Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



I

So war die historische Umgebung beschaffen, in der Tschernischewsky leben und wirken sollte. Sehen wir nun, wie er lebte und – vor Allem – wie er wirkte.

Nikolaus Gawrilowitsch Tschernischewsky wurde als Sohn eines Dompriesters zu Saratow 1829 geboren. Zuerst besuchte er das Seminar seiner Vaterstadt, später kam er an die Petersburger Universität, woselbst er seine Studien im Jahre 1850 an der philologischen Fakultät absolvirte. Einige Zeit nachher bekam er eine Lehrerstelle am zweiten Petersburger Kadettenkorps, dann ließ er sich als Lehrer an das Gymnasium zu Saratow versetzen. Dort, in seiner Vaterstadt, verheirathete er sich bald, wenn wir nicht irren, mit der Schwester des jetzt sehr bekannten gelehrten Schriftstellers Pypin. Dem jungen Tschernischewsky behagte aber offenbar die dumpfe Luft der Provinz nicht; so finden wir ihn denn schon im Jahre 1853 wieder in Petersburg, wo er noch einmal – übrigens nur vorübergehend – Unterrichtsstunden am zweiten Kadettenkorps ertheilt und daneben auch Uebersetzungen und Rezensionen für die damals von Krajewsky und Dudyschkin redigirte monatliche Revue Otetschestwennyja Sapiski („Vaterländische Annalen“) liefert. Wir werden wohl schwerlich fehlgehen, wenn wir annehmen, daß Tschernischewsky in dieser Uebergangsperiode seines Lebens viel Noth und Entbehrungen zu leiden hatte. War er doch damals ein einfacher literarischer Tagelöhner, und bekanntlich wird literarische Taglöhnerarbeit in keineswegs beneidenswerther Weise bezahlt. Andere Existenzmittel besaß aber Tschernischewsky nicht, seitdem er seine pädagogische Thätigkeit aufgegeben. Doch er war jung, gesund und schreckte vor keiner Arbeit, vor keiner Anstrengung zurück. Neben der nothwendigen literarischen Erwerbsarbeit beschäftigte ihn auch noch seine Magisterdissertation über Das ästhetische Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit. Mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten, seinem beispiellosen Fleiß und der seltenen Gabe, selbst die trockendsten und schwierigsten Themata populär darzustellen, hätte er auf eine glänzende Gelehrtenkarrière rechnen können. Er brauchte nur zu wollen – und ein Katheder war ihm sicher. Aber er strebte nach etwas Anderem.

Er wollte Kritiker und Publizist werden. Wie streng auch die russische Zensur war, so war doch in Aller Gedächtniß das Beispiel Bjelinsky’s [1] der es nicht nur verstanden hatte, trotz aller Schlagbäume der Zensur, in der Literatur eine Menge der wichtigsten Wahrheiten in Umlauf zu bringen, sondern der auch die russische Kritik auf einen ganz neuen theoretischen Boden gestellt hat. Tschernischew-sky liebte und verehrte diesen Schriftsteller außerordentlich. Kein Wunder also, daß er in dessen Fußstapfen treten wollte, um nach Kräften und Möglichkeit sein Werk fortzusetzen. Zudem hatte Nikolaus Gawrilowitsch seine eigenen (im Grunde durchaus richtigen) Ansichten über die Aufgaben der Männer, die für das Wohl Rußlands arbeiten wollen. Diese Ansichten ließen ihn nun keinen großen Werth auf die rein akademische Thätigkeit in seinem Lande legen. „Vielen der großen Gelehrten, Dichter, Künstler“ – schreibt er – „dienten der reinen Wissenschaft oder der reinen Kunst, und nicht irgendwelchen ausschließlichen Bedürfnis ihres Landes. Bacon, Descartes, Galilei, Leibnitz, Newton, Humboldt und Liebig, Cuvier und Faraday, arbeiteten stets im Dienste der Wissenschaft überhaupt, oh-ne daran zu denken, was gerade zur gegebenen Zeit dem Wohl eines bestimmten Landes, nähmlich ihres Vaterlandes, förderlich wäre ... In ihrer Eigenschaft als wirkende Kräfte in der Gedankenwelt sind sie Kosmopoliten.“ In einer anderen Lage befinden sich nach seiner Meinung die intellektuellen Arbeiter in Rußland.

Diese dürfen noch keine Kosmopoliten sein, d.h. sie dürfen noch nicht sich der reinen Wissenschaft oder der reinen Kunst hingeben. Den Verhältnissen ihres Landes gemäß müssen sie in diesem Sinne „Patrioten“ sein, d.h. sie haben in erster Linie an die speziellen Bedürfnisse ihres Landes zu denken. Das Ideal eines solchen „Patrioten“ ist für Tschernischewsky Peter der Große, welcher sich die Aufgabe stellte, Rußland mit allen Wohlthaten der europäischen Zivilisation zu beglücken. [2] Tschernischewsky hielt dieses Ziel auch für seine Zeit noch lange nicht für vollkommen erreicht: „Bis jetzt ist der einzige Dienst, den ein Russe den erhabenen Ideen der Wahrheit, der Kunst und der Wissenschaft leisten kann, – die Mitwirkung an deren Verbreitung in seinem Vaterland. Mit der Zeit werden auch bei uns, wie bei den anderen Völkern, Denker und Künstler erscheinen, die rein nur im Interesse der Wissenschaft wirken werden; aber so lange wir nicht an Bildung den vorgeschrittensten Nationen gleichstehen, hat Jeder von uns eine andere, näherliegende Arbeit – das ist, nach Kräften die weitere Entwicklung dessen zu fördern, was von Peter dem Großen begonnen wurde. Dieses Werk nimmt bis heute und wird wahrscheinlich noch auf lange Zeit hinaus in Anspruch nehmen alle geistigen und moralischen Kräfte der begabtesten Männer unseres Vaterlandes.“ [3] Tschernischewsky wollte nun eben seine Kräfte der Verbreitung der erhabenen Ideen der Wahrheit, der Kunst und der Wissenschaft in seinem Vaterlande widmen.

Er wurde Schriftsteller. – Durch seine Dissertation hatte er die Aufmerksamkeit der Redaktion des seit 1847 von Panajew und dem Dichter Nekrassow herausgegebenen Sowremennik auf sich gezogen, und so wurde ihm denn die Stelle eines ständigen Mitarbeiters an dieser Zeitschrift angeboten, ja sogar deren ganzer kritischer Theil seiner Redaktion unterstellt. In der Folge, nämlich im Jahre 1859, da dem Sowremennik erlaubt wurde, auch über Politik zu schreiben, redigirte Tschernischewsky auch den politischen Theil. Er arbeitete wahrhaft unermüdlich. Gewöhnlich vertheilten sich seine Abhandlungen unter die verschiedenen Abtheilungen der Zeitschrift folgendermaßen: erstens lieferte er eine Abhandlung über irgend eine theoretische Frage, sodann schrieb er eine politische Rundschau und eine literarische, welche sich mitunter auch auf die ausländische Literatur erstreckte, rezensirte einige neuerschienene Bücher und unternahm endlich, gleichsam zur Erholung und als Amusement, auch noch polemische Ausfälle gegen die gegnerische Presse. Dieser Arbeitsfleiß wurde in bedeutendem Grade durch den Umstand genährt, daß selbst unter den Mitarbeitern des Sowremennik, besonders in den ersten Jahren der literarischen Thätigkeit Tschernischewsky’s, nur Wenige zu finden waren, die sich zu seinen Anschauungen emporgearbeitet hatten. Im Roman Prolog zu einem Prolog sagt der Schriftsteller Wolgin – unter welchem namen Tschernischewsky sich selbst geschildert hat [4] – gerade heraus, er müsse viel schreiben aus Furcht, die übrigen Mitarbeiter möchten dummes Zeug schreiben. Seitdem übrigens Tschernischewsky zum Haupt-Mitarbeiter am Sowremennik geworden war, strömten naturgemäß alle frische aufkeimende literarische Kräfte dieser Zeitschrift zu. So schon 1856 der bald berühmt gewordene Dobroljubow, den Tschernischewsky – übrigens mit allzugroßer Bescheidenheit – weit über sich stellte. – Die Bedeutung der Journalistik war damals in Rußland sehr groß. Während nämlich heutzutage die öffentliche Meinung über die von der Zensur im Zaume gehaltene Presse bedeutend hinaus ist, während andererseits in den vierziger Jahren jene hinter dieser zurückstand, – erscheint das Ende der fünfziger und der Anfang der sechziger Jahre als die Periode der größten Uebereinstimmung zwischen der öffentlichen Meinung und der Presse und des größten Einflusses dieser auf jene. Nur unter dieser Bedingung waren jene warme Begeisterung für den Schriftstellerberuf und jener aufrichtige Glaube an die Bedeutung der literarischen Propaganda möglich, die bei allen hervorragenden Schriftstellern der damaligen Zeit anzutreffen sind. Alles Alte, Traditionelle, von den Vorfahren Ererbte wurde der Kritik unterzogen, alles Neue vom Standpunkt der „Vernunft“ beurtheilt, die berufen zu sein schien, sämmtliche Anschauungen der russischen Leser vom Grund aus zu verändern, – von den allgemeinsten philosophischen Anschauungen an bis herab zu den Ansichten darüber, ob man Säuglinge wickeln und Schulkinder prügeln solle. Dieser Abschnitt der russischen Geschichte erinnert außerordentlich an jenen Zeitraum in Frankreich, da der große Aufklärer Voltaire über Alles und Jedes schrieb, über Newton’s Theorie ebenso gut, wie über Mädchenerziehung.

Tschernischewsky’s Zeitschrift stand an der Spitze der damaligen literarischen Bewegung Rußlands. Sie wurde von allen „neuen Menschen“ gierig gelesen, sie war von allen denen, die aus dem einen oder dem anderen Grund jene Bewegung gehemmt wissen wollten, überaus gefürchtet. Die Furcht erzeugt naturgemäß den Haß. Je mehr der Einfluß des Sowremennik stieg, desto mehr häuften sich die Angriffe von den verschiedensten Seiten gegen diese Zeitschrift im Allgemeinen und gegen Tschernischewsky im Besonderen. Man begann ihre Mitarbeiter als gefährliche Menschen zu betrachten, – als Umstürzler aller „Grundlagen der Gesellschaft“. Einige der „vorgeschrittenen Männer“ der vierziger Jahre, ehemalige Freunde des einflußreichsten Schriftstellers jener Zeit, Bjelinsky’s, sagten sich vom Sowremennik los, als von einem „Nihilisten“-Organ, hoch und laut betheuernd, daß Bjelinsky nie und nimmer dessen Richtung gebilligt hätte. Dasselbe that Turgenjew, [5] und fast ebenso sehr auch der slavophil-radikale Herzen, der in seinem Londoner Kolokol („Glocke“) die „galligen Menschen“ angriff, denen man es nie recht machen könne. Der Sowremennik blieb seinerseits selbstverständlich die Antwort nicht schuldig. Er antwortete den Angreifern mit scharfen polemischen Artikeln und persiflirte sie außerdem in einer besonderen Beilage, betitelt Swistok („Pfeife“). Hier schrieb mitunter auch Tschernischewsky; die Hauptrolle gehörte jedoch Dobroljubow, der darin höchst talentvolle Parodien in Versform auf die schwulstigen Redereien der „Staatsretter“ veröffentlichte. Diese versuchten allerdings den Sowremennik mit derselben Waffe zu bekämpfen, sie mußten sich aber gar bald davon überzeugen, daß sie die Lacher nicht auf ihrer Seite hatten.

Tschernischewsky ging ganz im literarischen Kampf auf, so daß die Geschichte dieser Periode seines Lebens nichts Anderes ist, als die Geschichte seiner literarischen Thätigkeit. Selbstredend werden wir diese nicht mit Stillschweigen übergehen, vorerst wollen wir jedoch betrachten, wie er die Ideen der „Wahrheit, Kunst und Wissenschaft“ auffaßte, welche er im Sowremennik niederlegte und vertheidigte.

Seinen philosophischen Anschauungen nach war er ein Anhänger Feuerbach’s, dem er die größte Achtung zollte; er stellte ihn Hegel an die Seite, was sehr viel sagen will, da er, ungeachtet des immer mehr um sich greifenden Vorurtheils der „Proletarier der Intelligenz“, Hegel für einen der genialsten Denker aller Zeiten und Völker hielt. [6] Als Anhänger Feuerbach’s war er nun Gegner des philosophischen Idealismus und Dualismus. „Als Prinzip einer philosophischen Auffassung des menschlichen Lebens“ – schreibt er in seiner Abhandlung Das anthropologische Prinzip in der Philosophie – „dient die Idee der Einheit des menschlichen Organismus, die wir den Naturwissenschaften verdanken; durch die Forschungen der Physiologie, der Zoologie und der Medizin ist jeder Gedanke an einen Dualismus im Menschen beseitigt. Die Philosophie sieht im Menschen nur das, was die Medizin, die Physiologie, die Chemie in ihm sehen; diese Wissenschaften beweisen, daß sich kein Dualismus im Menschen offenbart, und – so setzt noch die Philosophie hinzu –, wenn der Mensch außer seiner realen Natur noch eine andere hätte, so würde sie sich in irgend etwas kundgeben, und da dies nicht der Fall ist, da alles, was im Menschen geschieht und sich offenbart, nur eine Folge seiner realen Natur ist – so giebt es auch in ihm keine andere Natur ...“ [7] Das ist klar genug. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß Tschernischewsky Anhänger des Materialismus im modernen Sinne des Wortes war. Selbst Feuerbach war, wie wir wissen, von einer solchen Folgerichtigkeit weit entfernt, und die Fehler des Meisters beeinflußten in eingreifender Weise die Weltanschauung des Schülers.

Tschernischewsky’s materialistischer Standpunkt tritt weit mehr hervor in seinen „anthropologischen“, als in seinen historischen Anschauungen. Indem er den Menschen als ein nothwendiges Produkt der jeweiligen Umgebung betrachtet, beurtheilt er sogar jene unschönen Aeußerungen der verdorbenen menschlichen Natur ungemein human, in denen die Idealisten nur den „bösen Willen“ erblicken, der die strengste Strafe erheischt. „Alles hängt von den sozialen Gewohnheiten ab“ – erklärt er „und von den Umständen, d.h. in letzter Instanz von den Umständen allein, da auch die sozialen Gewohnheiten ihrerseits durch die Umstände geschaffen werden. Ihr beschuldigt einen Menschen – untersucht doch vorher, ob er an dem ihm zur Last gelegten Vergehen schuld ist, oder ob es die Umstände und die sozialen Gewohnheiten sind: prüft scharf, vielleicht ist es gar nicht seine Schuld, sondern nur sein Unglück.“ – Die Reaktionäre, welche in diesen Worten Tschernischewsky’s eine Apologie der Zügellosigkeit erblicken wollten, haben damit natürlich nur ihren Unverstand bewiesen.

Die unvollkommene Ausarbeitung seiner materialistischen Auffassung offenbarte sich schon in einigen Eigenthümlichkeiten seiner Lehre über die Ethik. Ihm, wie auch Helvetius, sind selbst die uneigennützigsten Handlungen nichts weiter als eine besondere Art eines vernünftigen Egoismus. „Man braucht nur“ – meint er – „eine Handlung oder ein Gefühl, welche uns uneigennützig erscheinen, schärfer ins Auge zu fassen, um zu sehen, daß im Grunde doch nur der Gedanke an den persönlichen Nutzen, an das persönliche Vergnügen, an das persönliche Wohl, mit einem Wort, der Egoismus das treibende Motiv ist.“ Mitunter nehmen die Betrachtungen Tschernischewsky’s darüber einen etwas seltsamen Charakter an: „Lukretia erdolchte sich, nachdem Sixtus Tarquinus sie entehrt – sie handelte sehr überlegt“. Beweis: „Kollatinus konnte zu seiner Frau sagen: ich halte dich für rein und liebe dich wie früher, aber bei den damaligen Anschauungen, die sich übrigens bis jetzt sehr wenig verändert haben, würde es seine Kräfte überstiegen haben, seine Worte in die That umzusetzen: nolens-volens hätte er dennoch einen Theil seiner früheren Achtung, seiner früheren Liebe zu seinem Weibe verloren; er hätte wohl diesen Verlust durch eine absichtlich erhöhte Zärtlichkeit in seinem Umgange mit ihr zu verbergen suchen können, aber eine derartige Zärtlichkeit wirkt beleidigender als Kälte, ist bitterer als Mißhandlungen und Beschimpfungen“ u.s.w. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, daß Lukretia vor ihrem Selbstmorde sich in so vernünftigen Berechnungen ergangen hat. Dazu gehört Kaltblütigkeit, und kaltblütig konnte sie nicht sein. Wäre es nicht richtiger zu vermuthen, daß in ihrer That der Verstand eine weit geringere Rolle spielte, als ihr durch die damaligen sozialen Gewohnheiten und Verhältnisse erzeugtes Gefühl? Passen sich doch gewöhnlich die menschlichen Gefühle und Gewohnheiten dergestalt den bestehenden sozialen Verhältnissen an, daß dadurch bedingte Handlungen mitunter als eine Folge sehr scharfsinniger Berechnung erscheinen können, während sie in Wirklichkeit keineswegs durch Berechnung hervorgerufen wurden. – Ueberhaupt ist in Tschernischewsky’s Auffassung des vernünftigen Egoismus jene allen Aufklärungsperioden anhaftende Tendenz bemerkbar, im Verstand die Stütze der Moral und in der mehr oder weniger vernünftigen Ueberlegung jedes einzelnen Menschen die Erklärung seines Charakters und seiner Handlungen zu suchen. [8] Indeß schon in den oben zitirten Worten Tschernischewsky’s liegt eine Widerlegung solcher übertriebenen Vernünftelei. Die Handlungen einzelner Individuen sind ein Resultat der sozialen Gewohnheiten, die nicht dem berechnenden Verstand, sondern der historischen Entwicklung der Gesellschaft ihre Entstehung verdanken.

Richtig gestellt muß die Frage folgendermaßen formulirt werden: Was ist die Moral jedes einzelnen Durchschnittsmenschen? Ist sie das Resultat seiner Ueberlegung, oder ein unbewußtes Produkt der sozialen Verhältnisse? Endlich muß man noch fragen: Welches sind die Einflüsse der Gesellschaft auf das einzelne Individuum, die in ihm das Interesse für das gemeine Wohl entwickeln können und entwickeln? – Solche Fragen sind von großer sozialer Bedeutung. Hingegen ist es unwesentlich, darüber zu streiten, wie dieses Interesse für das allgemeine Wohl zu nennen sei: Altruismus oder edler Egoismus?

Gemäß der übertriebenen Bedeutung, die Tschernischewsky der menschlichen Berechnung beimißt, sucht er bisweilen aus einer bewußten Abwägung des Nutzens auch solche historische Ereignisse zu erklären, deren Erklärung vielmehr in den von den Menschen unerkannten Kräften der ökonomischen Entwicklung zu suchen ist. Auf den ersten Blick könnten zwar derartige Erklärungsversuche Tschernischewsky’s auf den Gedanken führen, er habe sich in seinen historischen Theorien vollständig auf den Standpunkt des modernen Materialismus gestellt. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch das gerade Gegentheil. Wer in der historischen Thätigkeit der Menschen nur die Einwirkung einer bewußten Berechnung sieht, der ist noch weit vom Verständniß der ganzen Macht und Bedeutung der Oekonomie entfernt. In Wirklichkeit erstreckt sich deren Einfluß selbst auf solche Handlungen der Menschen und auf solche Gewohnheiten verschiedener Gesellschaftsklassen, bei denen von bewußter Berechnung nicht einmal die Rede sein kann. – Die wichtigsten, die ausschlaggebendsten Faktoren der ökonomischen Entwicklung stehen bis jetzt außerhalb jeglicher Einwirkung einer bewußten Berechnung, während dagegen alle sozialen Verhältnisse, alle moralischen Gewohnheiten und alle geistigen Bestrebungen der Menschen sich unter mittelbarer oder unmittelbarer Einwirkung dieser blinden Kräfte der ökonomischen Entwicklung gestalten. Sie bestimmen auch u.A. alle Arten menschlicher Berechnung, alle Aeußerungen des menschlichen Egoismus. Folglich kann von einer bewußten utilitarischen Berechnung als dem primären Hebel der gesellschaftlichen Entwicklung nicht die Rede sein. Eine solche Geschichtsauffassung widerspricht den Lehren des modernen Materialismus; ein derartiger historischer Materialismus ist noch zu naiv.

Uebrigens hat Tschernischewsky seine historischen Anschauungen nicht in ein System gebracht, sie stehen häufig miteinander in Widerspruch. Ohne viele Mühe ließen sich aus seinen Schriften Sätze herausgreifen, die einander so sehr widersprechen, daß sie ganz verschiedenen Schriftstellern anzugehören scheinen. Und zwar lassen sich diese Widersprüche keineswegs durch die Vermuthung erklären, man habe es da mit einer allmäligen Umgestaltung seiner Auffassung zu thun. Denn er begann seine literarische Thätigkeit in einer Periode seiner geistigen Entwicklung, wo seine Anschauungen, der Hauptsache nach, bereits endgiltig sich abgeklärt hatten. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als die Widersprüche und Inkonsequenzen, die uns in seinen historischen Anschauungen begegnen, der Unklarheit und Unbestimmtheit seiner allgemeinen historischen Auffassung zur Last zu legen.

Einige Beispiele mögen das Gesagte bestätigen. – Nachdem er in seinen Umrissen der politischen Oekonomie die Gesetze der in den modernen fortgeschrittenen Ländern bestehenden „dreigliederigen Vertheilung der Produkte“ erklärt und dann aus diesen seinen Erklärungen eine kurze Schlußfolgerung gezo-gen hat, äußert er sich in höchst bemerkenswerther Weise über die inneren Triebfedern der neuesten Geschichte Europas: „Wir sahen, daß die Interessen der Rente zugleich denen des Profits und des Arbetslohnes entgegengesetzt sind. Die Mittelklasse und das gemeine Volk waren immer Verbündete gegen den Stand, dem die Rente zufällt. Wir sahen, daß das Interesse des Profits dem des Arbeitslohnes entgegengesetzt ist. Sobald also in einem Lande die Klasse der Kapitalisten im Bunde mit der Arbeiterklasse den Sieg über die die Rente beziehende Klasse davongetragen hat, wird dort der Kampf des Mittelstandes mit dem Volke zum Hauptinhalt der Geschichte.“ [9] Diese Sätze unterschriebe gerne jeder moderne dialektische Materialist. Um so mehr, da die oben angeführte Meinung Tschernischewsky’s über die Ursache des Kampfes des „Mittelstandes“ mit dem „Volke“ weiter in seinen Umrissen noch ergänzt wird durch den Hinweis auf den Untergang der kleinen Industrie und der kleinen Bodenkultur und auf den unvermeidlichen Sieg der großen kapitalistischen Produktion sowohl in der Industrie, wie auch in der Agrikultur. Ebenso könnte jeder moderne dialektische Materialist, nur mit einigen Einschränkungen, die Richtigkeit folgender Ansicht Tschernischewsky’s über die Geschichte der politischen und philosophischen Ideen anerkennen: „Politische Theorien und alle philosophischen Lehren überhaupt wurden stets bei ihrer Bildung sehr stark von der gesellschaftlichen Stellung ihrer Begründer beeinflußt, und jeder Philosoph war der Vorkämpfer irgend einer der politischen Parteien, die zu seiner Zeit in der Gesellschaft, der dieser Philosoph angehörte, um die Herrschaft stritten. Wir wollen nicht von den Denkern sprechen, die sich speziell mit der politischen Seite des Lebens befaßten. Ihre Angehörigkeit zu den politischen Parteien ist für Jedermann zu deutlich: Hobbes war Anhänger des Absolutismus, Locke war Whig, Milton – Republikaner, Montesqieu – Liberaler nach englischem Geschmack, Rousseau – ein revolutionärer Demokrat, Bentham – einfacher Demokrat, je nachdem revolutionär oder irrevolutionär; von solchen Schriftstellern brauchen wir ja nicht einmal zu reden. Wenden wir uns zu Denkern, die allgemei-nere Theorien aufzubauen suchten, zu den Schöpfern metaphysischer Systeme, zu den sogenannten Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes. Kant gehörte zu der Partei, welche in Deutschland die Freiheit auf revolutionärem Wege einführen wollte, aber die terroristischen Mittel verwarf. Fichte ging einige Schritte weiter: er scheute sogar vor terroristischen Mitteln nicht zurückt. Schelling vertritt die Partei, welche, durch die Revolution eingeschüchtert, in den mittelalterlichen Institutionen Ruhe zu finden hoffte und den Feudalstaat wiederherstellen wollte, der in Deutschland durch Napoleon I. und durch die preußischen Patrioten, deren Wortführer Fichte war, zerstört worden war. Hegel ist ein gemäßigter Liberaler, ungemein konservativ in seinen Schlußfolgerungen, der sich jedoch im Kampfe gegen die extreme Reaktion revolutionärer Prinzipien bedient, in der Hoffnung, den revolutionären Geist, der für ihn das Werkzeug der Zerstörung des allzu morschen Alten war, rechtzeitig eindämmen zu können. Wir behaupten nicht nur, daß die Genannten als Privatleute solche Gesinnungen hegten – das würde noch wenig bedeuten –, sondern auch, daß ihre philosophischen Systeme durch und durch vom Geiste der politischen Parteien, denen sie angehörten, durchdrungen sind.“ [10] Abgesehen von Einzelheiten, läßt sich wohl sagen, daß die angeführten Worte ein sehr tiefes Verständniß der sozialen Verhältnisse verrathen, unter deren Einfluß die Entwicklung der philosophischen und politischen Ideen vor sich geht.

Der moderne dialektische Materialist hätte nur noch hinzuzusetzen, daß auch die politischen Kämpfe selbst, welche die Richtung des menschlichen Gedankens bestimmten, nicht irgend welchen abstrakten Erwägungen zuliebe geführt wurden, sondern unter dem direkten Einfluß der Bedürfnisse und Bestrebungen der Klassen oder Schichten der Gesellschaft, zu denen die kämpfenden Parteien gehörten. Tschernischewsky hätte übrigens selbst dagegen kaum etwas einzuwenden gehabt. In seiner Auffassung der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft spricht sich ziemlich deutlich sein Verständniß für die Abhängigkeit der Anschauungen der Menschen von der jeweiligen sozialen Umgebung aus. In seiner Rezension des Roscher’schen Werkes Die Grundlagen der Volkswirthschaft weist er auf das „psychologische Gesetz“ hin, kraft dessen „beinahe Jedem – sei es ein gewöhnlicher Mensch, oder ein Redner, oder ein Schriftsteller, sei es im Gespräch, in Reden oder in Büchern – nur dies allein theoretisch gut, unbedingt nothwendig und ewig scheint, was praktisch der sozialen Gruppe nützlich ist, die er repräsentirt. Aus diesem psychologischen Gesetz ist auch die Thatsache zu erklären, daß den Oekonomen der Smith’schen Schule diejenigen Formen des ökonomischen Lebens vortrefflich und ewiger Herrschaft würdig erschienen, die schon am Ende des vorigen und im Anfang unseres Jahrhunderts herrschten bezw. die Herrschaft erstrebten. Die Schriftsteller dieser Schule waren nämlich Vertreter des Börsen- oder Handelsstandes im weiten Sinne dieses Wortes: der Banquiers, der Großhändler und der Gewerbetreibenden überhaupt. Da nun die bestehenden Formen der ökonomischen Einrichtungen dem Handelsstand nützlich, nützlicher als alle anderen Formen sind, – so betrachtet die jene Klasse vertretende Schule diese Formen als die auch theoretisch besten ... Andere Männer begannen sich mit ökonomischen Fragen zu befassen – Vertreter nicht jener Klasse, der die bestehenden ökonomischen Einrichtungen gerade vortheilhaft sind, sondern der Masse – und in der Wissenschaft entstand eine neue Schule, die man, unbekannt aus welchem Grunde, die Partei der Utopisten nennt.“ [11]Hier giebt sich die Einsicht in den Einfluß des Klassenkampfes auf die Entwicklung der Wissenschaft mit erstaunlicher Klarheit kund. Aber man würde sehr irren, wenn man daraus schließen wollte, Tschernischewsky habe sich stets von dieser Einsicht leiten lassen. Es liegt ein Abgrund zwischen dem bloßen Begreifen und Anerkennen eines gewissen Prinzips und dessen folgerichtiger Durchführung durch ein ganzes System. Trotzdem er die Bedeutung des Klassenkampfes in der menschlichen Gesellschaft vortrefflich erkannte, stecht seine Auffassung vom „Fortschritt“ dennoch der Lehre Buckle’s weit näher, als derjenigen der modernen Materialisten. Um davon einen Begriff zu geben, wollen wir ein längeres Zitat anführen aus seinem, gelegentlich des Erscheinens der russischen Uebersetzung von Guizot’s Geschichte der Zivilisation in Europa geschrieben, sehr interessanten Artikel: Ueber die Ursachen von Roms Untergang. – Hier bestreitet er nachdrücklich die weit verbreitete Meinung, das weströmische Reich wäre in Folge seiner inneren Unfähigkeit zur Fortentwicklung untergegangen, während die Barbaren neue Samen des Fortschritts mitgebracht hätten. Ob nun Tschernischewsky recht hatte, indem er diese Meinung anfocht, wollen wir vorderhand ununtersucht lassen. Hier kommt für uns einzig in Betracht seine Auffassung vom Gang des Fortschritts: „Aber, bedenken Sie doch – ruft unser Verfasser aus – was heißt Fortschritt und was ein Barbar? Der Fortschritt beruht auf der intellektuellen Entwicklung; dessen allerwichtigste Seite ist ja gerade die Entwicklung des Wissens ... Entwickelt sich die Mathematik, so auch in Folge dessen die angewandte Mechanik, diese aber führt zur Vervollkommnung von Industrie und Gewerbe u.s.f. ... Mit der Entwicklung der historischen Wissenschaft nehmen die falschen Ideen ab, welche die Menschen verhindern, ihr soziales Leben befriedigend einzurichten: dieses wird besser als früher geordnet. Endlich werden durch jegliche intellektuelle Arbeit die intellektuellen Kräfte des Menschen entwickelt, und je mehr Menschen das Lesen erlernen, das Lesen von Büchern sich zur Gewohnheit und zum Vergnügen machen ..., desto größer wird die Anzahl derjenigen, die die verschiedensten Angelegenheiten tüchtig durchführen können, und dann nehmen auch alle Seiten des Lebens im Lande einen immer besseren Verlauf. Folglich ist die Grundkraft des Fortschritts – die Wissenschaft; der Fortschritt entspricht dem Grande der Vollkommenheit und der Verbreitung des Wissen. Das ist also der Fortschritt – ein Resultat des Wissens. Und was ist nun ein Barbar? Ein Mensch, welcher noch in der tiefsten Unwissenheit steckt; ein Mensch, der die Mitte zwischen einem wilden Thiere und einem geistig kaum entwickelten Menschen einnimmt ... Wie kann es also dem sozialen Leben nützlich sein, wenn Institutionen, gute oder schlechte, immerhin aber menschliche, die an sich immerhin etwas, wenn auch noch so wenig Vernünftiges haben – wenn diese Institutionen durch thierische Gebräuche verdrängt werden?“

Man sieht, er erwähnt hier mit keiner Silbe weder die inneren sozialen Verhältnisse Roms, die dessen Schwäche verursachten, und auf welche doch Guizot im ersten Aufsatz seiner Essais sur l’histoire de France schon hingewiesen hat-te, noch die sozialen Lebensformen, die die Stärke der deutschen Barbaren zur Zeit der Eroberung des Römischen Reiches ausmachten. Er vergißt sogar den berühmten Ausspruch: Latifundia Italiam perdidere (die Latifundien haben Italien zu Grunde gerichtet). In seiner „Fortschritts-Formel“ (ein in der russischen Literatur später aufgekommener Ausdruck) räumt er den inneren Verhältnissen des oder jenes „fortschreitenden“ Landes keine besondere Stelle ein. Alles kommt da auf die Menge und die Verbreitung des Wissens an, und es kommt ihm nicht einmal in den Sinn, sich zu fragen, ob nicht die Geschichte der Wissenschaften von der Geschichte der sozialen Verhältnisse in den zivilisirten Ländern abhängig ist? – „Man sagt: die eingewurzelten Formen wurden der Gesellschaft lästig“ – schreibt er weiter –, „in der Gesellschaft war also eine progressive Kraft, war ein Bedürfniß nach Fortschritt da.“ Aber das Bedürfniß nach Fortschritt ist ja etwas ganz anderes als das Vorhandensein einer „progressiven Kraft“, welche dieses Bedürfniß zu befriedigen vermag. Diese zwei ihrem Charakter und ihrem Inhalte nach ganz verschiedene Begriffe dürfen keineswegs verwechselt werden: der eine ist rein negativ (das „Bedürfniß nach Fortschritt“ zeugt ja nur von dem Druck der bestehenden Formen), der andere ist positiv, da das Vorhandensein einer progressiven Kraft, die eine nothwendige Umgestaltung der sozialen Lebensformen zu vollbringen im Stande wäre, eine gewisse Stufe intellektueller, moralischer und politischer Entwicklung der Klasse bezw. der Klassen voraussetzt, auf denen diese Formen in besonders fühlbarer Weise lasten. Wären diese Begriffe identisch, so wäre die Sache des menschlichen Fortschritts äußerst vereinfacht, und wir würden nicht in der Geschichte dem traurigen Anblick von Gesellschaften begegnen, welche der Last von Lebensformen erlagen, die ungeachtet ihrer unzweifelhaften Schädlichkeit nicht weggeräumt werden konnten, da in dem Volke keine lebendigen Kräfte mehr wohnten, die dies zu bewirken vermochten. Selbstverständlich sprechen wir hier nicht von solchen Formen, die allen Klassen einer gegebenen Gesellschaft schädlich sind. Solche Formen räumen sich sozusagen von selbst weg. Aber meistentheils sind für den weiteren Fortschritt der Gesellschaft solche Formen besonders schädlich, die der Mehrheit nachtheilig und der privilegirten Minderheit sehr vortheilhaft sind. Solche Formen lassen sich nur in dem Falle wegräumen, wo die darunter leidende Mehrheit irgend welche Fähigkeit zur selbständigen politischen Thätigkeit besitzt. Diese Fähigkeit besitzt sie aber nicht immer. Jene ist keineswegs eine nothwendige Eigenschaft der unterdrückten Mehrheit. Sie wird von der Oekonomie der gegebenen Gesellschaft geschaffen. Für die römischen Proletarier, sollte man meinen, konnte nichts vortheilhafter sein, als die Pläne der Gracchen zu unterstützen. Sie thaten es aber nicht, noch konnten sie es thun, weil die soziale Stellung, in die sie in Folge der ökonomischen Entwicklung nicht nur nicht förderte, sondern vielmehr deren Niveau fortwährend herabdrückte. Was aber die höheren Klassen anbelangt, so wäre es erstens lächerlich, von ihnen politische Handlungen zu erwarten, die ihren ökonomischen Interessen entgegengesetzt waren, und zweitens verlotterten sie auch mehr und mehr unter dem Einfluß der anderen Seite derselben ökonomischen Entwicklung, welche, indem sie das römische Proletariat erzeugte, es in einen blutdürstigen, stumpfsinnigen Pöbel verwandelte. Schließlich kam es so weit, daß die Römer, diese Welteroberer, sich als untauglich zum Waffendienst erwiesen, und daß ihre Legionen sich mit denselben Barbaren füllten, die zuletzt dem Dasein des lebendig verfaulenden Reiches ein Ende gemacht haben. Im Untergang Roms liegt also, trotz der Ausführungen Tschernischewsky’s, nichts Zufälliges, da er das natürliche Ende eines schon lange begonnenen historisch-ökonomischen Prozesses war.

Wir wollen keineswegs, gleich vielen, besonders deutschen Schriftstellern, behaupten, die Germanen hätten einen besonderen Geist und besondere Neigungen mitgebracht, die ihnen den Vorrang in der weiteren Geschichte der Menschheit gesichert hätten. Wir sagen nur, daß Roms Schwäche im Kampfe mit den Barbaren durch seine ökonomische Entwicklung verursacht und vorbereitet wurde, – eine Entwicklung, welche die Klasse der kleinen Grundbesitzer, die einstige Stärke Roms, vernichtet hatte. Die Bauernparzellen waren zu kolossalen, von Sklaven bevölkerten Latifundien verschmolzen. Sklaven sind aber eine schlechte Stütze für einen Staat: von allen Enden der Welt zusammengetrieben, verschiedenen Nationen und verschiedenen Zungen angehörend, bildeten sie kein Volk im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie waren und blieben ein zusammengelaufener Haufen (insofern diese Benennung für eine wider ihren Willen zusammengebrachte Masse paßt), und kümmerten sich natürlich nicht im geringsten um die Interessen des römischen Staates. Tschernischewsky bemerkt zwar, daß die Sklaverei im Römischen Reich allmälig eine mildere Form annahm und am Ende in das Kolonat ausging. Allein erstens beweisen die Verordnungen der Kaiser über das Kolonat weiter nichts als das Streben des Staats, sich einen Theil des durch die unfreie Arbeit des Landarbeiters geschaffenen Mehrprodukts zu sichern. Der Uebergang zum Kolonat konnte die Lage der Landarbeiter gar nicht verbessern zu einer Zeit, da alle Schichten der römischen Gesellschaft durch die Staatssteuern und Staatsabgaben buchstäblich zermalmt wurden. Zweitens ist es selbstverständlich, daß Kolonen und Adskripten freie Ackerbauern nicht ersetzen konnten. Endlich war auch die Zahl der Sklaven und Kolonen, wenigstens in den Dörfern, geringer, als die der freien Bauern des alten Italiens Schon Titus Livius wunderte sich darüber, daß einige Gegenden Italiens, in welchen zu seiner Zeit nur noch wenige Hirten mit ihren Heerden umherschweiften, in der Periode ihrer Unabhängigkeit im Stande gewesen waren, zahlreiche und tapfere Armeen gegen Rom ins Feld zu führen. Die Sache erklärt sich einfach: zur Zeit ihrer Unabhängigkeit befanden sich eben diese Gegenden in ganz anderen ökonomischen Verhältnissen, welchen sie denn auch ihre zahlreiche, kräftige und tüchtige Bevölkerung verdankten. Damals stand nämlich dort noch in voller Kraft die Gentilverfassung, die den Wohlstand aller Gentilgenossen sicherte und ihnen einen unabhängigen kriegerischen Geist verlieh. Dieselbe Verfassung existirte auch bei den Germanen, und sie war es, der die barbarischen Horden ihre Kraft und Stärke verdankten. Kurz, man kann sagen, daß in den letzen Zeiten des Römischen Reiches solche ökonomischen Verhältnisse dort herrschten, welche seine Widerstandskraft auf ein Minimum reduzirten, während umgekehrt die damaligen Einrichtungen der Germanen ihre Offensivkraft auf ein Maximum steigerten. Das ist alles: es kommt auf die Oekonomie an, und nicht auf den Geist oder auf etwaige geheimnißvolle Eigenschaften der Rasse.

Wenn wir uns bei der Erklärung der historischen Schicksale verschiedener Länder nur auf abstrakte Erwägungen über deren „Fortschritt“ und die Menge der dort angehäuften Kenntnisse beschränkten müßten, könnten wir z.B. nie die Geschichte Griechenlands verstehen, wo die gebildetsten „progressiven“ Staaten einer nach dem andern vom Schauplatz verschwinden, um für minder gebildete und minder „progressive“ Länder Raum zu schaffen. Wie ist nun diese Erscheinung zu erklären? Durch die Entwicklung der ökonomischen und hauptsächlich der agrarischen Verhältnisse Griechenlands. In den vorgeschrittensten Staaten führten eben diese Entwicklung früher zur Konzentration des Grundbesitzes in wenigen Händen, zur ungeheuren Zunahme der Sklavenzahl, zur Entkräftigung und Demoralisation der niederen Klassen der freien Bürger. Und in demselben Verhältniß, in dem diese Folgen der ökonomischen Entwicklung sich geltend machten, verminderte sich auch die politische Kraft der „progressiven“ griechischen Länder. In den minder „progressiven“ Ländern dagegen begann dieser Prozeß später und vollzog sich langsamer; daher nahm auch ihre politische Kraft langsamer ab, ja sie nahm in gewissen Perioden dieses Prozesses zu (was auch in „progressiveren“ Ländern geschah); daher konnten sie auch eine hervorragende Rolle spielen, als die „progressiveren“ Länder unter dem vernichtenden Einfluß der zu jener Zeit (nicht aber unserer, wo es einen Ausweg giebt) aussichtslosen Klassenkämpfe bereits total geschwächt waren. Aber auch die weniger „progressiven“ Länder kamen herunter in Folge des oben angedeuteten Prozesses; eines nach dem andern athmeten sie den letzten Hauch aus und verschwanden gleichfalls von der historischen Bühne, bis endlich Roms eiserne Hand dem unabhängigen Dasein Griechenlands ein Ende machte. Als die Römer kamen, da hatten die griechischen Länder, mit nur wenigen Ausnahmen, buchstäblich keine Vertheidiger mehr. Dieser Umstand wurde bereits von Polybius und Plutarch hervorgehoben.

In Tschernischewsky’s historischen Anschauungen nimmt überhaupt der Zufall einen großen Platz ein. Sogar die gegenwärtige ökonomische Ordnung erscheint ihm als das Produkt historischer Zufälligkeiten. „Die Geschichte bezeugt“ – schreibt er in der bereits erwähnten Rezension des Roscher’schen Buches – „daß die heutigen ökonomischen Formen unter dem Einfluß von Verhältnissen entstanden sind, die den Forderungen der ökonomischen Wissenschaft widersprechen, die weder mit den Fortschritten der Arbeit noch mit einer wohlberechneten Konsumtion vereinbar sind, – kurz, daß sie ein Resultat von der Arbeit und dem Wohlstand feindlichen Ursachen darstellen. In Westeuropa z.B. wurde die ökonomische Ordnung auf Eroberungen, Konfiskationen und Monopolien begründet.“ [12] Nun wird freilich Niemand leugnen wollen, daß Eroberungen, Konfiskationen und Monopolien eine Rolle in der Geschichte Westeuropas gespielt haben. Aber sie fanden doch auch im alten Griechenland, in Indien und in China statt; dennoch blieb oder bleibt die ökonomische Ordnung jener Länder von der des heutigen Europa sehr wesentlich verschieden. Woher nun dieser Unterschied? Rührt er denn nicht davon her, daß all diese Eroberungen, Konfiskationen und Monopolien, weit entfernt, die Richtung der ökonomischen Entwicklung zu bestimmen, vielmehr selbst durch diese in ihren Formen und weiteren sozialen Folgen bestimmt waren? Die Richtung und der Gang der ökonomischen Entwicklung im alten Griechenland oder in Indien oder in China unterschieden sich von denen des mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa – daher führten auch dort die Eroberungen mit all ihren Folgen zu anderen Einrichtungen, als in Westeuropa. Angesichts der entscheidenden Bedeutung, die Tschernischewsky für die Entstehung der ökonomischen Ordnung des heutigen Europa die Eroberung beilegt, kommen uns unwillkürlich die Aeußerungen von Engels über diese Ansicht in den Sinn: „Selbst wenn wir die Möglichkeit alles Raubs, aller Gewaltthat und aller Prellerei ausschließen, wenn wir annehmen, daß alles Privateigenthum ursprünglich auf eigener Arbeit des Besitzers beruhe, und daß im ganzen ferneren Verlauf nur gleiche Werthe gegen gleiche Werthe ausgetauscht werden, so kommen wir dennoch bei der Fortentwicklung der Produktion und des Austausches mit Nothwendigkeit auf die gegenwärtige kapitalistische Produktionsweise, auf die Monopolisirung der Produktions- und Lebensmittel in den Händen der einen, wenig zahlreichen Klasse, auf die Herabdrückung der andern, die ungeheure Mehrzahl bildende Klasse, zu besitzlosen Proletariern, auf den periodischen Wechsel von Schwindelproduktion und Handelskrise und auf die ganze gegenwärtige Anarchie in der Produktion.“ [13]

So denken in dieser Beziehung die modernen dialektischen Materialisten. Tschernischewsky dachte noch ganz anders.

Da er die sogenannte historische Methode in der ökonomischen Wissenschaft nur aus den Werken solcher Vertreter derselben kennen lernte, wie Wilhelm Roscher und die übrigen „Zitaten-Professoren“, beurtheilte er sie in sehr abfälliger Weise und hielt sie für eine Frucht der Reaktion gegen die freiheitlichen Bestrebungen der Arbeiterklasse: „Gegen die mittelalterlichen Institutionen, die mit den Interessen des Handelsstandes unvereinbar waren, kämpfte man ... im Namen der Vernunft; und siehe da, nun kommen ganz ungelegen Leute, die sagen: die Vernunft erheischt wirklich das, was Ihr fordert, doch sie erheischt außerdem noch vieles Andere; Ihr sprechet nur den Anfang der Formel aus, deren Schluß aber ist der und der; mit einem Worte, gegenüber den inkonsequenten Denkern entstanden konsequente ... Was thun? Spricht die Vernunft gegen Dich, so greife zur Geschichte: sie wird Dir schon aus der Klemme heraus helfen.“ Wenn es sich nun mit der Entstehung der historischen Methode so verhält, dann schrumpft die theo-retische Aufgabe der Vorkämpfer der Arbeiterklasse in ihrem Kampfe gegen die inkonsequenten Denker“ darauf zusammen, die Entstehung der modernen ökonomischen Ordnung aus „Eroberungen, Konfiskationen und Monopolien“ bloszulegen. Nach Tschernischewsky’s Meinung thun dies auch die Sozialisten. Unter ihren Händen „verdammt die Geschichte das, was sie vertheidigen sollte“. [14] Indessen, noch bevor Tschernischewsky seine literarische Laufbahn begann, noch zur Lebenszeit seiner Vorgänger, d.h. Bjelinsky’s und seiner Gesinnungsgenossen, benutzen die besten theoretischen Vorkämpfer der Arbeiterklasse die Geschichte nicht blos zu polemischen Hinweisen auf Eroberungen und Konfiskationen. Marx und Engels hatten nämlich das Studium der ökonomischen Geschichte der Menschheit auf festen wissenschaftlichen Boden gestellt, indem sie deren innere Nothwendigkeit und strenge Gesetzmäßigkeit nachwiesen. [15]

Aber es ist aus Allem ersichtlich, daß Tschernischewsky diese Richtung unbekannt blieb, die aus den Theorien seines Meisters Feuerbach in derselben Weise erstand, wie die Theorien des Letzteren aus dem Hegel’schen System.



Anmerkungen

1. W.G. Bjelinsky (1811-1848) war ein berühmter russischer Kritiker, der für die russische Literatur vielleicht noch mehr gethan hat, als Lessing für die deutsche.

2. Man muß dabei im Auge behalten, daß er dies in einer der Zensur unterstellten Zeitschrift schrieb. Die Hinweise auf Peter den Großen sollten vor Allem die Wachsamkeit des Zensors einschläfern.

3. Sowremennik („Zeitgenosse“) 1856, 4. Buch, Kritik S.29–31.

4. Tschernischewsky’s Vaterstadt, Saratow, liegt an der Wolga.

5. Tschernischewsky erzählt, Turgenjew habe immerhin ihn selbst halb und halb leiden möchten, den Dobroljubow dagegen schon ganz und gar nicht. „Sie sind eine gewöhnliche Schlange, Dobroljubow aber ist eine Brillenschlange“, pflegte er ihm zu sagen.

6. In Wirklichkeit steht Feuerbach weit unter Hegel, wie dies vortrefflich von Engels gezeigt worden, und worauf bereits Marx hingewiesen hat in einem kurz nach Proudhon’s Tod veröffentlichten Brief an den Redakteur des Berliner Sozialdemokrat.

7. Wir machen wiederum den deutschen Leser darauf aufmerksam, daß Tschernischewsky seine Ausdrücke sehr vorsichtig wählen mußte, da er in einer russischen, der Zensur unterstellten Zeitschrift schrieb.

8. Xenophon führt in seinen Erinnerungen an Sokrates (6, 27) u.A. folgendes Argument dieses Weisen für den Satz an, es sei besser, sich mit den Rechtschaffenen gut zu stellen als mit den Schurken: „Es ist aber vortheilhafter, den Rechtschaffenen Gutes zu erweisen, da ihre Zahl geringer ist, als den Schlechteren, deren Zahl größer ist, denn die Schlechten bedürfen weit mehr Wohlthaten als die Rechtschaffenen“. – Das ist bereits der volle Triumph und die letzte Grenze der Vernünftelei, worüber hinaus sie sofort ins Absurde umschlagen muß.

9. Das Gesperrte ist von uns hervorgehoben. Siehe Umrisse der politischen Oekonomie (nach Mill). Tschernischewsky’s Werke, 4. Band, S.205.

10. Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S.2, 3.

11. Sowremennik, April 1861, Bibliographie, S.431, 432.

12. Sowremennik, April 1861, Bibliographie, S.434.

13. Fr. Engels, Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft, S.155.

14. Sowremennik, a.a.O., S.432–434.

15. Indem sich Roscher und Genossen auf die Geschichte stützen, bleiben sie prinzipielle Gegner einer revolutionären Handlungsweise. Nach ihrer Auffassung schließt die Evolution ganz die Revolution aus. Diese Ansicht ist ebenso falsch, wie die einiger Revolutionäre, die ihrerseits von der Evolution nichts hören wollen. Diese beiden Extreme machen in gleicher Weise ein richtiges Verständniß der Geschichte durchaus unmöglich. Mit der dialektischen Methode ausgerüstet, fassen die jetzigen Sozialisten die Sache ganz anders auf. Für sie ist die Evolution ein ebenso nothwendiges Moment im Prozesse der historischen Entwicklung der Menschheit, wie die Revolution. Die Evolution bereitet die Revolution vor, die Revolution erleichtert den weiteren Lauf der Evolution.

Die besonders von deutschen Gelehrten angenommene „historische Methode“ beschränkt ganz willkürlich den Horizont der Wissenschaft auf eines der gedachten Momente, auf die Evolution, und sie muß daher als unwissenschaftlich betrachtet werden. Von den „gelehrten“ Repräsentanten derselben könnte man noch jetzt mit vollem Rechte dasselbe sagen, was Marx von ihnen im Jahre 1844 gesagt hat: „Eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimirt, eine Schule, die jeden Schrei der Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der die Geschichte, wie der Gott Israels seinem Diener Moses, nur ihr a posteriori zeigt ... Schylok, aber Schylok der Bediente, schwört sie für jedes Pfund Fleisch, welches aus dem Volksherzen geschnitten wird, auf ihren Schein, auf ihren historischen Schein ...“ – Das ist durchaus richtig. Doch der Revolutionär Marx, der so scharf und treffend den Servilismus der offiziellen Vertreter der „historischen Methode“ geißelte, verkannte um so weniger die historische Evolution, als er ja zuerst deren Triebfedern und strenge Gesetzmäßigkeit aufgezeigt hat.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008