Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



III

Zwischen den „Faktoren“ besteht Wechselwirkung: jeder von ihnen beeinflußt alle übrigen und erfährt seinerseits den Einfluß aller übrigen. Als Ergebnis entsteht ein so verwickeltes Netz von gegenseitigen Einflüssen, direkten und reflektierten Einwirkungen, daß es einem, der sich zum Ziel setzte, sich den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären, schwindlig wird, und daß er das unwiderstehliche Bedürfnis empfindet, irgendeinen Faden zu finden, um aus diesem Labyrinth zu entweichen. Da die bittere Erfahrung ihn überzeugt hat, daß der Standpunkt der Wechselwirkung nur zum Kopfschwindel führt, so sucht er nach einem anderen Anhaltspunkt; er sucht seine Aufgabe zu vereinfachen. Er fragt sich, ob nicht irgendeiner der sozial-historischen Faktoren die erste Grundursache der Entstehung aller übrigen sei. Würde es ihm gelingen, diese grundlegende Frage im bejahenden Sinne zu entscheiden, so wäre seine Aufgabe in der Tat unvergleichlich einfacher. Nehmen wir an, er habe sich davon überzeugt, daß alle gesellschaftlichen Beziehungen eines jeden gegebenen Landes, in ihrer Entstehung und Entwicklung, durch den Gang der geistigen Entwicklung dieses Landes bedingt werden, und daß dieser, Gang seinerseits durch die Eigenschaften der menschlichen Natur bestimmt sei. (idealistischer Standpunkt). Dann kommt er mit Leichtigkeit aus dem circulus viciosus der Wechselwirkung heraus und schafft eine mehr oder weniger geschlossene und konsequente Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung. In der Folge wird er durch ein weiteres Studium des Gegenstandes wohl einsehen, daß er sich geirrt hat, daß man die geistige Entwicklung der Menschheit nicht als erste Ursache der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung betrachten kann. Sobald er seinen Irrtum eingesteht, wird er wahrscheinlich gleichzeitig auch merken, daß seine zeitweilige Überzeugung von der Herrschaft des geistigen Faktors über alle übrigen für ihn dennoch von Nutzen war, da er ohne diese Überzeugung den toten Punkt der Wechselwirkung nicht verlassen hätte und im Begreifen der gesellschaftlichen Erscheinungen keinen Schritt vorwärtsgekommen wäre.

Es wäre ungerecht, derartige Versuche zu verurteilen, diese oder jene Rangordnung zwischen den Faktoren der gesellschaftlichen historischen Entwicklung festzustellen. Diese Versuche waren zu ihrer Zeit ebenso notwendig, wie das Auftauchen der Theorie der Faktoren selbst unvermeidlich war. Antonio Labriola, der gründlicher und besser als alle anderen materialistischen Autoren diese Theorie analysiert hat, sagt sehr treffend: „Die historischen Faktoren sind etwas, was viel weniger als Wissenschaft und viel mehr als grober Irrtum ist.“ Die Theorie der Faktoren hat der Wissenschaft einen Teil Nutzen gebracht. „Die spezielle Erforschung der historisch-sozialen Faktoren hat dazu beigetragen – wie jedes empirische Studium, das über die sichtbare Bewegung der Dinge nicht hinausgeht, dazu beiträgt – unsere Beobachtungswerkzeuge zu vervollkommnen, und hat es ermöglicht, in den Erscheinungen selbst, die durch Abstraktion künstlich isoliert wurden, den Zusammenhang zu finden, der sie mit dem gesellschaftlichen Ganzen verbindet.“ In der heutigen Zeit ist das Studium der speziellen Gesellschaftswissenschaften eine Notwendigkeit für jeden, der irgendeinen Teil des vergangenen Lebens der Menschheit rekonstruieren möchte. Die Geschichtswissenschaft wäre ohne Philologie nicht weit gekommen. Und wie große Dienste haben doch der Wissenschaft jene einseitigen Romanisten geleistet, die das römische Recht für niedergeschriebene Vernunft hielten!

Aber wie berechtigt und nützlich die Theorie der Faktoren zu ihrer Zeit auch gewesen sein mag, heute hält sie keiner Kritik stand. Sie zergliedert die Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, verwandelt deren verschiedene Seiten und Äußerungen in besondere Kräfte, die angeblich die historische Entwicklung der Gesellschaft bestimmen. In der Entwicklungsgeschichte, der Gesellschaftswissenschaft hat diese Theorie dieselbe Rolle gespielt wie die Theorie der einzelnen physikalischen Kräfte in der Naturwissenschaft. Die Errungenschaften der Naturwissenschaften haben zur Lehre von der Einheit dieser Kräfte, zur modernen Energielehre geführt. Ebenso mußten auch die Errungenschaften der Gesellschaftswissenschaft dazu führen, daß die Theorie der Faktoren als Resultat einer gesellschaftlichen Analyse durch eine synthetische Auffassung des gesellschaftlichen Lebens ersetzt wurde.

Die synthetische Auffassung des gesellschaftlichen Lebens ist keine Besonderheit des heutigen dialektischen Materialismus. Wir finden sie schon bei Hegel, der seine Aufgabe darin sah, den ganzen gesellschaftlich-historischen Prozeß, in seiner Gesamtheit genommen, wissenschaftlich zu erklären, d.h. unter anderem samt allen jenen Seiten und Äußerungen der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, die dem abstrakt denkenden Menschen als einzelne Faktoren vorschwebten. Als „absoluter Idealist“ erklärte, aber Hegel die Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen aus den Eigenschaften des Weltgeistes. Sind diese Eigenschaften einmal gegeben, so ist die gesamte Geschichte der Menschheit „an sich“, so sind auch ihre Endresultate gegeben. Die synthetische Auffassung Hegels war zu gleicher Zeit eine teleologische Auffassung. Der moderne dialektische Materialismus hat die Teleologie aus der Gesellschaftswissenschaft endgültig verbannt.

Er hat gezeigt, daß die Menschen ihre Geschichte keineswegs dazu machen, um in Bahnen des Fortschritts zu. wandeln, die im voraus vorgezeichnet seien, und auch nicht, weil sie den Gesetzen irgendeiner abstrakten (nach Labriolas Ausdruck – metäphysischen) Evolution gehorchen müssen. Sie machen die Geschichte aus dem Bestreben heraus, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und die Wissenschaft hat uns zu erklären wie die verschiedenen Methoden der Befriedigung dieser Bedürfnisse die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und ihre geistige Tätigkeit beeinflussen.

Die Art und Weise der Befriedigung der Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen, ja, in hohem Grade auch diese Bedürfnisse selbst werden durch die Eigenschaften der Werkzeuge bestimmt, mit deren Hilfe sie sich mehr oder weniger die Natur unterwerfen; mit anderen Worten, sie werden bestimmt durch den Zustand seiner Produktivkräfte. Jede bedeutende Veränderung im Zustand dieser Kräfte spiegelt sich auch in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen wider, d.h. unter anderem auch in ihren ökonomischen Beziehungen. Für die Idealisten aller Gattungen und Spielarten waren die ökonomischen Beziehungen eine Funktion der menschlichen Natur; die dialektischen Materialisten halten diese Beziehungen für eine Funktion der gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Hieraus folgt: würden die dialektischen Materialisten es für angängig halten, von den Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung in einem anderen Sinne zu reden als zum Zwecke der Kritik dieser veralteten Fiktionen, so hätten sie vor allem die sogenannten ökonomischen Materialisten auf die Veränderlichkeit ihres „dominierenden“ Faktors aufmerksam machen müssen; die modernen Materialisten kennen keine ökonomische Ordnung, die allein der menschlichen Natur entsprechen würde, während alle anderen Arten der ökonomischen Struktur der Gesellschaft mehr oder minder die Folge einer Vergewaltigung dieser Natur wären. Nach der Lehre der modernen Materialisten entspricht der menschlichen Natur jede ökonomische Ordnung, die dem Zustand der Produktivkräfte in der betreffenden Zeit entspricht. Und umgekehrt, jede beliebige ökonomische Ordnung beginnt die Anforderungen dieser Natur zu widersprechen, sobald sie zu dem Zustand der Produktivkräfte in Widerspruch gerät. Der „dominierende“ Faktor ist also einem anderen „Faktor“ unterworfen. Nun, wie steht es nach all dem mit seinem „Dominieren“?

Wenn dem allen so ist, dann ist klar, daß zwischen den dialektischen Materialisten und den Leuten, die man nicht ohne Grund als ökonomische Materialisten bezeichnen kann, ein wahrer Abgrund liegt. Zu welcher Richtung gehören aber jene ganz unangenehmen Schüler des nicht ganz angenehmen Lehrers, gegen die die Herren Karejew, N. Michailowski, S. Kriwenko und andere gescheiten und gelehrten Leute noch vor kurzem mit so viel Leidenschaft, wenn auch nicht mit ebensoviel Erfolg auftraten? Wenn wir uns nicht irren, vertraten die „Schüler“ ganz und gar den Standpunkt des dialektischen Materialismus. Warum haben ihnen dann die Herren Karejew, N. Michailowski, S. Kriwenko und andere gescheiten und gelehrten Leute die Auffassungen der ökonomischen Materialisten zugeschrieben und gegen sie gerade deswegen gewettert, weil sie angeblich dem ökonomischen Faktor eine übertriebene Bedeutung beimessen? Man könnte annehmen, daß die gescheiten und gelehrten Leute das taten, weil die Argumente der ökonomischen Materialisten seligen Andenkens leichter zu widerlegen sind als die Argumente der dialektischen Materialisten. Man könnte aber auch annehmen, daß unsere gelehrten Gegner der Schüler deren Auffassungen schlecht kapiert haben. Diese Vermutung scheint sogar wahrscheinlicher zu sein.

Man wird uns womöglich erwidern, daß die „Schüler“ selber sich mitunter als ökonomische Materialisten bezeichneten und daß die Bezeichnung „ökonomischer Materialismus“ zum erstenmal von einem der französischen „Schüler“ gebraucht worden ist. Das stimmt. Aber weder die französischen noch die russischen Schüler haben je an das Wort „ökonomischer Materialismus“ die Vorstellung geknüpft, die unsere Volkstümler und Subjektivisten mit ihm verbinden. Es genügt, an den Umstand zu erinnern, daß – nach der Meinung des Herrn N. Michailowski – Louis Blanc und der Herr J. Shukowski ebensolche „ökonomische Materialisten“ waren, wie es unsere heutigen Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung sind. Weiter kann die Begriffsverwirrung nicht gehen.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008