Anton Pannekoek

 

Partei und Arbeiterklasse

(März 1936)


Aus: Rätekorrespondenz, Heft 15, März 1936.
Abgedruckt in Partei und Revolution, West-Berlin, Kramer Verlag, 1971, S. 70–6.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.



Wir sehen erst die allerersten Anfänge einer neuen Arbeiterbewegung emporkommen; die alte Bewegung ist verkörpert in Parteien; der Glaube an die Partei ist das schwerste Hemmnis, das die Arbeiterklasse jetzt machtlos macht. Daher vermeiden wir es, eine neue Partei zu bilden; nicht, weil wir zu wenig sind – jede Partei mußte klein anfangen – sondern weil eine Partei jetzt eine Organisation bedeutet, die die Arbeiterklasse führen und beherrschen will. Demgegenüber stellen wir das Prinzip: die Arbeiterklasse wird nur emporkommen und siegen können, wenn sie selbst ihre Geschicke in die Hand nimmt. Die Arbeiter sollen nicht gläubig die Losungen eines Anderen, einer Gruppe übernehmen, auch nicht die unsrigen, sondern selbst denken, selbst handeln, selbst entschließen. Daher betrachten wir als ihr natürliches Organ zur Aufklärung in dieser Zeit des Übergangs die Arbeitsgruppen, die sich selbst bildenden, ihren Weg selbst suchenden Studien- und Diskussionsorganisationen.

Diese Anschauung steht im schärfsten Widerspruch zu den überlieferten Auffassungen über die Rolle der Partei als wichtigstes Organ zur Aufklärung des Proletariats. Daher stößt sie in vielen Kreisen, die von der sozialistischen oder kommunistischen Partei nichts mehr wissen wollen, auf Widerstand und Ablehnung. Teilweise ist das die Macht der Tradition; wenn man immer den Arbeiterkampf als Parteikampf und Kampf der Parteien betrachtet hat, ist es sehr schwer, die Welt vom Gesichtspunkt der Klasse allein und des Klassenkampfes zu sehen. Aber teilweise steckt darin auch das Bewußtsein, daß trotz alledem die Partei eine wesentliche und wichtige Rolle in dem Befreiungskampf des Proletariats zu spielen hat. Diese wollen wir jetzt näher betrachten.

Der Unterschied, um den es sich hier handelt, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: eine Partei ist eine Gruppierung nach Anschauungen, eine Klasse ist eine Gruppierung nach Interessen. Die Klassenangehörigkeit wird bestimmt durch die Rolle im Produktionsprozeß, die bestimmte Interessen mit sich bringt. Die Parteiangehörigkeit beruht auf dem Zusammenschluß von Personen, die die gleichen Ansichten über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen hegen.

Früher hat man geglaubt, aus theoretischen und praktischen Gründen, daß dieser Gegensatz verschwinden werde in der Klassenpartei, der „ArbeiterPartei“. Während des Emporkommens der Sozial-Demokratie schien es, als ob diese Partei allmählich die ganze Arbeiterklasse umfassen sollte, teils als Mitglieder, teils als Mitläufer. Und weil die Theorie besagte, daß gleiche Interessen notwendig gleiche Ansichten und gleiche Ziele bewirken müssen, müßte der Unterschied zwischen Klasse und Partei stets mehr verschwinden. Die geschichtliche Entwicklung hat dann ganz andere Dinge gezeigt. Die Sozialdemokratie blieb eine Minderheit, andere Arbeitergruppen organisierten sich gegen sie, Teile spalteten sich ab, ihr eigener Charakter änderte sich, ihre Programmpunkte wurden revidiert oder bekamen eine andere Bedeutung. Die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich nicht nach einer glatten Linie, sondern in Kämpfen und Gegensätzen. Mit dem Wachstum des Arbeiterkampfes wächst auch die Macht des Gegners und wirft immer wieder neue Unsicherheit und Zweifel in die Herzen der Kämpfer, welchen Weg sie zu wählen haben. Und jeder Zweifel bewirkt Spaltungen, innere Gegensätze und Richtungskämpfe innerhalb der Arbeiterbewegung.

Man soll diese Spaltungen und Richtungskämpfe nicht einfach bejammern als etwas Schädliches, das nicht sein sollte und die Arbeiter machtlos hält. Es ist schon oft in diesen Schriften gesagt worden: die Arbeiterklasse ist nicht schwach weil sie innerlich gespalten ist, sondern sie ist innerlich gespalten weil sie schwach ist. Weil die Macht des Gegners gewaltig ist und die alten Mittel gegen ihn sich unfähig zeigten, deshalb muß die Arbeiterklasse sich ihre neuen Wege suchen. Was sie zu tun hat, kann nicht als eine Erleuchtung von oben kommen; sie muß es sich in schwerer Arbeit, in Denkarbeit, im Zwiespalt entgegengesetzter Meinungen, im harten Meinungskampf erringen. Selbst muß sie den Weg suchen, und dazu dient der innere Kampf. Sie muß alte Gedanken und Illusionen aufgeben und neue Wege finden; und weil das jetzt gerade so schwer ist, deshalb ist die Spaltung so groß.

Man soll auch nicht die Illusion haben, daß diese scharfen Partei- und Meinungskämpfe nur für diese Übergangszeit natürlich sind und nachher in einer großen Einheit verschwinden werden. Gewiß, in der Entwicklung des Klassenkampfes kommen Zeiten vor, daß auf einmal alle Kräfte sich auf einen großen erreichbaren Erfolg konzentrieren, und die Revolution von einer mächtigen Einheit getragen wird. Aber dann, wie nach jedem Sieg, kommen sofort die Differenzen über die weiteren Ziele. Auch wenn die Arbeiterklasse siegreich ist, steht sie immer wieder vor den schwierigsten Aufgaben, die Gegner weiter niederzuwerfen, die Produktion aufzubauen, neue Ordnung zu schaffen. Es ist unmöglich, daß dabei alle Arbeiter, alle Schichten und Gruppen mit ihren oft noch verschiedenen Interessen dabei ganz dasselbe denken und fühlen, und sofort von selbst einmütig sind in dem weiteren Handeln. Gerade weil sie Menschen sind, die es selbst machen müssen, die selbst ihren Weg finden müssen, werden die schärfsten Meinungsverschiedenheiten auftreten, die sich gegenseitig bekämpfen, und dadurch erst die Gedanken zu Klarheit bringen können.

Wenn dabei nun die Personen mit gleichen Grundanschauungen sich zusammentun, zur Besprechung der praktischen Möglichkeiten, zur Klärung durch Diskussionen, zur Propaganda ihrer Ansichten, dann kann man solche Gruppen auch Parteien nennen. Der Name ist gleichgültig; das Wesentliche ist, daß in der Sache diese Parteien eine ganz andere Rolle haben als was die Parteien von heute für sich beanspruchen. Die Tat, das Handeln, der materielle Kampf ist die Sache der Arbeitermassen selbst, in ihrer Gesamtheit, in ihrer natürlichen Gruppierung als Fabrikbelegschaften, weil diese die Einheiten im praktischen Kampfe sind, oder in anderen natürlichen Gruppen. Es wäre widersinnig, wenn die Anhänger einer Parteimeinung in einen Streik treten und die Anhänger einer anderen Richtung weiter arbeiten sollten. Aber beide Richtungen werden durch ihre Anhänger ihren Standpunkt über Streik oder Nichtstreik in der Fabrikversammlung verfechten, und dadurch der Gesamtheit eine wohlbegründete Entscheidung ermöglichen. Der Kampf ist so groß, der Feind so mächtig, daß nur die Kraft der Massen in ihrer Gesamtheit einen Sieg erringen kann; materielle und moralische Kraft der Tat, der Einheit, der Begeisterung, aber zugleich geistige Kraft der Einsicht, der Klarheit. Und darin liegt die große Bedeutung solcher Parteien oder Meinungsgruppen, daß sie diese Klarheit bringen, durch ihre gegenseitigen Kämpfe, ihre Diskussionen, ihre Propaganda. Sie sind die Organe der Selbstaufklärung der Arbeiterklasse, mittels deren sie für sich selbst den Weg zur Freiheit herausfindet.

Es versteht sich dabei, daß solche Parteien und ihre Anschauungen nicht fest und unveränderlich sind. Mit jeder neuen Lage der Dinge, mit jeder neuen Kampfaufgabe werden sich die Geister trennen und vereinigen; andere Gruppierungen bilden sich mit anderen Programmen. Sie haben einen fluktuierenden Charakter, und passen sich damit den stets neuen Situationen an.

Die heutigen Arbeiterparteien haben einen völlig entgegengesetzten Charakter. Sie haben ja auch ein anderes Ziel; sie wollen die Herrschaft für sich erobern. Sie wollen nicht Hilfsmittel der Arbeiterklasse sein sich zu befreien, sie wollen selbst herrschen, und sagen, daß das die Befreiung des Proletariats sein wird. Die Sozialdemokratie, die im Zeitalter des Parlamentarismus aufwuchs, denkt sich diese Herrschaft als eine Parlamentsmehrheitsregierung. Die kommunistische Partei führt die Parteiherrschaft zur äußersten Konsequenz, als Parteidiktatur.

Solche Parteien, im Gegensatz zu dem oben Gesagten, müssen starre Gebilde sein, die sich fest abgrenzen, durch Mitgliedsbuch, Statut, Parteidisziplin, Aufnahme- und Ausschlußverfahren. Denn sie sind Machtapparate, kämpfen um die Macht, halten ihre Anhänger durch Machtmittel bei der Stange, und suchen ihre Ausdehnung, ihr Machtgebiet stetig zu erweitern. Ihre Aufgabe ist nicht, die Arbeiter zum Selbstdenken zu erziehen, sondern sie zu gläubigen Anhängern gerade ihrer Lehre zu dressieren. Während daher die Arbeiterklasse für ihre Machtentwicklung und ihren Sieg die unbeschränkteste Freiheit der geistigen Entwicklung braucht, muß die Parteiherrschaft alle anderen Meinungen als ihre eigene zu unterdrücken suchen. Bei „demokratischen" Parteien geschieht das verhüllt, unter dem Scheine der Freiheit, bei den Diktatur-Parteien geschieht es durch offene brutale Unterdrückung.

Es gibt schon viele Arbeiter, die einsehen, daß die Herrschaft der sozialistischen oder der kommunistischen Partei nur eine verhüllte Form der Herrschaft einer bürgerlichen Klasse sein würde, wobei die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse bestehen bleibt. Aber statt derer soll nun nach ihrer Ansicht eine „revolutionäre Partei“ aufgebaut werden, die wirklich die Herrschaft der Arbeiter erstrebt und den Kommunismus verwirklichen will. Nicht eine Partei in dem Sinne als wir im ersten Stück darlegten, eine Meinungsgruppe, die nur aufklärt, sondern eine Partei im heutigen Sinne, die selbst um die Macht kämpft, die als Vorhut der Klasse, als Organisation der bewußten revolutionären Minorität die Parteiherrschaft erobert, um sie für die Befreiung der Klasse auszunutzen.

Wir behaupten demgegenüber: In dem Namen „revolutionäre Partei“ liegt schon ein innerer Widerspruch. Eine solche Partei kann nicht revolutionär sein. Es sei denn, daß man einen Regierungswechsel mit etwas Gewalttätigkeit – wie z. B. den Beginn des dritten Reiches – eine Revolution nennt. Wenn wir über „revolutionär“ reden, ist dabei natürlich immer an die proletarische Revolution, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse gedacht.

Die „revolutionäre Partei“ beruht auf der Idee, daß die Arbeiterklasse eine Gruppe von Führern braucht, um für sie die Bourgeoisie zu besiegen und eine neue Regierung zu bilden – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig zur Revolution ist. Sie beruht auf der Idee, daß diese Führer dann durch Gesetzesdekrete den Kommunismus einführen, – m. a. W. darauf, daß die Arbeiterklasse selbst noch nicht fähig ist, ihre Arbeit und Produktion zu verwalten und zu ordnen.

Ist aber diese Idee vorerst nicht richtig? Da jetzt, in diesem Augenblick, die Arbeiterklasse als Masse sich noch nicht fähig zeigt zur Revolution, ist es daher nicht nötig, daß jetzt die revolutionäre Vorhut, die Partei, es für sie macht? Und gilt das nicht solange die Massen den Kapitalismus ruhig ertragen? Demgegenüber muß die Frage gestellt werden: welche Macht könnte eine solche Partei zur Revolution aufbringen? Wie ist sie imstande, die kapitalistische Klasse zu besiegen? Nur dadurch, daß die Massen hinter ihr stehen. Nur dadurch, daß die Massen aufstehen und durch Massenangriff, Massenkampf, Massenstreik die alte Herrschaft stürzen. Also ohne das Auftreten der Massen geht es auf keinen Fall.

Dann kann zweierlei geschehen. Entweder die Massen bleiben bei der Aktion. Sie gehen nicht nach Hause, um der neuen Partei die Regierung zu überlassen. Sie organisieren ihre Macht in Fabriken und Werkstätten, sie bereiten den weiteren Kampf zur völligen Besiegung des Kapitals vor, sie bilden durch Arbeiterräte eine feste Verbindung, um damit die Leitung der ganzen Gesellschaft in die Hand zu nehmen – kurz, sie zeigen, daß sie nicht so ganz unfähig zur Revolution sind als es schien. Dann werden sich notwendig Konflikte entwickeln mit der Partei, die selbst die Herrschaft in die Hand nehmen will, und die durch ihre Lehre, daß die Partei Führerin der Klasse sein müsse, diese Selbsttätigkeit der Klasse nur als Unordnung und Anarchie betrachtet. Es kann dann geschehen, daß die Bewegung der Arbeiterklasse sich machtvoll entwickelt und über die Partei hinweggeht. Oder umgekehrt könnte die Partei mit Hilfe bürgerlicher Elemente die Arbeiter niederwerfen. Aber jedenfalls ist die Partei dann ein Hemmnis der Revolution. Weil sie mehr sein will als Propaganda- und Ausklärungsorgan. Weil sie als Partei herrschen und führen zu müssen glaubt. Oder die Arbeitermassen befolgen die Parteilehre und überlassen ihr die weitere Leitung der Sachen; sie folgen den von oben gegebenen Parolen, haben Zutrauen in die neue Regierung (wie in Deutschland 1918), die den Sozialismus oder Kommunismus verwirklichen wird, und gehen nach Hause an die Arbeit. Sofort setzt nun die Bourgeoisie ihre ganze Klassenkraft ein, deren Wurzeln noch ungebrochen sind: ihre Geldmacht, ihre gewaltige geistige Macht, ihre wirtschaftliche Macht in Fabrik und Großunternehmen. Dagegen ist die regierende Partei zu schwach; sie kann nur durch Mäßigung, durch Zugeständnisse, durch Nachgeben sich aufrecht erhalten. Dann sagt man, daß mehr im Augenblick nicht zu erreichen ist, und daß es Torheit bei den Arbeitern ist, durch Drängen unerfüllbare Forderungen durchsetzen zu wollen. So wird die Partei, beraubt von der Massenkraft einer revolutionären Klasse, zum Werkzeug der Erhaltung der bürgerlichen Herrschaft.

Wir sagten vorher, daß eine „revolutionäre Partei“ ein innerer Widerspruch sei, im Sinne der proletarischen Revolution. Man könnte es anders sagen: in dem Wort „revolutionäre Partei“ bedeutet revolutionär immer eine bürgerliche Revolution. Immer wenn die Massen auftreten, um eine Regierung zu stürzen, und dann die Herrschaft einer neuen Partei überlassen, haben wir eine bürgerliche Revolution, die Ersetzung einer herrschenden Schicht durch eine neue frische herrschende Schicht. So kam in Paris in 1830 die Geldbourgeoisie an die Stelle des Grundbesitzes, in 1848 die industrielle Bourgeoisie an Stelle der Finanz, in 1870 die gesamte kleine und große Bourgeoisie. So kam in der russischen Revolution die Parteibürokratie als regierende Schicht zur Herrschaft. Aber in West-Europa und Amerika ist die Bourgeoisie so viel mächtiger und fester verankert in Betrieben und Banken, daß sie sich durch eine Parteibürokratie nicht beiseite schieben läßt. Sie kann nur besiegt werden, indem immer wieder an die Massen appelliert wird und diese die Betriebe beschlagnahmen und ihre Räteorganisation aufbauen. Aber dann stellt sich immer wieder heraus, daß in den Massen die wirkliche Kraft liegt, die in der fortschreitenden eigenen Aktion die Kapitalsherrschaft vernichtet.

Diejenigen, die also von einer „revolutionären Partei“ träumen, ziehen nur eine halbe, beschränkte Lehre aus der bisherigen Entwicklung. Weil die Arbeiterparteien, die S.P. und die K.P. zu bürgerlichen Herrschaftsorganen zur Aufrechterhaltung der Ausbeutung geworden sind, ziehen sie nur den Schluß, sie müssen es besser tun. Sie sehen nicht, daß hinter dem Versagen jener Parteien ein viel tieferer Konflikt liegt, nämlich der Konflikt zwischen der Selbstbefreiung der ganzen Klasse durch eigene Kraft und der Beschwichtigung der Revolution durch eine arbeiterfreundliche neue Herrschaft. Sie glauben, eine revolutionäre Vorhut zu sein, weil sie die Massen ohne Aktivität, gleichgültig sehen. Die Massen sind aber inaktiv, weil sie den Weg des Kampfes, die Einheit der Klasse noch nicht klar sehen, und instinktiv die gewaltige Macht des Gegners und ebenso instinktiv die riesige Größe ihrer eigenen Aufgabe herausfühlen. Werden sie durch die Verhältnisse einmal zur Aktion getrieben, dann müssen sie diese Aufgabe, die Selbstorganisation, die Beschlagnahme der Produktionsmittel, den Angriff auf die wirtschaftliche Macht des Kapitals anfassen. Und dann stellt sich heraus, daß jene angebliche Vorhut, die versucht, die Massen nach ihrem Programm, mittels einer „revolutionären Partei“ zu führen und zu beherrschen, gerade durch diese Auffassung sich als rückständig erweist.


Zuletzt aktualisiert am 4. Januar 2020