Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



IV

Der dialektische Materialismus [1], der aus der Gesellschaftswissenschaft jedwede Teleologie beseitigt und die Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen aus seinen Bedürfnissen und den zur gegebenen Zeit vorhandenen Mitteln und Methoden ihrer Befriedigung erklärt, verleiht zum erstenmal der obengenannten Wissenschaft diejenige „Strenge“, mit der sich ihre Schwesterwissenschaft, die Naturwissenschaft, vor ihr zu brüsten pflegte. Man könnte sagen, daß die Gesellschaftswissenschaft selbst zur Naturwissenschaft wird: „notre doctrine naturaliste d’histoire“ [1*] sagt mit Recht Labriola. Aber das bedeutet keineswegs, daß für ihn das Reich der Biologie mit dem der Gesellschaftswissenschaft verschmilzt. Labriola ist ein glühender Gegner des „politischen und sozialen Darwinismus“, der schon längst „wie eine Epidemie die Köpfe vieler Denker, besonders der Advokaten und Schönredner der Soziologie“ verseucht und als Modegewohnheit sogar die Sprache der politischen Praktiker beeinflußt hat.

Der Mensch ist ohne Zweifel ein Tier, das durch Bande der Verwandtschaft mit den anderen Tieren verbunden ist. Seiner Abstammung nach ist er keineswegs ein privilegiertes Wesen; die Physiologie seines Organismus ist nichts mehr als ein Einzelfall der allgemeinen Physiologie. Ursprünglich stand er, ähnlich wie die anderen Tiere, gänzlich unter dem Einfluß des ihn umgebenden natürlichen Milieus, das damals noch nicht die gestaltverändernde Einwirkung des Menschen erfahren hatte; er müßte sich im Kampf um seine Existenz dem Milieu anpassen. Nach der Auffassung Labriolas ergaben sich aus dieser unmittelbaren – Anpassung an das natürliche Milieu die Rassen, soweit sie sich voneinander durch physische Merkmale unterscheiden (zum Beispiel die weiße, die schwarze, die gelbe Rasse) und keine sekundären, historischen und sozialen Formationen, d.h. Nationen und Völker darstellen. Als Ergebnis dieser Anpassung an das natürliche Milieu im Kampf ums Dasein entstanden die Urinstinkte des Gemeinwesens und die Anfänge der geschlechtlichen Zuchtwahl.

Wir können uns jedoch nur Vermutungen darüber hingeben wie der „Urmensch“ aussah. Die Menschen, die gegenwärtig die Erde bevölkern, ebenso wie diejenigen, die früher von zuverlässigen Forschern beobachtet worden sind, sind zeitlich schon ziemlich weit von dem Moment entfernt, da für die Menschheit das tierische Leben im eigentlichen Sinne dieses Wortes aufgehört hat. So z.B. sind die Irokesen mit ihrer – von Morgan erforschten und beschriebenen – gens materna schon relativ weit auf dem Wege der gesellschaftlichen Entwicklung vorgeschritten. Sogar die heutigen Australier besitzen nicht nur eine Sprache – die man als Bedingung und Werkzeug, als Ursache und Folge des Gemeinwesens bezeichnen kann – und sind nicht nur mit dem Gebrauch des Feuers vertraut, sondern leben in Gesellschaften, die eine bestimmte Ordnung und bestimmte Gebräuche und Einrichtungen haben. Der australische Stamm hat sein Gebiet, seine Jagdmethoden; er verfügt über gewisse Werkzeuge der Verteidigung und des Angriffs, über gewisse Geräte zur Aufbewahrung der Vorräte, kennt gewisse Methoden der Verzierung des Körpers, mit einem Wort, der Australier lebt bereits in einem gewissen, freilich sehr primitiven, künstlichen Milieu, dem er sich von seiner frühsten Kindheit an anpaßt. Dieses künstliche – gesellschaftliche – Milieu ist die notwendige Bedingung jedes weiteren Fortschritts. An dem Entwicklungsgrad dieses Milieus wird der Grad der Wildheit oder Barbarei eines jeden anderen Stammes gemessen.

Diese gesellschaftliche Urformation entspricht den sogenannten prähistorischen Lebensformen der Menschheit. Die Anfänge des historischen Seins setzen eine noch weitere Entwicklung des künstlichen Milieus und eine noch größere Macht des Menschen über die Natur voraus. Die komplizierten inneren Beziehungen der Gesellschaften, die den Weg der historischen Entwicklung beschreiten, werden eigentlich gar nicht durch den unmittelbaren Einfluß des natürlichen Milieus bedingt. Sie setzen voraus: die Erfindung gewisser Arbeitswerkzeuge, die Zähmung gewisser Tiere, die Fähigkeit, gewisse Metalle zu gewinnen u.ä.m. Diese Produktionsmittel und diese Produktionsweise änderten sich unter den verschiedenen Verhältnissen in sehr verschiedener Art; an ihnen konnte man Fortschritt, Stagnation oder gar Rückschritt beobachten, aber niemals führten diese Änderungen die Menschen zu dem rein tierischen Leben, d.h. zu einem Leben unter dem unmittelbaren Einfluß des natürlichen Milieus, zurück.

„Die erste und wichtigste Aufgabe der historischen Wissenschaft ist die Bestimmung und Erforschung dieses künstlichen Milieus, ihres Ursprungs und ihrer Modifikationen. Sagen, daß dieses Milieu einen Teil der Natur bildet, heißt einen Gedanken aussprechen, der überhaupt keinen bestimmten Sinn hat, da er allzu allgemein und abstrakt ist.“ [2]

Nicht weniger negativ als zu dem „politischen und sozialen Darwinismus“ verhält sich Labriola auch zu den Bemühungen gewisser lieber Dilettanten“, die materialistische Geschichtsauffassung mit der allgemeinen Theorie der Evolution zu verbinden, die sich, nach seiner schroffen aber richtigen Bemerkung, bei vielen in eine einfache metaphysische Metapher verwandelt hat. Er verspottet auch die naive Liebenswürdigkeit der „lieben Dilettanten“, die sich bemühen, die materialistische Geschichtsauffassung - unter den Schutz der Philosophie von Auguste Comte oder von Spencer zu stellen: „das bedeutet so viel, daß man unsere entschiedensten Gegner als Verbündete hinstellt“, sagt er.

Die Bemerkung über die Dilettanten bezieht sich offenbar auch auf Professor Enrico Ferri, den Verfasser eines sehr oberflächlichen Buches Spencer, Darwin und Marx, das in französischer Übersetzung unter dem Titel Socialisme et science positive erschienen ist.


Fußnoten von Plechanow

1. Labriola gebraucht die von Engels entlehnte Bezeichnung: historischer Materialismus.

2. Essais, S.144.


Anmerkung des Übersetzers

1*. „Unsere naturwissenschaftliche Geschichtslehre“.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008