Georgi Plechanow


Über materialistische Geschichtsauffassung



VI

Wir haben recht ausführlich und hoffentlich genau Labrolas Auffassungen über die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen von, der ökonomischen Struktur der Gesellschaft geschildert, die ihrerseits durch den Zustand ihrer Produktivkräfte bedingt ist. Zum großen Teil sind wir mit ihm vollkommen einverstanden. Aber stellenweise rufen seine Auffassungen bei uns gewisse Bedenken hervor, anläßlich deren wir einige Bemerkungen machen möchten.

Wir wollen vor allem auf folgendes hinweisen. Nach Labriola ist der Staat eine Organisation der Herrschaft der einen gesellschaftlichen Klasse über eine andere oder über andere. Dem ist so. Aber das drückt wohl kaum die ganze Wahrheit aus. In solchen Staaten wie China oder im alten Ägypten, wo das zivilisierte Leben ohne komplizierte und weitläufige Arbeiten zur Regulierung des Laufes und der Überschwemmung der großen Flüsse und zur Organisierung der Bewässerung unmöglich war, kann die Entstehung des Staates vielleicht in hohem Grade aus dem unmittelbaren Einfluß der Bedürfnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses erklärt werden. Ungleichheit bestand dort zweifellos schon in prähistorischer Zeit und in dem oder jenem Grade sowohl innerhalb der Stämme, die den Staat bildeten – und die oft ihrer ethnographischen Abstammung nach vollkommen verschieden waren – als auch zwischen den Stämmen. Aber die herrschenden Klassen, die wir in der Geschichte dieser Länder antreffen, haben eine mehr oder minder hohe gesellschaftliche Stellung gerade dank der staatlichen Organisation eingenommen, die durch die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ins Leben gerufen wurde. Es ist wohl kaum daran zu zweifeln, daß der Stand der ägyptischen Priester seine Herrschaft der gewaltigen Bedeutung zu verdanken hatte, die ihre primitiven wissenschaftlichen Kenntnisse für das ganze System des ägyptischen Ackerbaus hatten. [1] Im Westen, zu dem man natürlich auch Griechenland zählen muß, nehmen wir keinen Einfluß der unmittelbaren Bedürfnisse des gesellschaftlichen Produktionsprozesses – der dort keine einigermaßen breite gesellschaftliche Organisation voraussetzt – auf die Entstehung des Staates wahr. Aber auch dort muß diese Entstehung in hohem Grade abgeleitet werden aus der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte erzeugt wurde. Dieser Umstand hat natürlich den Staat nicht gehindert, zu gleicher Zeit eine Organisation der Herrschaft der privilegierten Minderheit über die mehr oder weniger unterdrückte Mehrheit zu sein. [2] Aber man darf ihn keineswegs aus dem Auge verlieren, wenn man schiefe und einseitige Begriffe über die historische Rolle des Staates vermeiden will.

Und nun gehen wir zu den Ansichten Labriolas über die historische Entwicklung der Ideologien über. Wir haben gesehen, daß seiner Meinung nach diese Entwicklung kompliziert wird durch die Wirkung der Rassenmerkmale und überhaupt durch den Einfluß des natürlichen Milieus auf die Menschen. Es ist sehr bedauerlich, daß unser Verfasser es nicht für nötig gehalten hat, diese Ansicht durch irgendwelche Beispiele zu bestätigen und zu erläutern; es würde uns dann leichter fallen, ihn zu verstehen. Es ist jedenfalls unzweifelhaft, daß diese Ansicht nicht so akzeptiert werden kann, wie sie zum Ausdruck gebracht worden ist.

Die Stämme der Rothäute Amerikas gehören natürlich nicht zu derselben Rasse wie die Stämme, die in prähistorischen Zeiten den griechischen Archipel oder die Küsten der Ostsee bevölkerten. Es ist unzweifelhaft, daß der Urmensch in jeder dieser Gegenden sehr eigentümliche Einflüsse des natürlichen Milieus erfuhr. Man könnte also erwarten, daß die Verschiedenheit dieser Einflüsse sich in den Werken der primitiven Kunst der Urbewohner der genannten Gegenden widerspiegeln würde. Und dennoch merken wir nichts von alldem. In allen Teilen des Erdballs, so verschieden sie voneinander auch sein mögen, entsprechen den gleichen Entwicklungsstufen des Urmenschen die gleichen Entwicklungsstufen der Kunst. Wir kennen die Kunst der Steinzeit, die Kunst der Eisenzeit; wir kennen aber nicht die Kunst der verschiedenen Rassen: der weißen, der gelben usw. Der Zustand der Produktivkräfte spiegelt sich selbst in Einzelheiten wider. Zuerst treffen wir zum Beispiel auf den Tongefäßen nur gerade und gebrochene Linien an: Vierecke, Kreuze, Zickzacklinien usw. Diese Art Verzierungen übernimmt die primitive Kunst von den noch primitiveren Handwerken: der Weberei und Flechterei. In der Bronzezeit kommen zugleich mit der Bearbeitung der Metalle, die bei der Bearbeitung alle möglichen geometrischen Formen annehmen können, krummlinige Verzierungen auf; mit der Zähmung der Tiere tauchen schließlich Tierfiguren und vor allem die Figur des Pferdes auf. [3]

Allerdings, bei der Darstellung des Menschen muß doch schon unbedingt der Einfluß der Rassenmerkmale auf die den primitiven Künstlern eigentümlichen „Schönheitsideale“ zum Ausdruck kommen. Es ist bekannt, daß jede Rasse sich, besonders auf den ersten Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung, für die schönste hält und gerade diejenigen Merkmale hoch schätzt, durch die sie sich von den anderen Rassen unterscheidet. [4] Diese Besonderheiten der Rassenästhetik können aber erstens – soweit sie konstant bleiben – durch ihren Einfluß den Gang der Kunstentwicklung nicht ändern; und zweitens sind auch sie nur bis zu einer gewissen Zeit, d. h. nur unter gewissen Bedingungen, beständig. In den Fällen, wo der betreffende Stamm sich gezwungen sieht, die Überlegenheit eines anderen, höher entwickelten Stammes anzuerkennen, verschwindet seine Rassen- Selbstzufriedenheit und an ihre Stelle tritt die Nachahmung des fremden Geschmackes, der früher als lächerlich, ja mitunter gar als schamlos, widerwärtig galt. Hier geschieht mit dem Wilden dasselbe, was in der zivilisierten Gesellschaft mit dem Bauern vor sich geht, der zuerst die Sitten und die Kleidung der Städter auslacht, und dann – in dem Maße wie die Herrschaft der Stadt über das Land einsetzt und sich ausbreitet – sich bemüht, sie sich nach Kräften zu eigen zu machen.

Was die geschichtlichen Völker betrifft, so wollen wir vor allem darauf hinweisen, daß in Anwendung auf diese, das Wort Rasse überhaupt nicht gebraucht werden kann und darf. Wir kennen kein einziges geschichtliches Volk, das man als reinrassiges Volk bezeichnen könnte; jedes Volk ist das Resultat einer außerordentlich langwährenden und starken gegenseitigen Kreuzung und Mischung von verschiedenen ethnischen Elementen.

Nach alledem versuche man gefälligst, den Einfluß der „Rasse“ auf die Geschichte der Ideologien bei diesem oder jenem Volke festzustellen!

Auf den ersten Blick will es scheinen, daß nichts einfacher und richtiger sei als der Gedanke, daß das natürliche Milieu das Volkstemperament und vermittels des Temperaments die Geschichte der geistigen und ästhetischen Entwicklung des Volkes beeinflusse. Aber Labriola hätte sich bloß die Geschichte seines eigenen Landes in Erinnerung rufen sollen, um sich von der Irrtümlichkeit dieses Gedankens zu überzeugen. Die heutigen Italiener leben in demselben natürlichen Milieu, in dem die alten Römer lebten, und indes, wie wenig gleicht doch das Temperament“ der heutigen Tributäre Meneliks dem Temperament der rauhen Besieger Karthagos! Wären wir auf den Gedanken verfallen, die Geschichte z.B. der italienischen Kunst aus dem italienischen Temperament zu erklären, so würden wir sehr bald ratlos vor der Frage haltmachen müssen, welches denn die Ursachen seien, die das Temperament selbst zu verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Teilen der Apenninischcn Halbinsel so stark verändert haben.



Fußnoten von Plechanow

1. Einer der chaldäischcn Könige sagt von sich selbst: „Ich habe zum Wohl der Menschen die Geheimnisse der Flüsse erforscht ... Ich habe das Flußwasser in die Wüsten geleitet: ich habe damit die ausgetrockneten Gräben gefüllt ... Ich habe die Wüstenebenen bewässert; ich habe ihnen Fruchtbarkeit und Überfluß verliehen. Ich habe aus ihnen eine Stätte des Glückes gemacht.“ Hier wird richtig, wenn auch prahlerisch, die Rolle des orientalischen Staates bei der Organisierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses geschildert.

2. Wie er ihn in manchen Fällen auch nicht hindert, ein Resultat der Eroberung des einen Volkes durch das andere zu sein. Die Rolle der Gewalt ist bei der Ablösung der gegebenen Einrichtungen durch andere sehr groß. Aber sowohl die Möglichkeit einer solchen Ablösung als auch ihre gesellschaftlichen Resultate werden durch die Gewalt nicht im geringsten erklärt.

3. Über all das siehe die Einleitung zur Geschichte der Kunst von Wilhelm Lübke.

4. Darüber siehe Darwin, Descent of man, London 1883, S.582-585.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008