen Klassen der Bevölkerung an, er befriedigt ihre Bedürfnisse oder wird weiter verwertet. Was vom Fabrikarbeiter, Tagelöhner, Kleinbauer durch harte Arbeitsmühe erzeugt wird, ernährt und erhält die ganze übrige Bevölkerung: Fabrikanten, Großgrundbesitzer, Großkaufleute, Hausbesitzer, Ladeninhaber, Minister, Generäle, Richter, Advokaten, Professoren und Studenten – sie alle leben vom Arbeitsfleiß der Arbeiter. Von den Früchten ihrer Arbeit lebt die ganze vermögende Klasse, und auch alle die arbeitsfähigen Leute, die sich diese Klasse zu eigener Bedienung, zum eigenen Vergnügen und zum Schutze der eigenen Sicherheit hält, – wie: Dienerschaft, Schauspieler, Künstler, Polizei und Militär. Alle diese Leute sind der Produktion entzogen und leben also ebenfalls vom Mehrwert. Alles das, was auf diese Weise der Arbeiterklasse genommen wird, bildet auch jene Beute, die sie unter sich teilen und die die Kapitalisten von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr sich aneignen.

Diese Teilung geht teils mechanisch auf Grund der Gesetze der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung vor sich; teils aber gibt diese Teilung der Beute den Grund zum Streit zwischen den Klassen ab, die an der Ausbeutung der Arbeiter teilnehmen.

Die natürlichen, unwandelbaren Gesetze der kapitalistischen Ordnung, nach denen die Teilung der Beute erfolgt, erscheinen als die Gesetze der Konkurrenz.

Der Gesetze sind zwei. Das erste besteht darin, daß ein und dieselbe Ware ein und denselben Wert hat, unabhängig davon, wo sie erzeugt wird: ob in einer modern eingerichteten Fabrik oder in einer Werkstatt mit primitiven Arbeitsmitteln. Das zweite Gesetz besteht darin, daß das Kapital den gleichen Gewinn bringt in was für Unternehmen und für die Herstellung von was für Art von Waren es auch immer verwertet wird.

Das erste Gesetz zwingt die Unternehmer unermüdlich nach der Erhöhung der Leistungsfähigkeit ihres Betriebes zu trachten. Wer darin seine Konkurrenten überholt, kann seine Waren weit billiger verkaufen als diese, wenn er sich mit der Größe des Gewinnes von früher begnügen will. Aber der Kapitalist verfährt anders: er verkauft die Ware nur um ein Weniges billiger und bekommt dank dessen noch einen Gewinnüberschuß, um den er seine Konkurrenten überholt hat, die ihre Ware billiger zu verkaufen und ein Teil ihres Gewinnes zu verlieren gezwungen sind. Diejenigen Kapitalisten, deren Leistungsfähigkeit des Betriebes einer gegebenen Branche unter dem Durchschnitt steht, bekommen einen kleineren Teil; diejenigen aber, bei denen die Leistungsfähigkeit des Betriebes über dem Durchschnitt steht, bekommen einen größeren Teil des allgemeinen Mehrwertes, der von allen in diesen Betrieben beschäftigten Arbeitern geschaffen wird. Dieses einfache Gesetz erscheint als die Grundursache der kapitalistischen Entwicklung, die wir im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu beobachten Gelegenheit hatten.

Dieses Gesetz ruft den Wettstreit in der Vervollkommnung der Maschinen und in der Verbesserung auf dem Gebiete der Technik und des Handels hervor. Der Sieger im Wettstreit bekommt in Form eines Gewinnüberschusses einen Extraprofit, der Besiegte aber verliert einen Teil, ja oft sogar den ganzen Gewinn, was gleichbedeutend mit seinem Ruin ist. Die heftige Konkurrenz, die die Kapitalisten ununterbrochen in Atem hält und sie nur selten verschnaufen läßt, – sie veranlaßt auch den Kampf unter den Kapitalisten wegen der Teilung der Beute.

Es ist klar, daß bei solcher Lage der Dinge die Kapitalisten zum energischen Kampf gegen die Forderungen der Arbeiter gezwungen sind, weil die Bewilligung dieser Forderungen sie im Kampfe mit der Konkurrenz schwächen könnte.

Jetzt wird uns auch die ganze Albernheit jener Einwendungen klar, die sie unserer Kritik der gegenwärtigen Ordnung entgegenzusetzen versuchen. Denn, sagt man, der Kapitalist arbeitet auch, und öfters sogar mehr als der Arbeiter. Nun, wir wissen aber schon, daß die Arbeit des Kapitalisten und die des Arbeiters ihrem Wesen nach verschieden sind. Die Arbeit des Arbeiters schafft Produkte, notwendig und nützlich für die gesamte Bevölkerung und den größten Teil dieser Produkte behält die Bourgeoisie für sich. Die Arbeit des Kapitalisten besteht bloß darin, von dieser den Arbeitern genommenen Beute einen möglichst großen Teil für sich selbst zu erhaschen. Seine Arbeit ist also gleich der Anstrengung der Diebe, die miteinander zanken und streiten, um von der allgemeinen Beute ein möglichst großes Stück zu bekommen.

Das zweite Gesetz der Konkurrenz ist ebenso leicht zu begreifen. Das Kapital sucht immer den größten Gewinn; wenn in irgend einem Zweige der Produktion durchschnittlich ein größerer Gewinn zu erzielen ist als im anderen, so stießen die Kapitalien sofort diesem Zweige zu, und unter dem Drucke der Konkurrenz zwischen den Kapitalien sinkt der Gewinn in diesem Produktionszweig.

Von den Unternehmungen aber, wo der Gewinn sehr niedrig, fließen die Kapitalien so lange ab, bis sich der Wert der in diesem Zweige erzeugten Waren erhöht und der Gewinn demzufolge sich vermehrt. Auf diese Weise ergibt sich für alle Zweige der Produktion ein gleichmäßiger Gewinn. In denjenigen Unternehmungen, wo bei großen Kapitalien wenig Arbeitskräfte erforderlich sind und folglicherweise sich wenig Mehrwert bildet, wird der normale Gewinn durch Erhöhung der Preise über den wirklichen Wert hinaus erzielt. Aus all dem Gesagten kann man sich leicht überzeugen, daß der Mehrwert nicht von einzelnen Arbeitern für einzelne Kapitalisten, sondern von allen Arbeitern für die ganze Klasse von Kapitalisten hervorgebracht wird. Diese Herren teilen unter sich den ganzen Mehrwert, wobei nicht die Menge der in den einzelnen Fabriken der einzelnen Kapitalisten erzeugten Produkte, sondern die Menge des Kapitals maßgebend ist, die der einzelne Kapitalist in die gemeinsame Sache der Ausbeutung gesteckt.

Darin ist auch der Grund zu finden, daß die Forderungen der Arbeiter in einem bestimmten Zweige der Produktion nicht nur die Interessen der Fabrikanten desselben Zweiges, sondern die Interessen der ganzen Klasse von Kapitalisten berühren. Nehmen wir an, daß die Zimmerer in einer Stadt eine Lohnerhöhung bekommen haben. Was nun? Wird der Unternehmer von Zimmerarbeiten für seine Arbeit den alten Preis verlangen und sich mit weniger Gewinn zufrieden geben? Keineswegs: er wird den Verlust sofort durch Erhöhung des Preises für Zimmerarbeiten wieder ausgleichen. Dann wird jeder Kapitalist, Fabrikant oder Geschäftsmann für die Aufführung eines Baues mehr als früher bezahlen müssen.

Und dadurch wird ihr Verhältnis zum Gewerkschaftskampf der Arbeiter bestimmt: sie werden sich über die „unverschämten“ Forderungen der Arbeiter entrüsten, nicht dadurch, weil sie in anbetracht des engen Freundschaftsverhältnisses mit dem Zimmerermeister, mit dem sie manche fröhliche Stunden beim Glase Wein verlebt hatten, den Arbeitern feindlich gegenüberstehen, – nein, sondern sie zeigen es offen, daß sie die Arbeiter hassen, weil deren Forderungen sich gegen ihren Geldbeutel richten.

Diese gemeinsame Normierung des Gewinnes in den einzelnen Zweigen der Produktion ist auch der Grund ihrer Klassensolidarität, die die ganze Kapitalistenklasse zum einmütigen Kampf sogar gegen jene Forderungen der Arbeiter anspornt, die nicht gegen die Existenz des Kapitalismus selbst sich richten. Jeder Kapitalist berechnet ganz richtig, daß jede Erhöhung des Teiles der Arbeiter seinen eigenen Teil vermindert. Was auch die Beweggründe der Kapitalisten sein mögen, mit Gerechtigkeit haben sie wenig gemein. Weil, wenn die Arbeiter eine Vergrößerung ihres Teiles fordern, so bedeutet das nicht, daß die Einkünfte des Kapitals sich vermindern; das bedeutet nur, daß der Gewinn, der infolge der Verbesserung der Arbeitsmittel und Methoden sich jährlich ungeheuer erhöht, nicht gänzlich in die Taschen der Kapitalisten geht, daß ein winzig Teil davon den Arbeitern zur Verbesserung ihrer Tage zugute kommt. Dieses Entgegenwirken allen und jeden Forderungen der Arbeiter seitens der Kapitalisten hat allein in deren Profitgier seine Erklärung.

Die Teilung der Beute – d. h. die Beute – von den besitzenden Klassen der Arbeiterklasse weggenommen wird, erzeugt unter den herrschenden Klassen stets einen politischen Kampf.

Solange der Ausbeutung selbst keine Gefahr droht und solange die der Teilung unterliegende Beute als natürlich scheint, dreht sich die ganze Politik um die Frage, wie groß der Anteil an der Beute für jede der besitzenden Klassen sein soll. Denn die Zunahme an politischer Macht und deren Verteidigung hat für eine Klasse nur insoweit eine Bedeutung, als sie, die Klasse, mit Hilfe ihrer Macht ihre materiellen Interessen beschützen kann.

Mit dem Erscheinen des Proletariats auf der Arena des politischen Kampfes aber ändert sich die Lage vollständig. Die Verteidigung der Beute, mit vereinten Kräften, erscheint für die besitzenden Klassen jetzt als die erste und wichtigste Aufgabe ihrer Politik. In dem Maße, wie das gemeinsame Interesse an der Sicherung der Beute deutlicher als der Streit bei ihrer Teilung selbst hervortritt, tritt alle Uneinigkeit unter den bürgerlichen Parteien vor der Notwendigkeit für sie, sich in eine reaktionäre Masse zusammenzutun, in den Hintergrund. Freilich, ihre gegenseitige Bekämpfung hört darum nicht auf; solange was zu teilen ist, wird auch der Streit wegen dieser Teilung fortdauern. Aber jetzt, wo das Proletariat die Ausbeutung selbst zu vernichten droht, hat dieser Streit einen völlig anderen Charakter angenommen.

Wenn wir den Kampf der verschiedenen herrschenden Klassen unter sich in reinster Form kennenlernen wollen, müssen wir den versteckten Ursachen der Rivalität der bürgerlichen Parteien auf den Grund gehen. Wir müssen da bei England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweilen, wo damals der Kapitalismus in der Tat entwickelt war, aber es noch keine sozialistische Bewegung gab.

Damals führten in England zwei Klassen den Kampf um einen Teil von Mehrwert: die Klasse der Geldkapitalisten und die Grundbesitzer. Einen besonders heftigen Kampf mußten die industriellen Kapitalisten wegen der Teilung der Beute mit den Grundbesitzern führen. Daß der Kapitalist einen Teil von Mehrwert dem Geldwucherer, der ihn mit Geld versieht, überlassen muß, empört ihn nicht so sehr, weil eben sein eigener Gewinn ihm als Produkt des in das Unternehmen gesteckten Kapitals erscheint. Aber der Tribut, den ihm der Grundbesitzer auferlegt, scheint ihm als völlig ungerecht. Da es ihm scheint, daß nur das Kapital Gewinn bringt und dieser Gewinn sich durch die Zahlung der Pacht an den Grundbesitzer verringert, so betrachtet er diesen für einen Nichtstuer und „Faulenzer“, für einen Parasiten der „arbeitsamen“ industriellen Bourgeoisie. Daher ist es auch begreiflich, daß die „Bodenreform“, d. h. die Übergabe des Eigentums an Grund und Boden an den Staat, oder mit anderen Worten, die Vernichtung dieser Klasse von Faulenzern – damals große Sympathien genoß. Diese Idee fand freilich auch außerhalb Englands Anklang und in Deutschland hat sie heute in einigen Einfälligen Verteidiger, während die breiten Schichten der Bourgeoisie ihr vollständig abhold sind. Über die Ursachen dieser Veränderung werden wir gleich sprechen.

Damals hatten die englischen Grundbesitzer, wie heute auch die deutschen, ihren Zins in Form von Preisen auf Brot bekommen, die infolge der Getreidezölle künstlich erhöht wurden. Um die Vernichtung dieser Zölle entspann sich in den Jahren 1830-1840 zwischen den Liberalen und Fabrikanten einerseits und den Konservativen, Partei der Grundbesitzer, anderseits ein heftiger Kampf; wie bekannt, gingen aus diesem Kampfe die Fabrikanten als Sieger hervor. Es war klar zu sehen, daß dieser Kampf nicht die Interessen der Arbeiterklasse berührt; die Arbeiter wußten es zu genau, und die Fabrikanten machten auch kein Hehl daraus, daß mit der Aufhebung dieser Zölle der Arbeitslohn sofort entsprechend sinkt. Für die Arbeiter selbst war dadurch nichts gewonnen, weil die ganze Streitfrage bloß zu folgendem führte: in einem Falle, bei billigem Brot, d. h. bei niedrigem Arbeitslohn, mußte der Gewinn des Fabrikanten sich erhöhen; in anderem Falle, bei teurem Brot, d. h. bei hohem Arbeitslohn, hätten die Einkünfte an Pachtzins für den Grundbesitzer sich erhöht. Dieser Kampf zweier ausbeutenden Klassen konnte furchtlos geführt werden, weil keinem einfallen konnte, daß der Beute selbst, um deren Teilung sie stritten, irgendwelche Gefahr droht. Obwohl die Arbeiterklasse damals sich schon organisierte und den Kampf für politische Rechte und den zehnstündigen Arbeitstag führte, doch in ihre „Charte“, in ihr politisches Programm, nahm sie keine sozialistische Forderungen auf.

Auf wessen Grund können die Grundbesitzer den industriellen Kapitalisten Tribut auferlegen? Nur weil das Eigentum an Grund und Boden in ihren Händen sich befindet.

Der Grund und Boden ist nur in beschränkter Menge vorhanden; das ist ihr Monopol. Wenn jemand in der Stadt eine Fabrik bauen lassen will, ist er für ein kleines Grundstück gewöhnlich einen horrenden Preis zu zahlen gezwungen, weil er das Grundstück braucht und nirgends mehr bekommen kann. Solange die Anbaufläche für Roggen und Weizen eine beschränkte ist, brauchen sie keine Konkurrenz zu fürchten, sie können für ihr Getreide einen beliebigen Preis verlangen, wodurch ihnen ein angemessenes Einkommen gesichert wird, – ganz gleich, ob sie die Wirtschaft selbst führen oder sie durch Farmer führen lassen, denen sie Boden für hohen Zins in Pacht geben.

Die Herkunft der Bodenrente zeigt uns, wo die verwundbare Stelle des Gedeihens der Grundbesitzer sitzt. Ihr Monopol kann vernichtet werden, und ist durch die Konkurrenz des amerikanischen Korns teils schon vernichtet. Jenseits des Ozeans wurden ungeheure Flachen fruchtbarsten Bodens umgeackert, die bei geringem Aufwand von Arbeit reiche Ernte zu geben begannen; mit der Vervollkommnung des Schiffverkehrs war es dann gegeben, dieses Getreide auch in Europa billig zu verkaufen. Die europäischen Gutsbesitzer konnten die Brotpreise nicht mehr frei diktieren und der Industrie Tribut auferlegen. In den dicht bevölkerten Ländern Europas hat der Getreideanbau infolgedessen an Rentabilität verloren und man ging zum Anbau anderer Pflanzen über, oder man versuchte die Produktionskosten durch Vervollkommnung in der Landwirtschaft zu vermindern. Aber die preußischen Gutsbesitzer hatten einen anderen Ausweg gefunden: indem sie ihre politische Macht ausnutzen, halten sie ihr Monopol vermittels der Getreidezölle fest.

Wäre die politische Lage Deutschlands heute ähnlich der Englands in den Vierzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts, würde zwischen den Großagrariern und Industriellen zweifellos ein heftiger politischer Kampf entbrennen. Da aber auf der Schaubühne des politischen Kampfes unter der Fahne der Sozialdemokratie das Proletariat erschien, hat sich die Lage ganz wesentlich verändert. Der Kampf zwischen den ausbeutenden Klassen wegen der Teilung der Beute mußte gegenüber dem für sie weit wichtigeren Kampfe um die Erhaltung der Ausbeutung selbst in den Hintergrund treten. Diese Situation ermöglichte nicht nur die Einführung der Getreidezölle im Jahre 1878, sondern sich zusehends verschärfend, hat zu dem empörenden Brotwucher und der Spekulation geführt, die heute in voller Blüte sind.

Während in England damals wegen der Kornzölle zwischen der Bourgeoisie und den Grundbesitzern ein heftiger Kampf tobte, kämpfen in Deutschland diese beiden Klassen heute vereint gegen das Proletariat. Die liberale Bourgeoisie erhebt sich nicht mehr dagegen, daß die Agrarier ihren Gewinn schmälern, weil das Proletariat mit der Vernichtung des Gewinns droht. Das Proletariat ist heute der gefährlichste Feind; und um diesen Feind zu unterdrücken, bedienen sich die Kapitalisten gern der hochmütigen deutschen Grundbesitzer, die als die Pretonianergarde der deutschen besitzenden Klasse auftreten. Heute ist bei der Bourgeoisie nicht mehr Mode von der Schädlichkeit des Privateigentums an Grund und Boden zu sprechen; heute werden die Grundbesitzer von den Kapitalisten nicht mehr als „Faulenzer“ und „Drohnen“ charakterisiert, weil sie beide vortreffliche „Ausbeutungsgenossen“ sind. Der Sozialismus erklärt auch die Herren Kapitalisten selbst als Parasiten am Körper des arbeitenden Volkes; wie könnten diese sich dann über die Faulenzerei der Grundbesitzer entrüsten? Darin hat auch der Umstand seine Erklärung, daß die deutsche liberale, Bourgeoisie gegen den Brotwucher nicht nur nicht kämpft, sondern denselben sogar unterstützt.

Aber dessenungeachtet will die Bourgeoisie von ihrem Profit den Grundbesitzern nichts abgeben. Während in England bei billigem Brot der Arbeitslohn niedrig, bei teurem hoch war, und demzufolge die Kornzölle die Arbeiter nicht interessierten, steht die Sache in Deutschland heute gänzlich anders. Die Fabrikanten denken den Arbeitslohn, entsprechend den gesteigerten Brotpreisen, nicht nur nicht zu erhöhen, ja treten sogar gegen die Organisationen der Arbeiter in ihrem Kampfe für die Verbilligung des Brotes auf. Die Bourgeoisie will die Grundbesitzer nicht aus eigener Tasche, sondern aus der Tasche der Arbeiter entschädigen. Daß die Agrarier sich bereichern, das braucht den Profit der Kapitalisten darum nicht zu schmälern; es braucht nur das Maß der Beute, von der Arbeiterklasse geraubt, entsprechend vergrößert zu werden. Augenscheinlich lassen die Kapitalisten sich von dem Bibelworte leiten:

„Dem Reichen wird gegeben, aber dem Armen wird auch das genommen, was er hat.“

Freilich, gänzlich ohne Verlust gehts für die industrielle Bourgeoisie nicht ab: die Kapitalisten müssen zum Wohle der Kapitalisten ein geringes Opfer bringen. Wie in einer belagerten Festung die Militärdiktatur den Bewohnern einige Ungelegenheiten verursacht, genau so muß auch die Bourgeoisie sich in der von der Arbeiterklasse umzingelten Festung des Kapitalismus mit der Herrschaft der Grundbesitzer versöhnen. Aber das hilft ihr nichts. Gerade der Heißhunger, der sie zwingt, die Dienste der Grundbesitzer nicht aus dem eigenen, sondern aus dem Beutel der Arbeiterklasse zu belohnen, – gerade dieser Heißhunger wird sie ins Verderben stürzen.

Indem sie ihre Herrschaft befestigen will, versetzt sie derselben den Todesstoß.

Indem sie sich Beschützer dingen, schaffen sich die Kapitalisten Millionen neue erbitterte Feinde.

Es gibt kein schlechteres Mittel zur Bewahrung der Ausbeutung, als dasjenige, welches die Ausbeutung vergrößert. Schon der Umstand allein, daß die Kapitalisten aus Mangel an politischer Klugheit das nicht begreifen, schon das allein zeigt der Arbeiterklasse, daß ihr Kampf Erfolg hat.

Also die Teilung der Beute der herrschenden Klassen unter sich ist über das Stadium ihrer gegenseitigen Kämpfe wegen dieser Teilung hinaus und führte zum Übereinkommen zwecks Vergrößerung der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Und das muß notwendigerweise den Sturz jener Ordnung herbeiführen, unter der die Ausbeutung herrscht.


Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019