Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



X

Die Fabel des Romans Was thun? ist sehr einfach. Ein Student der mediko-chirurgischen Akademie in Petersburg, Namens Lopuchow, macht die Bekanntschaft eines unbemittelten jungen Mädchens, Wjera Pawlowna Rosalsky, deren Eltern sie gegen ihren Willen an einen reichen Wüstling verheiraten wollen. Um sie aus der schwierigen Lage zu befreien, macht ihr Lopuchow das Anerbieten, mit ihm im Geheimen eine fiktive Ehe zu schließen. Sie geht darauf ein und macht sich auf diese Weise von der elterlichen Vormundschaft los. Eine Zeit lang bleibt sie wirklich nur fiktive Frau des Lopuchow, später aber verliebt sie sich in ihn und wird seine Ehegattin nicht allein vor dem Gesetz. Die Lopuchow’s sind sehr glücklich, sie führen ein vernünftiges Leben von „neuen Menschen“, umgeben von vernünftigen und ehrlichen Freunden. Doch Wjera Pawlowna ist mit diesem Leben unzufrieden. Sie möchte an die praktische Verwirklichung jener sozialistischen Ideen herantreten, über welche sie so viel nachgedacht und so oft mit ihren Freunden gesprochen. Als den besten Weg zur Verwirklichung jener Ideen betrachten sie und ihre Freunde die Einrichtung von Arbeiter-Produktivgenossenschaften. Sie beginnt nun damit, die Petersburger Näherinnen zu solchen Genossenschaften zu vereinigen. Die Sache – zu deren Gunsten Tschernischewsky, wie immer, eine ganze Reihe eingehendster Berechnungen anführt, die die Vorzüge des neuen Prinzips aufzeigen, – nimmt einen sehr günstigen Verlauf. Wjera Pawlowna fühlt sich völlig glücklich ... Indessen harrt ihrer ein erschütterndes Drama. Under den Freunden Lopuchow’s war ein junger, vielversprechender Professor der Physiologie, Namens Kirsanow. Wjera Pawlowna bemerkt nun mit Schaudern, daß sie den Kirsanow liebt, der seinerseits wider Willen sich seiner Liebe zu Wjera Pawlowna bewußt wird. Beide bekämpfen hartnäckig ihre Gefühle. Aber vergebens! Lopuchow durchschaut das Verhältniß und findet, daß er um des Glückes seines Freundes und der geliebten Frau willen von der Bühne verschwinden müsse. Gesagt – gethan. Die Polizei und fast alle seine Freunde sind überzeugt, daß er sich in der Newa ertränkt hat. Wjera Pawlowna ist also in den Augen des Gesetzes frei. Nunmehr hindert sie nichts daran, den Kirsanow zu heirathen, – was sie denn auch thut, nachdem sie erfahren hat, daß Lopuchow wohlbehalten in Amerika lebt. Nachdem letzterer sich vergewissert, daß es ihm gelungen ist, seine Liebe zu Wjera Pawlowna zu überwinden, kehrt er nach Petersburg zurück, wo er eine Freundin der Kirsanow’s heirathet. Seine zweite Gattin beschäftigt sich ebenfalls mit der Organisation von Näherinnen-Genossenschaften. Beide Familien, die Lopuchow’s und die Kirsanow’s, leben in enger gegenseitiger Freundschaft.

Wie der Leser sieht, benehmen sich fast sämmtliche Hauptpersonen des Romans so, daß die „Ordnungshüter“ allen Grund haben, von Erschütterung der heiligen „Grundlagen“ der Familie, von Schändung der Moral und des Gesetzes u.s.f. zu jammern – was sie denn auch thaten und noch bis auf den heutigen Tag thun. Zugleich betheuern sie laut und hoch, der Roman sei in allen künstlerischen Werthes bar, Tschernischewsky habe darin einen völligen Mangel an künstlerischem Talent geoffenbart. Der zweite Vorwurf ist nur theilweise berechtigt: die komischen Personen im Roman Was thun? (z.B. die Eltern der Wjera Pawlowna) sind gut gezeichnet und lebensvoll. Dagegen lassen die eigentlichen Helden des Romans, Wjera Pawlowna und ihre Freunde, allerdings vom künstlerischen Standpunkt aus manches zu wünschen übrig. Was hat dies jedoch zu sagen? Man zeige uns doch wenigstens eines der hervorragendsten wahrhaft künstlerischen Werke in der russischen Literatur, dessen Einfluß auf die sittliche und intellektuelle Entwicklung Rußlands so groß gewesen wäre, wie der Einfluß des Romans Was thun?. Niemand kann ein solches Werk zeigen, weil ein solches nicht existirte, nicht existirt und sicherlich nicht existiren wird. Seit der Einführung der Druckerpresse in Rußland bis auf den heutigen Tag hatte in Rußland kein einziges gedrucktes Werk einen solchen Erfolg, wie jener Roman. Man mag nun, so viel man will, die Tendenzmalerei des Autors tadeln, ihm den Namen eines Künstlers absprechen – das lesende Publikum wird darauf sehr richtig bemerken, daß es sich darum gar nicht kümmere, daß jede Belletristik gut sei, außer der langweiligen; Tschernischewsky’s Roman aber erweckt in ihm nur Entzücken und keine Langweile – dies genügt dem Leser vollkommen. Endlich ist die Tendenzmalerei auch in den belletristischen Werken der russischen Obskuranten keineswegs ein unbekanntes Ding. Auch sie schreiben gerne Tendenzromane oder Tendenznovellen. Zu ihrem Leidwesen aber finden ihre Tendenzstücke fast keine Leser und gar keinen Anklang. Zeigt dies nun nicht, daß es zweierlei Arten von Tendenzen giebt, von denen eine dem Erfolg er von ihr durchtränkten Werke auch nicht den geringsten Abbruch thut?

Worin lag das Geheimniß des kolossalen, unerhörten Erfolges jenes Romans? Eben in dem Charakter seiner Tendenz, eben darin, daß die vom Autor ausgesprochenen Gedanken einem wahren Zeitbedürfniß entsprachen. An und für sich waren diese Gedanken nicht neu; Tschernischewsky entnahm sie sammt und sonders der westeuropäischen Literatur. Weit früher als er predigte Georg Sand in Frankreich freie und, was die Hauptsache ist, aufrichtige, ehrliche Liebesbeziehungen zwischen Mann und Weib. [1] In den moralischen Forderungen, welche Lucretia Floriani an die Liebe stellt, unterscheidet sie sich durchaus nicht von Wjera Pawlowna. George Sand’s Ideen fanden in Rußland noch in den vierziger Jahren den größten Anklang. Bjelinsky war ein leidenschaftlicher Verehrer dieser Schriftstellerin. In seinen Aufsätzen brachte er nicht selten ihre Ansichten über Freiheit und Wahrheit in Liebesverhältnissen zum Ausdruck. Die besten unter den „Männern der vierziger Jahre“ folgten in ihren Beziehungen zur Frau denselben Prinzipien, wie Lopuchow und Kirsanow. Aber bis zum Erscheinen des Romans Was thun? wurden diese Prinzipien nur von einem kleinen Häuflein „Auserwählter“ getheilt; für die Masse des lesenden Publikums blieben sie ganz und gar unverständlich. Selbst Herzen konnte sich nicht dazu entschließen, sie in ihrer ganzen Fülle und Klarheit in seinem Roman Wer ist schuldig? auszusprechen. Mit dem Erscheinen von Was thun? wurde die Frage so klar und scharf, als irgend möglich gestellt. Keine Zweifel konnten mehr obwalten. Denkende Menschen hatten nur noch die Wahl: in der Liebe entweder den Prinzipien von Lopuchow und Kirsanow zu folgen, oder, sich vor der Heiligkeit der Ehe beugend, im Falle des Aufkeimens einer neuen Liebe wieder zum alten erprobten Mittel des Ehebruchs zu greifen, oder endlich in sich jedes Gefühl der Liebe gänzlich zu ersticken, weil sie einem anderen, nicht mehr geliebten Menschen angehören. Und zwar mußte die Wahl mit vollem Bewußtsein getroffen werden. Tschernischewsky hatte die Frage so aufgehellt, daß die früher natürliche Gedankenlosigkeit und Unmittelbarkeit der Liebesverhältnisse ganz unmöglich wurden. Auch auf die Liebe hatte sich die Kontrolle des Bewußtseins erstreckt; eine bewußte Auffassung der Verhältnisse zwischen Mann und Frau war zum Gemeingut des großen Publikums geworden. Und das war in Rußland in der Epoche der sechziger Jahre besonders wichtig. Die Reformen jener Zeit stellten nicht nur die sozialen, sondern auch die Familienverhältnisse auf den Kopf. Lichtstrahlen drangen in solche Winkel ein, welche bis dahin ganz im Dunkeln geblieben waren. Die Russen wurden gezwungen, sich umzuschauen und nüchternen Blickes ihre Verhältnisse zu ihren Nächsten, zur Gesellschaft und zur Familie zu prüfen. In den Familienverhältnissen, in der Liebe und in der Freundschaft begann ein neues Element eine große Rolle zu spielen, nämlich die Ueberzeugungen, die früher nur ein ganz kleines Häuflein von „Idealisten“ besaß. Die Verschiedenheit der Ueberzeugungen veranlaßte unerwartete Konflikte. Eine Frau, die einem Manne „gegeben“ worden war, entdeckte nicht selten mit Entsetzen, daß ihr gesetzlicher „Besitzer“ ein Obskurant, bestechlich und ein niedriger Schmeichler seiner Vorgesetzten sei. Ein Mann, der früher im vollen Genusse des „Besitzes“ einer schönen Frau gewesen war und der, ohne es zu wollen, von dem Strom der neuen Ideen berührt wurde, bemerkte oft mit Verzweiflung, daß sein schönes Spielzeug sich keineswegs für „neue Menschen“ und „neue Ideen“ interessirte, sondern für neue Toiletten und für Tänze, und auch noch für die Beamtentitel und für den Gehalt ihres Mannes. Vergebens sind alle Auseinandersetzungen und Mahnungen: die Schöne verwandelt sich in eine wahre Megäre, sobald der Mann etwa hervorzustammeln versucht, er möchte zwar dem Staate dienen, es ekle ihn aber an, ein Bedienter zu sein. Was da beginnen? Was thun? Der berühmte Roman zeigte dies. Unter dessen Einfluß begannen die Menschen, die sich früher für das rechtmäßige Eigenthum Anderer hielten, mit Tschernischewsky auszurufen: „O Schmutz! o Schmutz! wer darf einen Menschen besitzen!“ – in ihnen wurde das Bewußtsein ihrer Menschenwürde wach, und oft stellten sie sich, nach den furchtbarsten Seelen- und Familienstürmen, auf eigene Füße, richteten ihr Leben ihren Ueberzeugungen gemäß ein und strebten bewußt einem vernünftigen, menschlichen Ziele zu. Und schon darum allein kann man wohl sagen, daß Tschernischewsky’s Name der Geschichte angehört; den Menschen wird er theuer sein und mit Dankbarkeit werden sie seiner gedenken, wenn auch Niemand mehr am Leben sein wird, der den großen russischen Aufklärer persönlich gekannt hat.

Die Obskuranten beschuldigten Tschernischewsky, daß er in seinem Roman die „Emanzipation des Fleisches“ gepredigt habe. Nichts unsinnigeres und Heuchlerischeres als dies Beschuldigung! Man nehme nur einen beliebigen Roman aus der großen Welt, man erinnere sich der Liebesabenteuer des Adels und der Bourgeoisie in allen Ländern und bei allen Völkern – und man wird sehen, daß Tschernischewsky es nicht nöthig hatte, die schon lange zur Thatsache gewordene Emanzipation des Fleisches zu predigen. Sein Roman predigt im Gegentheil die Emanzipation des menschlichen Geistes, der menschlichen Vernunft. Wer von den Ideen dieses Romans durchdrungen ist, wird nie zu Boudoirabenteuern Neigung fühlen, ohne welche ja den, von einer heuchlerischen Achtung für die landläufige Moral erfüllten Salonmenschen das Leben kein Leben mehr ist. Die Obskuranten sehen wohl den streng-sittlichen Charakter des Tschernischewsky’schen Werkes ein, und sind auf dasselbe gerade wegen seiner sittlichen Strenge so böse zu sprechen. Sie fühlen, daß Menschen, wie die Helden von Was thun? sie für Wüstlinge halten und gegen sie die tiefste Verachtung hegen müssen.

Selbstverständlich wird die sogenannte Frauenfrage weder durch das Beispiel von Lucretia Floriani, noch durch das von Wjera Pawlowna gelöst. Den Schöpfern der betreffenden Werke wird aber dennoch stets das Verdienst gebühren, eine neue Auffassung von der Frau verbreitet zu haben.


Anmerkung

1. Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, das Goethe’s Wahlverwandschaften und einige seiner Dramen auch ein Wort zu Gunsten der freien Liebe sind. Dies sehen wohl viele deutsche Literaturhistoriker ein; da sie aber einerseits nicht wagen, eine Autorität, wie Goethe, zu tadeln, und anderseits ihrer philiströsen Sittsamkeit zu Liebe ihm auch nicht beistimmen dürfen, so stammeln sie gewöhnlich etwas ganz Unverständliches über die wunderlich sein sollenden Paradoxen des großen Deutschen.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008