Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



V

Also, die Menschen machen ihre Geschichte aus dem Bestreben heraus, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Selbstverständlich werden diese Bedürfnisse ursprünglich durch die Natur bestimmt; aber dann werden sie durch die Eigenschaften des künstlichen Milieus in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedeutend verändert. Die den Menschen zur Verfügung stehenden Produktivkräfte bedingen alle ihre gesellschaftlichen Beziehungen. Durch den Zustand der Produktivkräfte werden vor allem diejenigen Beziehungen bedingt, in die die Menschen im gesellschaftlichen Prozeß der Produktion zueinander treten, d.h. die ökonomischen Beziehungen. Diese Beziehungen erzeugen natürlicherweise gewisse Interessen, die ihren Ausdruck im, Recht finden. „Durch jede Rechtsnorm wird ein gewisses Interesse geschützt“, sagt Labriola. Die Entwicklung der Produktivkräfte erzeugt die Teilung der Gesellschaft in Klassen, deren Interessen nicht nur verschieden, sondern in vielen – und zwar in wesentlichen – Beziehungen diametral entgegengesetzt sind. Dieser Interessengegensatz erzeugt feindliche Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Klassen, den Kampf zwischen ihnen. Der Kampf führt dazu, daß an Stelle der Gentilorganisation die Staatsorganisation tritt, deren Aufgabe darin besteht, die herrschenden Interessen zu schützen. Auf dem Boden der gesellschaftlichen Beziehungen, die durch den gegebenen Zustand der Produktivkräfte bedingt sind, erwächst schließlich die landläufige Moral, d.h. die Moral, von der sich die Menschen in ihrer üblichen alltäglichen Praxis leiten lassen.

Auf diese Weise sind Recht, Staatsordnung und Moral eines jeden gegebenen Volkes unmittelbar und direkt durch die ihm eigentümlichen ökonomischen Beziehungen bedingt. Diese Beziehungen bedingen auch – aber schon indirekt und mittelbar – alle Schöpfungen des Denkens und der Phantasie: Kunst, Wissenschaft usw.

Um die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens oder die Geschichte der Kunst des betreffenden Landes zu verstehen, genügt es nicht, seine Ökonomie zu kennen. Man muß verstehen, von der Ökonomie zur gesellschaftlichen Psychologie überzugehen, ohne deren aufmerksames Studium und Begreifen eine materialistische Erklärung der Geschichte der Ideologien unmöglich ist. Das bedeutet natürlich nicht, daß es irgendeine gesellschaftliche Seele oder irgendeinen kollektiven Volks“geist“ gibt, der sich nach seinen eigenen, besonderen Gesetzen entwickele und seinen Ausdruck im gesellschaftlichen Leben finde. „Das ist reinster Mystizismus“, sagt Labriola. Für den Materialisten kann in diesem Fall nur die Rede sein von dem vorherrschenden Gemüts- und Geisteszustand der betreffenden gesellschaftlichen Klasse des betreffenden Landes und der betreffenden Zeit. Diese Einstellung der Gefühle und Gedanken ist ein Resultat der gesellschaftlichen Beziehungen. Labriola ist fest davon überzeugt, daß nicht die Bewußtseinsformen der Menschen die Formen ihres gesellschaftlichen Seins bestimmen, sondern umgekehrt, daß durch die Formen ihres gesellschaftlichen Seins die Formen ihres Bewußtseins bestimmt werden. Aber einmal auf dem Boden des gesellschaftlichen Seins entstanden, bilden die Bewußt~seinsformen einen Teil der Geschichte. Die Geschichtswissenschaft kann sich nicht auf die Anatomie der Gesellschaft allein beschränken; sie hat die totale Gesamtheit der Erscheinungen im Auge, die direkt oder indirekt durch die gesellschaftliche Ökonomie bedingt sind, einschließlich der Arbeit der Phantasie. Es gibt keine einzige historische Tatsache, die ihren Ursprung nicht der gesellschaftlichen Ökonomie zu verdanken hätte; aber ebenso richtig ist auch, daß es keine einzige geschichtliche Tatsache gibt, der nicht ein bestimmter Bewußtseinszustand vorangegangen wäre, die nicht von einem bestimmten Bewußtseinszustand begleitet und abgelöst würde. Hieraus ergibt sich die gewaltige Bedeutung der gesellschaftlichen Psychologie. Wenn man ihr schon in der Geschichte des Rechts und der politischen Institutionen Rechnung tragen muß, so kann man in der Geschichte der Literatur, der Kunst, der Philosophie u.a. ohne sie keinen Schritt tun.

Wenn wir sagen, daß das betreffende Werk den Geist der Epoche, zum Beispiel der Renaissance, absolut getreu wiedergibt, so will damit gesagt sein, daß dieses Werk der zu jener Zeit vorherrschenden Stimmung der im gesellschaftlichen Leben tonangebenden Klassen vollkommen entspricht. Solange die gesellschaftlichen Beziehungen sich nicht geändert haben, ändert sich auch die Psychologie der Gesellschaft nicht. Die Menschen gewöhnen sich an die gegebenen Glaubensbekenntnisse, die gegebenen Begriffe, die gegebenen Denkmethoden, die gegebene Art und Weise, die gegebenen ästhetischen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn aber die Entwicklung der Produktivkräfte zu einigermaßen wesentlichen Veränderungen in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft und infolgedessen auch der gegenseitigen Beziehungen der gesellschaftlichen Klassen führt, so ändert. sich auch die Psychologie dieser Klassen und mit ihr auch der „Zeitgeist“ und der „Volkscharakter“. Diese Veränderung findet ihren Ausdruck in dem Aufkommen neuer religiöser Anschauungen oder neuer philosophischer Begriffe, neuer Kunstrichtungen oder neuer ästhetischer Bedürfnisse.

Nach Labriolas Auffassung muß auch berücksichtigt werden, daß in den Ideologien häufig eine sehr große Rolle das überleben von Begriffen und Richtungen spielt, die von den Ahnen ererbt werden und bloß aus Tradition erhalten bleiben. Außerdem macht sich in den Ideologien auch der Einfluß der Natur bemerkbar.

Das künstliche Milieu verändert, wie wir bereits wissen, sehr stark den Einfluß der Natur auf den gesellschaftlichen Menschen. Dieser Einfluß wird aus einem unmittelbaren zum mittelbaren. Er. besteht jedoch fort. Im Temperament eines jeden. Volkes sind gewisse, durch den Einfluß des natürlichen Milieus erzeugte Besonderheiten erhalten, die bis zu einem gewissen Grade sich verändern, aber durch die Anpassung an das gesellschaftliche Milieu niemals vollständig verschwinden. Diese Besonderheiten des Volkstemperaments bilden das, was man Rasse nennt. Die Rasse übt unzweifelhaft auf die Geschichte gewisser Ideologien, so zum Beispiel der Kunst, einen Einfluß aus. Und dieser Umstand erschwert ihre ohnehin nicht leichte wissenschaftliche Erklärung noch mehr.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008