Georgi Plechanow


Wofür sollen wir ihm dankbar sein?


Hochverehrter und lieber Genosse!

Vor allem gestatten Sie mir, Ihnen meinen Dank für das Vergnügen auszusprechen, das mir Ihre Reden auf dem Stuttgarter Parteitag der deutschen Sozialdemokratie bereitet haben. Im Zusammenhange mit der Ihnen zuteil gewordenen, begeisterten Zustimmung seitens der erdrückenden Mehrheit der Parteitagsdelegierten, bilden diese Reden ein politisches Ereignis von großer Tragweite. Konnten früher die Reden und Aufsätze einiger Mitglieder der deutschen Arbeiterpartei – diejenigen der Herren Bernstein, Conrad Schmidt und Heine – in den Herzen unserer Feinde die angenehme Hoffnung wachrufen, die deutsche Sozialdemokratie wäre im Begriff, den revolutionären Boden des Klassenkampfes zu verlassen und sich auf den sumpfigen Pfad des Opportunismus zu begeben, so zerstreute sich nun diese Hoffnung wie blauer Dunst. Jetzt sind keine Zweifel darüber möglich. Nunmehr sieht jedermann ein, daß die Herren Bernstein, Conrad Schmidt und Heine durchaus nicht die Anschauungen der Partei zum Ausdruck brachten, und daß Genosse Singer in seiner Schlußrede mit vollem Rechte sagen durfte: Wir sind, was wir waren, und wir bleiben, was wir sind! Jawohl, die deutsche Sozialdemokratie ist wirklich geblieben, was sie allezeit und immer gewesen ist: die treue Fahnenträgerin des revolutionären Gedankens unserer Zeit! [1]

Leider finden sich in einer Ihrer Reden Stellen, die geeignet sind, den tiefen und erfreulichen Eindruck derselben gewissermaßen zu schwächen und in der Zukunft zu bedeutenden Mißverständnissen Anlaß zu geben. Ich habe hier im Auge Ihre Rede gegen Bernstein, und da deren fragliche Stellen gewiß nicht nur mir allein, sondern auch manch anderem aufgefallen sein dürften, so will ich sie, statt in einer privaten Unterhaltung mit Ihnen, in einem offenen Brief an Sie besprechen.

In Ihrer Rede sagten Sie: „Bernstein hat uns nicht entmutigt, sondern [uns nur] zum Nachdenken veranlaßt, dafür, wollen wir ihm dankbar sein.“ [2]

Das ist richtig, aber nur zum Teil. Bernstein hat in der Tat die deutsche Sozialdemokratie durchaus nicht entmutigt. Das beweisen die auf dem Stuttgarter Parteitage gefaßten Beschlüsse. Ob er uns aber zum Nachdenken veranlaßt hat, ob er es auch nun konnte? Ich glaube – kaum.

Um jemand zum Nachdenken anzuregen, ist es notwendig, entweder auf neue Tatsachen hinzuweisen, oder aber schon bekannte Tatsachen in neuem Lichte erscheinen zu lassen. Bernstein hat weder das eine noch das andere getan. Deshalb konnte er auch niemand zum Nachdenken anregen.

Oder irre ich vielleicht in meiner Würdigung der literarischen Tätigkeit Bernsteins? Wohlan, sehen wir zu.

Wie es sich von selbst versteht, interessiert uns hier nun derjenige Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit, der ihm seitens einiger Genossen die bekannten Vorwürfe zugezogen hat. Es sind die letzten Jahre seiner Tätigkeit, die hier in Betracht kommen. Über die früheren literarischen Leistungen Bernsteins kann man wohl verschiedener Meinung sein, aber hier uns darüber zu verbreiten, liegt nicht der geringste Anlaß vor.

Während der letzten Jahre kämpfte nun Bernstein gegen das, was er als revolutionäre Phrase bezeichnet hat im allgemeinen und gegen die „Zusammenbruchstheorie“ im besonderen. Der Schwerpunkt seiner Beweisführung gegen diese Theorie liegt in dem Hinweis auf die, wie er glaubt, zweifellose Tatsache, daß viele von Marx und Engels in dem Kommunistischen Manifeste vertretenen Ansichten durch den späteren Entwicklungsgange des sozialen Lebens nicht bestätigt worden wären. „Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse“, sagt er, „hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das Manifest schildert. Es ist nicht nun nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusamrnenschrumpfenden Zahl von Kapitalistenmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.“ [3] Fügen wir nun zu diesen Ausführungen Bernsteins seine Bemerkungen hinzu, daß in manchen Industriezweigen die Konzentration sich sehr langsam vollzieht und daß künftighin die Handelskrisen nicht den akuten und allgemeinen Charakter haben dürften wie zuvor, so kann man mit vollem Rechte sagen, daß damit alle seine Argumente gegen die „Zusammenbruchstheorie“ erschöpft sind. Und nun sehen Sie sich, hochverehrter und lieber Genosse, diese Beweisführung aufmerksam an, und Sie werden selbst einsehen, daß darin nichts, aber auch gar nichts enthalten ist, was uns nicht schon unzählige Male von unseren Gegnern aus dem bürgerlichen Lager gesagt worden wäre. Dann werden Sie auch zugeben müssen, daß wir durchaus keinen Grund haben, uns Bernstein gegenüber verpflichtet zu fühlen.

Es sind Ihnen gewiß die Schriften des Herrn Schulze-Gaevernitz bekannt. Nehmen Sie bitte sein Buch Zum sozialen Frieden und lesen Sie im 2. Bande die Seite 487 und folgende. Herr Schulze-Gaevernitz sucht daselbst die „Zusammenbruchstheorie“ zu widerlegen, die er folgendermaßen formuliert: „Die großindustrielle Entwickelung bedeute fortschreitende Herabdrückung der Arbeiter zum unterschiedslosen Proletariat, Häufung des Reichtums in wenigen Händen, Verschwinden der Mittelstände, Auftreten der sozialrevolutionären Partei.“ Nach Schulze-Gaevernitz stimmen nun die Tatsachen mit dieser Theorie nicht Überein. „Die eingehende Statistik des ‚Board of Trade‘ stellt für England das Gegenteil fest, womit der sozialrevolutionären Richtung der Boden entzogen wird.“ [4] Einerseits habe sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiter im Laufe der letzten 50 Jahre fortwährend verbessert, andererseits habe „jene weit verbreitete Vorstellung, wonach der Besitz in immer weniger Hände zusammenfließt“ [5], sich als irrtümlich erwiesen. Schließlich ziehe die Verbreitung der Aktiengesellschaften immer zahlreichere Besitzer kleiner Ersparnisse zur Teilnahme an den Profiten großer industrieller Unternehmungen heran. [6] Alle diese Umstände zusammen genommen ergeben nach Schulze-Gaevernitz für die friedliche Lösung der sozialen Frage Gewähr.

Die gleichen Ansichten bringt er auch in seinem anderen Werke: Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt zum Ausdruck:

„Weit entfernt, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, ist gerade das Gegenteil der Fall, wie für England statistisch nachgewiesen ist. Zu der Zeit, da die industriellen Arbeitgeber gesellschaftlich und politisch die erste Stelle erobern, beginnen hinter ihnen neue Mittelklassen emporzukommen, welche zuerst wirtschaftlich und dann politisch an Bedeutung gewinnen.“ (S. 225) [7] Die Ausführungen und Schlußfolgerungen von Schulze-Gaevernitz beziehen sich auf England. Er gibt zu, daß in anderen Ländern die Verhältnisse anders liegen und daß in Deutschland z.B. „die Mittelklassen noch vielfach abnehmen“. [8] Er erklärt aber diese Tatsache einfach durch die Rückständigkeit Deutschlands und deutet auf diese Weise an, daß mit der Zeit das, was er in bezug auf England zu behaupten sich für berechtigt halt, auch für Deutschland seine volle Geltung haben würde. [9]

Hier ist nicht der Ort, zu zeigen, wie einseitig und tendenziös die Ausführungen und Schlußfolgerungen von Schulze-Gaevernitz sind. Sie wissen es auch, hochverehrter und lieber Genosse, selbstverständlich viel besser als ich. G.J. Goschen, gerade einer jener Forscher, die nachweisen wollten, daß in England jetzt eine neue Mittelklasse im Entstehen begriffen sei, bemerkt in seiner am 6. Dezember 1887 in der Londoner Statistischen Gesellschaft gehaltenen Rede: „Das für die Statistiker beleidigende Wort von ‚den Zahlen, die alles beweisen können‘, bedeutet nun soviel, daß Zahlen, die niemals Unwahres sagen, in einer Weise behandelt werden können, daß sie etwas Falsches beweisen. An sich lügen die Zahlen nie, aber jedermann muß gestehen, daß es kein anderes, gleich genaues und glaubwürdiges Material gibt, welches so leicht für Spezialzwecke entstellt werden könnte, wie gerade das statistische.“ Dieses Goschensche Wort kommt mm jedesmal in Erinnerung, wenn ich gelegentlich die obenerwähnten Schriften von Schulze-Gaevernitz durchblättere. Ich will aber jetzt nicht näher darauf eingehen. Worauf ich Sie jetzt hinweisen wollte, ist, daß Bernstein nun das wiederholt, was schon einige Jahre von ihm von Schulze-Gaevernitz gesagt worden ist.

Aber auch Schulze-Gaevernitz hat absolut nichts Neues gesagt. Noch vor ihm verbreiteten sich über das gleiche Thema mehrere englische Statistiker, wie z.B. den schon erwähnte Goschen, ebenso mehrere französische Ökonomisten, so z.B. Paul Leroy-Beaulieu in seinem Versuch über die Verteilung des Reichtums und über die Tendenz zur geringsten Ungleichheit den sozialen Lage, Paris 1881. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die von mm zitierten Schriften von Schulze-Gaevernitz nichts anderes sind, als eine neue Variation auf ein altes und namentlich von Paul Leroy-Beaulieu am eingehendsten behandeltes Thema. Bernstein trabt nun so hinter den bürgerlichen Ökonomen her. Weshalb sollen wir nun ihm und nicht jenen Ökonomen Dank wissen? Weshalb sollen wir behaupten, daß nicht sie, sondern en, Bernstein, uns zum Nachdenken angeregt hat? Nicht doch, hochverehrten und lieber Genosse. Wenn schon wirklich hier von einer Pflicht zur Dankbarkeit unsererseits die Rede sein soll, dann wollen wir doch gerecht sein und unseren Dank an die entsprechende Adresse richten. Richten wir ihn gleich überhaupt an alle Anhänger und Anbeter den „wirtschaftlichen Harmonien“ und von allem selbstverständlich an den – unsterblichen Bastiat.

Bernstein hatte öfters sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß die „[Beispiele] ernsthafter Versuche, den wissenschaftlichen Sozialismus wissenschaftlich zu betätigen, noch sehr vereinzelt“ [10] seien, und, indem er seine Probleme des Sozialismus machte, hoffte er offenbar, diese Lücke in der sozialistischen Literatur auszufüllen. Als ihm ein Parteiblatt den Vorwurf gemacht hatte, „an altbewährten sozialdemokratischen Theorien und Forderungen zu nörgeln und zu mäkeln“, da erwiderte er mit Stolz, daß „jedes theoretische Arbeiten im ‚Nörgeln‘ und ‚Mäkeln‘ an bisher angenommenen Sätzen“ bestehe und daß, „wenn die Neue Zeit theoretisches Organ den Sozialdemokratie sein soll, sie sich dieses ‚Nörgelns‘ nicht werde entschlagen können“. – „Zudem – fügte en hinzu – welcher Irrtum wäre nicht zu irgend einer Zeit ‚altbewährte‘ Wahrheit gewesen!“ [11] Und was war das Ergebnis seines „theoretischen Arbeitens“? Einige spießbürgerliche Erwägungen, wie jene über die Wichtigkeit „des Prinzips den wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit“ – und dann ... entschiedene Schwenkung zum theoretischen Standpunkte der Gegner des wissenschaftlichen Sozialismus. Bernstein tischt uns „Wahrheiten“ der neueren bürgerlichen Ökonomie auf, und dabei bildet er sich ein, daß er „die Marxsche Theorie über den Punkt hinaus weiterbildet, wo der große Denker sie gelassen“. Welch seltsame Verblendung! Was Faust von Wagner, das kann man auch von Bernstein sagen, – daß er

Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn en Regenwürmer findet! [12]

Bei der Schließung des Stuttgarter Parteitages sagte Genosse Greulich, indem er Bernstein in Schutz nahm, unter anderem folgendes: „Ich bin der festen Überzeugung, daß unsere Sache nur gewinnen kann durch Kritik. Die deutsche Sozialdemokratie hat ein großes Erbteil angetreten von ihren großen Denkern Marx und Engels. Wir haben es nicht zu tun mit Wahrheiten in letzter Instanz, sondern mit einer Wissenschaft, die nur dann Wissenschaft ist, wenn sie jeweils mit den Tatsachen sich wieder abfindet.“ [13] Nichts richtiger als das. Aber glaubt denn Genosse Greulich wirklich, das große uns von Marx und Engels hinterlassene Erbteil könne etwas gewinnen durch eine eklektische Verquickung mit den Lehren der bürgerlichen Ökonomen? Kann en sich wirklich dazu entschließen, Kritik zu nennen, was nichts als ein gänzlich kritikloses Nachbeten dieser Lehren ist. Und bei Bernstein finden wir doch eben nichts anderes als ein solches kritikloses Nachbeten. Nur dank diesem kritiklosen Nachbeten konnte er uns seine Regenwürmer auftischen.

Beiläufig will ich bemerken, daß es nicht Bernstein allein ist, der sich eines solchen kritiklosen Verhaltens gegenüber den Lehren unserer Gegner schuldig gemacht hat, obwohl gerade bei Bernstein dies am krassesten zutage getreten ist. Manch andere unserer „gelehrten“ Genossen gefallen sich gelegentlich darin, zu zeigen, daß sie sich sogar Marx selbst gegenüber „kritisch“ zu verhalten vermögen. Zu diesem Zwecke nehmen sie seine Theorie in jener verzerrten Gestalt, die ihr von den bürgerlichen Gegnern verliehen wurde, und mit den diesen Gegnern entlehnten Argumenten üben sie dann siegreich ihre „Kritik“.

Sie begreifen es wohl, hochverehrter und lieber Genosse, daß von einer derartigen „Kritik“ nicht etwa die sozialistische Theorie, sondern höchstens jenes Ansehen, welches die Herren „Kritiker“ in den Kreisen der gebildeten Bourgeoisie genießen, gewinnen kann.

Die Marxsche Theorie ist keine ewige Wahrheit letzter Instanz. Das ist richtig. Aber sie ist die höchste soziale Wahrheit unserer Zeit, und wir haben ebensowenig Grund, diese Theorie in die Scheidemünze der „wirtschaftlichen Harmonie“ der neuesten Bastiats und Says auszuwechseln, wie die dahingehenden Versuche als eine ernste Kritik zu begrüßen und ihnen unseren Beifall zu spenden.

Verzeihen Sie mir diese Abschweifung, hochverehrten und lieber Genosse. Ich kehre nun zu Bernstein zurück, und zwar zu den von nun an berühmt gewordenen „Endziel“-Episode. [14]



Fußnoten

1. Siehe die Schlußrede von Paul Singer auf dem Stuttgarter Parteitag. In: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3.-8. Oktober 1898, Berlin 1898, S.228.

2. Rede Karl Kautskys auf dem Stuttgarter Parteitag. In: Ebenda, S.130.

3. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S.VI.

4. Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Zum sozialen Frieden. Eine Darstellung der sozialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1890, Bd.2, S.487.

5. Ebenda, S.491.

6. Siehe ebenda, S.493.

7. Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und Sozialer Fortschritt. Eine Studie auf dem Gebiet der Baumwollindustrie, Leipzig 1892, S.225.

8. Ebenda.

9. Ebenda.

10. Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in: Die Neue Zeit, XVI. Jahrgang, 1897/1898, Bd. 1, Nr.18, S.553.

11. Ebenda, S.554.

12. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd.8, Berlin/Weimar 1965, S.168.

13. Hermann Greulichs Abschiedsworte auf dem Stuttgarter Parteitag. In: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3.-8. Oktober 1898, S.226. In der Sächsischen Arbeiter-Zeitung wird der Schluß dieses Zitates so wiedergegeben: „... Wissenschaft, die sich immer wieder mit den Tatsachen abfinden muß“.

14. Eduard Bernstein hat seine bekannte These „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“ in dem Artikel Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft (Die Neue Zeit, XVI. Jahrgang, 1897/1898, Bd.1, Nr.18) und in der von Georgi Plechanow hier kritisierten Broschüre ausgearbeitet.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008