Karl Radek


Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse


10 Jahre deutscher imperialistischer Politik

1. Die Weltlage und der deutsch-englische Gegensatz

Das Einschwenken Deutschlands in das Fahrwasser der Weltpolitik, der Bau einer Flotte, die nicht zum Küstenschutz, sondern zur Teilnahme an den Entscheidungen in fernen Meeren bestimmt war, musste selbstverständlich die internationale Lage von Grund aus ändern. Zwar war der Übergang Deutschlands von der kontinentalen zur Weltpolitik nur als eine von vielen ähnlichen Wandlungen in der kapitalistischen Welt vor sich gegangen, deren Ausdruck das Eingreifen der Vereinigten Staaten Nordamerikas in die Entwicklung Ostasiens, das Aufkommen der japanischen Macht usw. bildete. Aber die Tatsache, dass Deutschland die militärisch stärkste Landmacht Europas ist – und Europa ist noch immer die Grundlage der Politik der imperialistischen Staaten geblieben – die Tatsache, dass es der stärkste und sich am schnellsten entwickelnde Industriestaat des Festlandes ist, hat seinem Eintreten in die Weltpolitik, seinem Streben, dass nichts in der Welt ohne sein Zutun geschehe, eine besondere Bedeutung verleihen müssen. Zuerst beeinflusste das Eintreten Deutschlands in die Reihe der imperialistischen Staaten seine Stellung in Europa. Während Deutschland bisher den Ausbreitungsbestrebungen Russlands auf dem Balkan, die sich mit den ähnlichen Bestrebungen Österreichs kreuzten, selbst uninteressiert gegenüberstand und sie ausnützen konnte zur Stärkung seiner diplomatischen Position, bekam es jetzt durch seine türkische Politik selbständiges Interesse an der Lösung der Orientfrage. Es konnte sich nicht mehr damit begnügen, den Appetit Russlands und Österreichs auf den Balkan dazu zu verwenden, um in Österreich die Furcht vor einem Zusammenstoß mit Russland zu stärken und das Bündnis mit Deutschland für die Donaumonarchie zur Notwendigkeit zu machen. Es musste danach trachten, dass die Türkei weder von Russland, noch von einer anderen Macht in ihren Lebensinteressen getroffen würde, weil sonst leicht die türkische Frage aufgerollt und entschieden werden konnte, bevor der wirtschaftliche Einfluss Deutschlands so stark war, dass bei einer eventuellen Teilung des türkischen Erbes auch Deutschland einen gehörigen Machtzuwachs bekommen könne. So verwandelte sich die Orientfrage, die Bismarck nicht einmal des Knochens eines pommerschen Grenadiers wert erschien, in eine der wichtigsten Fragen der deutschen Weltpolitik. Während Deutschlands auswärtige Politik seit dem Deutsch- Französischen Krieg vom Verhältnis zu Frankreich und Russland beherrscht war, wird sie jetzt in entscheidendem Maße vom Verhältnis zur Türkei bestimmt. Aber nicht nur die türkische Frage beginnt eine Rolle in der auswärtigen Politik Deutschlands zu spielen. Während es früher die kolonialen Ausbeutungsbestrebungen Frankreichs begrüßt hatte, um Frankreichs Aufmerksamkeit von seinem Gegensatz zu Deutschland, der unglückseligen Folge des Deutsch-Französischen Krieges abzulenken, bekam es jetzt ein selbständiges Interesse an allen Fragen der überseeischen Politik. Es mischte sich in die nordafrikanischen, südamerikanischen, ostasiatischen Angelegenheiten nicht nur dort, wo schon größere Interessen des deutschen Kapitals vorhanden waren, sondern überall da, wo nur das deutsche Kapital in der Zukunft ein Ausbreitungsfeld gewinnen konnte. Obwohl das deutsche Kapital selbst nach einer Monopolstellung strebt, wo eine solche winkt, trat die deutsche Regierung, wo keine Aussichten auf eine territoriale Fußfassung bestanden, für die „Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung“ ein, und wo schon starke historisch entstandene Interessen anderer imperialistischer Staaten vorhanden waren, suchte sie durch Einmischung Entschädigungen auf anderen Gebieten zu erringen oder durch Verzicht auf sie die Hindernisse fortzuräumen, die von anderen Mächten einer aktiven deutschen Politik bereitet werden oder in ihren wichtigsten Ansatzpunkten bereitet werden konnten: in China und in der Türkei. Diese Politik der Einmischung in alle Welthändel brachte zwar dem deutschen Imperialismus immer neue Konflikte ein, aber gleichzeitig gab sie ihm Trümpfe in die Hand, die er zur Stärkung seiner europäischen Position oder zur Unterstützung seiner weltpolitischen Hauptziele ausnützen konnte. Dass dabei manchmal der Faden dieser komplizierten Politik zu reißen drohte, und dass Deutschland in Situationen kam, wo es wegen Fragen, die selbst vom imperialistischen, geschweige denn vom nationalen Standpunkte keine Lebensfragen waren, vor einem Kriege stand, wird noch weiter gezeigt werden.

Aber außer den mannigfachen Konflikten mit Frankreich, Russland, Amerika usw., in die Deutschland in den 10 Jahren seiner imperialistischen Politik verwickelt worden ist, führte diese Politik den deutsch-englischen Gegensatz herbei, der immer größeren Umfang annahm, dem deutschen Imperialismus schwer überwindbare Hindernisse in den Weg legte und schließlich in eine akute Kriegsgefahr ausmündete. [31]

Englands Interessen leiden unter dem Wachstum der allgemeinen imperialistischen Tendenz. Bis in die achtziger Jahre hinein beherrschte Englands Industrie den Weltmarkt und Englands Flotte die Bahnen des Weltverkehrs, das Meer. Zwar drohte ihm die feudale Ausbreitung Russlands in Asien und die imperialistische Frankreichs in Nordafrika, aber keiner dieser Gegner konnte England gefährlich werden. An den Grundlagen der russischen Ausbreitung, an der Herrschaft der feudalen russischen Bürokratie, deren Interessen die Triebkraft dieser Bestrebungen bildeten, nagte der Wurm der sozialen Entwicklung: der Kapitalismus zersetzte die soziale Ruhe des Zarenreichs, die Grundlage der Ausbreitungspolitik des Zarismus. Wenn er auch manchmal, um die inneren Unruhen zu beschwichtigen, sich aktiver auf auswärtige Abenteuer warf, so musste ihm dabei auf die Dauer der Atem ausgehen. Das Fehlen einer russischen Flotte verminderte noch dazu die Gefahr, und als Russland zum Bau einer großen Flotte überging, entstand gleichzeitig die Macht, die England die Austragung des englisch-russischen Gegensatzes ersparen sollte: das moderne Japan. Der koloniale Gegensatz zu Frankreich war angesichts der schwachen Volksvermehrung und des langsamen Tempos der ökonomischen Entwicklung dieses Landes für England nicht gefährlich, obwohl er in seinem Verlauf manche ernste Situationen schuf. Im deutschen Imperialismus jedoch fand England einen Gegner vor, mit dem man ernstlich rechnen musste. Die deutsche industrielle Ausbreitung bedrohte das englische Kapital selbst in seinem eigenen Hause, was ihm um so gefährlicher werden konnte, als es den Höhepunkt seiner Entwicklung schon überschritten hatte und in der Anwendung der wissenschaftlichen industriellen Methoden nicht mehr auf der Höhe der Zeit stand. [32] Dazu kam der Gärungsprozess im britischen Weltreiche, dessen einzelne Teile, wie Südafrika, Australien, Kanada eine selbständige ökonomische Entwicklung begannen, deren Ergebnis leicht für das englische Kapital gefährlich werden kann. [33] Geographisch zerstreut, konnten sie nur durch starke ökonomische und politische Interessenbande an das Mutterreich geknüpft werden. Werden aber diese Bande nicht durch das Aufkommen einer selbständigen Industrie in den Kolonien gelockert? Die englische Bourgeoisie ist sich dieser Tendenzen, die auf die Auflösung des britischen Weltreiches hinarbeiten, bewusst, und sie sucht neue Formen des Verhältnisses zu ihren Kolonien zu finden, die die Gefahr aus der Welt schaffen könnten. Der Gedanke an eine zollpolitische Zusammenfassung des britischen Weltreiches, an seine strammere Bindung durch gemeinsame parlamentarische Institutionen, eine gemeinsam zu erhaltende Flotte, bahnt sich den Weg, aber er trifft auf große Widerstände in der englischen Handelsbourgeoisie, die von der Parole: die ganze Welt ist meine Werkstatt, nicht lassen will, auf Widerstände in den Kolonien selbst.

Jahre sind nötig, voll Krisen und Reibungen, bis der imperialistische englische Gedanke in irgend einer Form realisiert werden könnte, wenn er überhaupt jemals verwirklicht werden soll, was angesichts der großen sozialen und geographischen Unterschiede zwischen England und seinen Kolonien überhaupt zweifelhaft ist. Da taucht die Frage auf: wird die hungrige imperialistische Macht, wird Deutschland diese gefahrvolle Übergangszeit nicht ausnützen, um sich auf Kosten der englischen Weltmacht, oder anderer schwächerer Mächte eine Position in der Welt zu erobern, die der englischen gefährlich werden könnte? Ein Angriff auf die am meisten entwickelten, von Weißen bewohnten englischen Kolonien ist nicht zu befürchten, denn weder Kanada noch Australien würden eine Fremdherrschaft dulden, aber eine Ausbreitungsmöglichkeit auf Kosten der afrikanischen und asiatischen Besitzungen Englands und anderer schwächerer Kolonialmächte, wie Holland, Belgien, Portugal, war nicht von der Hand zu weisen. Aber schon die Ausnützung von Verwicklungen im britischen Kolonialreich zur Erringung maritimer Stützpunkte an den bisher von England beherrschten Seewegen, bedroht die Weltmacht Englands. Während des Burenkrieges blieb Deutschland neutral; es ließ sich abspeisen mit einem Wechsel auf die afrikanischen Kolonien Portugals und mit der Gewährung der Ellenbogenfreiheit für seinen chinesischen Vorstoß. Aber in dieser Zeit befand sich der Ausbau der deutschen Flotte erst in seinen Anfängen. In der Zukunft konnte der deutsche Imperialismus dem englischen noch gefährlicher werden.

Diese Erwägungen riefen in England große Beunruhigungen hervor. Die „deutsche Gefahr“ muss überwunden werden, erklärten die imperialistischen Kreise. Sie begannen, dem deutschen Imperialismus Steine in den Weg zu legen und ihn die Macht Englands fühlen zu lassen, und zu gleicher Zeit versuchten sie, eine Verständigung mit ihm anzubahnen. Diese von Chamberlain, dem Haupte des englischen Imperialismus am Anfang dieses Jahrhunderts gemachten Annäherungsversuche konnten aber aus leicht fassbaren Gründen zu keinem positiven Ergebnis führen.

Die Annäherung an England musste das deutsch-russische Verhältnis stören, das angesichts des nahenden ostasiatischen Abenteuers und der schmachvollen Dienst; die die deutsche Junkerregierung dem Zarismus im Kampfe gegen die russische revolutionäre Bewegung geleistet hatte, sehr „herzlich“ geworden war. Der deutschen Regierung war an diesem Verhältnis sehr gelegen, da sie in dem Zarismus die Vormacht der europäischen Reaktion sah, da sie in ihrer Anbetung der brutalen Kraft an Russlands Sieg in der ostasiatischen Krise glaubte, und durch ein gutes Verhältnis zu Russland dem französischen Gegner die Hoffnung auf eine Unterstützung seitens des Zarismus nehmen wollte. Aber nicht nur diese Erwägungen hielten den deutschen Imperialismus von einer Annäherung an England zurück. Er wusste wohl, dass er bei einer solchen Annäherung nur mit einem Trinkgeld abgespeist werden würde. Er war noch schwach, und nur der Vollbesitz von Kraft konnte ihm in den kapitalistischen Machtkämpfen Gehör verschaffen und die verbündeten wie die verfeindeten Staaten nötigen, den Interessen des deutschen Imperialismus Rechnung zu tragen.

Der deutsch-englische Gegensatz blieb also chronisch. Der deutsche Imperialismus begann ihn zuerst in der Türkei zu spüren, worauf wir noch weiter ausführlich zurückkommen; aber bald überzeugte er sich, dass er ihm auch in Europa gefährlich werden konnte. Im Jahre 1904 einigte sich der englische Imperialismus mit dem französischen über die nordafrikanischen Fragen, nachdem es sich gezeigt hatte, dass von einem Übereinkommen mit Deutschland keine Rede sein konnte. Frankreich erkannte die Stellung Englands in Ägypten an, und England gab seine Zustimmung zu den marokkanischen Plänen Frankreichs. Dieses Übereinkommen leitete eine Verständigung der beiden Staaten ein, die die Schwächung des deutschen Imperialismus bezweckte. Die Verständigung war für den englischen und französischen Imperialismus um so nötiger gewesen, als die Niederlage Russlands im Kriege mit Japan Deutschland von dem Druck an seiner östlichen Grenze befreit und seine Aktionskraft nach außen hin verstärkt hatte. Um sie im Zaume zu halten, begann England, das durch das Bündnis mit Japan vom Jahre 1912 von seinen ostasiatischen Sorgen befreit worden war und seine Kräfte gänzlich auf die Austragung des Gegensatzes zu Deutschland konzentrieren konnte, die Politik der Einkreisung Deutschlands. Zu diesem Zwecke schloss es auch mit Russland, das nach der Niederlage in der Mandschurei und auf den Schlachtfeldern der Revolution England in Asien nicht mehr gefährlich war, ein Abkommen, in dem es Nordpersien als russische Einflusssphäre anerkennt.

Dieses Trinkgeld verhütete die Annäherung des geschwächten Russlands an Deutschland und führte den Zarismus in die Arme Englands. So entstand die Tripelentente, als Gegengewicht zum Dreibund. Nun konnte sich England an die Arbeit machen. Es versuchte einerseits Russland wegen der Balkanfrage in einen Konflikt mit Österreich zu verwickeln und andererseits den Gegensatz Frankreichs zu Deutschland zu vertiefen. Im ersten Falle konnte es zu einem Kriege zwischen Russland und Österreich kommen, der Deutschland und Frankreich als Verbündete der beiden Staaten in Mitleidenschaft ziehen musste. Das Resultat hätte, gleichviel auf wessen Seite der Sieg ausgefallen wäre, die Kräfte Deutschlands wenn nicht aufgerieben, so doch auf Jahre hinaus in Europa festgehalten.

Der deutsche Imperialismus hätte dann dem englischen lange Zeit keine Schwierigkeiten bereiten können. Im zweiten Falle hätte vielleicht auch England in die kriegerische Auseinandersetzung Deutschlands mit Frankreich eingreifen müssen, es hätte aber eine leichte Arbeit gehabt: während die Landkräfte Deutschlands sich mit denen Frankreichs hätte messen müssen, konnte England seine Überlegenheit zur See zur Vernichtung der deutschen Flotte ausnützen.

Dreimal stand Europa am Rande des Krieges: Während des russisch-österreichischen Konfliktes im Jahre 1909 und während der Marokkokrisen im Jahre 1906 und 1911. Beide Male zeigte sich jedoch, dass weder Russland noch Frankreich gewillt waren, den Gegensatz zu Deutschland bis zum Kriege zu treiben, um dem englischen Imperialismus die Sorgen zu verscheuchen. Russland gedachte seiner Schwäche, ging einem Konflikt mit Österreich aus dem Wege und verpflichtete sich im November 1910 in Potsdam, an keinen Machinationen gegen Deutschland teilzunehmen. Frankreich verständigte sich ein Jahr später mit Deutschland über die Marokkofrage, wodurch auf eine Zeitlang jedes konkrete Streitobjekt zwischen dem deutschen und französischen Imperialismus verschwindet.

Der deutsche Imperialismus ließ sich nicht kleinkriegen. Er hat jahrelang gerüstet und steht nun dem englischen zwar nicht gleich stark gegenüber, jedenfalls aber in solcher Stärke, dass die Austragung des deutsch-englischen Gegensatzes auch für England nicht ohne sehr ernste Gefahren möglich wäre. Der deutsche und der englische Imperialismus stehen fortgesetzt vor der Gefahr des Zusammenstoßes. Und weil sie beide fühlen, welche furchtbare Verantwortung sie bei der Entscheidung dieser Frage auf sich nehmen, versuchen sie diesseits und jenseits des Kanals dem Volke einzureden, dass seine Lebensinteressen in Gefahr stehen, um auf diese Weise die Verantwortung für ihre Katastrophenpolitik dem Volke aufzubürden.

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, welche Interessen den deutsch-englischen Gegensatz geschaffen haben. Es sei hier noch gestattet, diese Ausführungen durch eine knappe sachliche Zusammenfassung der in Betracht kommenden Momente zu ergänzen, die Karl Kautsky im Jahre 1910 in der Mai-Nummer des englischen Parteiblattes Justice den Kriegshetzern ins Stammbuch schrieb:

„Die Verfechter der Seerüstungen in Deutschland begründen sie damit, dass Deutschland zur See stark sein müsse, um seinen auswärtigen Handel zu schützen, ohne den seine Industrie nicht existieren könne. Andererseits behaupten die Verteidiger der Seerüstungen Englands, ihr Land müsste zur See übermächtig sein, weil ihm sonst im Falle eines Krieges die Lebensmittelzufuhr abgeschnitten werde. Außerdem sei Deutschland ein Land politischer Unfreiheit, und England laufe Gefahr, wenn es nicht zur See Sieger bleibe, von einer Invasion Deutschlands betroffen und seiner Freiheiten beraubt zu werden.

Die Deutschen wie die Engländer, die so sprechen, sind beide gleich im Unrecht. Natürlich schädigt jeder Krieg Handel und Industrie, aber Englands Seemacht wäre nie imstande, die Grundlagen der Handelsblüte Deutschlands zu zerstören. Sie könnte höchstens die deutsche Reederei schädigen, aber nicht einmal während des Krieges den Handel Deutschlands unterbinden, da Deutschland zu viele Grenzen besitzt, die für Englands Seemacht unzugänglich sind. Die Grundlage der Handelsblüte Deutschlands bildet aber die Überlegenheit seiner Industrie, und diese wieder hängt ab teils von den natürlichen Hilfsmitteln Deutschlands und seiner geographischen Lage, namentlich aber von der Bildung und Arbeitsfähigkeit seiner Arbeiterschaft. Nur durch Deutschlands eigene verderbliche innere Politik könnte seine Industrie und sein Handel untergraben werden, nie durch die äußere Politik Englands, wie gewaltsam diese auch werden mag.

Ebenso wenig wie Deutschland von England hat aber England von Deutschland zu fürchten. Um seine Lebensmittelversorgung zu sichern, braucht Großbritannien keine Übermacht zur See. Eine Änderung des geltenden Seerechts würde genügen, in der die Bestimmungen über Seeleute und Konterbande eine Feststellung erfahren, die Lebensmitteltransporte von der Beschlagnahme durch die Kriegführenden ausschließt. Wenn England nur will, kann es eine derartige Gestaltung des Völkerrechts erreichen.

Davon aber, dass Deutschland ein Stück Englands an sich reißt, oder Englands Freiheiten bedroht, davon könnte selbst im Falle einer deutschen Invasion keine Rede sein. Deutschland wird nicht einmal mit seinen Polen fertig und empfindet diese als Pfahl in seinem Fleische. Die deutsche Regierung hat kein Bedürfnis nach anderen fremden Untertanen, die nur eine Quelle der Schwäche, nicht der Kraft für sie würden. Andererseits gibt es kein Land, das dank seiner insularen Lage so sehr ein unzerreißbares Ganze bildet, wie England. Seit den Tagen der römischen Cäsaren ist bei allen Wechselfällen des Krieges nie ein Stück Englands in fremdem Besitz gewesen, Großbritannien kann man nur ganz oder gar nicht besitzen.

Die Freiheiten eines selbständigen Volkes durch äußere Gewalt anzutasten, ist aber im 20. Jahrhundert nicht mehr möglich. Es ging schon vor 40 Jahren nicht mehr. Frankreich wurde von Deutschland völlig niedergeworfen, trotzdem vermochten Bismarck und Wilhelm nicht, Frankreich die Monarchie aufzuzwingen. Gerade der unglückliche Krieg brachte Frankreich die Freiheit, die Republik. Und heute ist die deutsche Regierung kaum noch imstande, das eigene Volk im Zaume zu halten, das nach mehr Freiheit verlangt. Von ihr hat das englische Volk für seine Freiheit nichts zu fürchten.“

Nicht um die Interessen des Volkes, sondern um die des ausbreitungslustigen Kapitals handelt es sich bei dem englisch-deutschen Gegensatz, wie bei allen anderen Konflikten, die der deutsche Imperialismus in den 10 Jahren seines Bestehens auszufechten gehabt hat. Eine Übersicht dieser Kämpfe an der Hand konkreter Tatsachen wird nicht nur diese Tatsache bestätigen, sondern in Ergänzung an diesen allgemeinen Ausführungen die Kraft des deutschen Imperialismus, die Größe seiner Erfolge zu prüfen erlauben, und erst nach Erledigung dieser Fragen wird die Feststellung der weiteren Entwicklungstendenzen möglich sein.

2. Das deutsche Kapital in China

In China [34] schien zu Ende des vorigen Jahrhunderts dem deutschen Imperialismus die Geschichte tüchtig in die Hände zu arbeiten. Der Japanisch-Chinesische Krieg erschütterte das Reich der Mitte in seinen Grundlagen. Die chinesische Bürokratie und die Kreise, aus denen sie sich rekrutierte, verloren ihre bisherige Geistesruhe: es wurde ihnen klar, dass eine ernste Gefahr im Anzuge war. Jüngere Kräfte, die auf den Kaiser Einfluss hatten, forderten sofortige weitgehende Reformen auf sozialem und politischem Gebiete; die Zentralisierung des Staates und die allmähliche Einführung des Parlamentarismus wurde von ihnen auf die Tagesordnung gestellt. Natürlich stemmten sich die Nutznießer des alten Systems, die höchsten bürokratischen Kreise in Peking, wie die fast unabhängigen Provinzmachthaber aus allen Kräften diesen Forderungen entgegen, und die alte Kaiserin-Witwe stand an der Spitze der reaktionären Cliquen. Aber auch sie fühlten, dass man in alter Weise nicht weiter regieren konnte. Li Hung Tschang, der Leiter der chinesischen Politik, wandte sich bei seinem Besuch in Deutschland im Jahre 1895 an Bismarck mit der Frage: was China tun müsse, um kräftig auf den Beinen zu stehen? „Eine Armee bilden und damit die Staatsgewalt herstellen, ein anderes Mittel außer diesem gibt es nicht ... Nur muss man vorher auf Straßen bedacht sein, auf denen Truppen fortbewegt werden können,“ lautete die Antwort. [35] Aber wie niemand über seinen eigenen Schatten springen kann, so konnte die chinesische Bürokratie nicht gegen ihr eigenes Interesse die zentrale Staatsgewalt stärken, und noch viel weniger China wirklich auf ein modernes Gleis bringen. Statt schleunigst ans Werk zu gehen, nahm sie den Kampf gegen die Reformpartei auf, der so mit der Niederlage der letzteren endete. Die Kaiserin-Witwe riss die Zügel der Regierung an sich und sperrte den reformfreundlichen Kaiser in seinen Harem ein.

Zu gleicher Zeit brachen Volksunruhen aus. Die Besetzung Kiautschous durch Deutschland, Port Arthurs durch Russland, Wei-hei-weis durch England, der Beginn von Eisenbahnbauten, das immer frechere Hervortreten christlicher Missionare brachte die chinesischen Massen in Erregung. In der Hauptstadt Chinas kam es zu Unruhen, die mit der Ermordung des deutschen Gesandten und der Belagerung der Europäer endeten. Die Großmächte ließen sofort ihre Truppen einmarschieren; die fast gänzlich desorganisierte und veraltete Armee wurde aufs Haupt geschlagen, der Hof musste aus Peking flüchten. Aber der Wunsch des deutschen Imperialismus, der von einer Besetzung des Hinterlandes von Kiautschou, der Provinz Schandung träumte, ging nicht in Erfüllung, da die Mächte die chinesische Frucht noch nicht für reif zum Aufteilen hielten. Ein Resultat aber hat der Feldzug doch gezeitigt. Die deutschen Truppen erfüllten das Geleitwort Wilhelms II.: „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht“, und eroberten für den deutschen Imperialismus die Gleichberechtigung im Plündern, Sengen und Morden.

Die Entwicklung der ostasiatischen Verhältnisse erlaubte keine weitere Einmischung zum Zweck territorialer Erwerbungen. Vier Jahre nach der China-Expedition brach der Russisch-Japanische Krieg aus. Die Gefahr, vor die die alten kapitalistischen Staaten und das mit ihnen marschierende Russland China gestellt hatten, bedrohte auch die Zukunftspläne Japans. [36] In dem jungen ostasiatischen Reiche wirkten zwar noch keine modernen kapitalistischen Ausbreitungstriebe. Es hatte eine junge kapitalarme Industrie, der es noch nicht gelungen war, den tief in der Naturalwirtschaft steckenden Bauernmarkt zu erschließen. Aber die von der Regierung durch hohe Zölle und Zuwendungen treibhausmäßig gezüchtete japanische Industrie suchte eben infolge der nur langsam sich entwickelnden Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes nun auswärtige Märkte an sich zu reißen. Dazu kam noch die Furcht der leitenden japanischen Kreise, dass sie in der Zukunft vor die Tatsache gestellt werden könnten, sich bloß auf ihre kleinen Inseln, die schon jetzt 50 Millionen Menschen ernähren, beschränken zu müssen, und dass das japanische Kapital keinen genügenden Raum in der eigenen Heimat vorfinden würde. Darum tauchte in Japan schon seit den ersten Tagen der Europäisierung der Gedanke auf, an der entgegengesetzten Küste des Japanischen und Gelben Meeres festen Fuß zu fassen. Das Anrücken Russlands von Norden her, die Absichten Deutschlands auf die Provinz Schandung, der englische Appetit nach dem Jangtsetal, der amerikanische Stützpunkt auf den Philippinen, das alles war eine Mahnung für Japan, vorzugehen, solange es noch Zeit war. So kam es zum Russisch-Japanischen Kriege, der mit dem gänzlichen Zusammenbruch Russlands, mit der Festsetzung Japans auf dem ostasiatischen Festlande endete. Der Russisch-Japanische Krieg hat das Aufkommen des neuen China [37]

beschleunigt, aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass er es verursacht hat. Unter seiner erschütternden Einwirkung kristallisierte sich alles das, was von der sozialen Entwicklung Chinas seit dem Chinesisch-Japanischen Kriege geschaffen worden ist. Die Einfuhr Chinas, die im Jahre 1890 540 Millionen Mark betrug, belief sich im Jahre 1909 auf 1 Milliarde Mark, die Ausfuhr wuchs von 400 Millionen im Jahre 1890 auf 800 Millionen im Jahre 1909.

Wichtiger als dies ist die Tatsache, dass die chinesische Ausfuhr nicht mehr aus bloßen Rohstoffen besteht, sondern auch schon aus Produkten der jungen chinesischen Industrie, die auch einen immer mehr wachsenden Teil des chinesischen Konsums deckt. China besitzt schon eine Bourgeoisie, deren Spitzen bei ihren Reisen durch Europa, Amerika und Japan die Formen der Kapitalherrschaft kennen gelernt haben. Sie begnügt sich jetzt nicht mehr mit dem Streben, die Eroberungspläne des europäischen Kapitals zu durchkreuzen, sie will jetzt die Regierung in ihre Hände bekommen. Sie entwickelt eine eifrige Propaganda, uni die nach altem Brauch ohne Nutzen im Versteck gehaltenen Schätze in den Verkehr zu bringen. Sie fordert im Namen der nationalen Industrie die Auslieferung des Bahnbaues in ihre Hände, sie verlangt von der Regierung bei der Verteilung der Konzessionen an Ausländer, dass sie chinesische Ingenieure beschäftigen, sie sendet ihre Söhne zwecks technischer Studien nach Europa, Amerika und Japan. Und es gibt keinen einzigen Forscher, der, aus China zurückgekehrt, nicht erklären würde, dass die ökonomische Selbständigkeit der chinesischen Bourgeoisie mit jedem Monat zunimmt. Zum Kampfe gegen die Bürokratie hat sie im Handumdrehen eine große Presse geschaffen, die den Hass gegen die Mandschuherrschaft, mit ihrer Vettern- und Lotterwirtschaft predigt. Um die Bourgeoisie sammelt sich nicht nur die junge chinesische Intelligenz, die ihren linken Flügel bildet, sondern auch das Stadtvolk, das in ihr, wie es in den europäischen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts der Fall gewesen ist, die Vertreterin der Nationalinteressen sieht und nicht eine um ihre Herrschaft kämpfende Klasse. Während ihr linker Flügel, die Intelligenz, geheime terroristische Gesellschaften bildet und den Volksaufstand predigt, sucht die Bourgeoisie auf legalem Wege zur Herrschaft zu kommen. Die oppositionelle Bewegung der Bourgeoisie nötigte die Regierung zu Zugeständnissen. Nach der schrecklichen Erniedrigung Chinas durch die Mächte im Jahre 1900 begann sie schon Reformen einzuführen. Der Gouverneur von Tschili, Juanschikai, der chinesische Bismarck, organisierte in seiner Provinz ein Heer nach europäischem Muster und unternahm später an der Spitze der Regierung die ersten Versuche in der Richtung der Zentralisierung der Finanzen und Heeresverwaltung, obwohl er auf jedem Schritt den Widerstand der 19 Gouverneure bewältigen musste, die bisher wie selbständige Fürsten auf eigene Faust geschaltet und gewaltet haben. Aber selbst die Gefahr der Aufteilung Chinas kann die Bürokratie nicht bewegen, sich freiwillig einer Quelle ihrer Einkünfte zu entäußern, wie sie die feudale Unabhängigkeit der Provinzen darstellte. Im Augenblick aber, da die von den Cliquen zerrissene Bürokratie nicht imstande war, das Werk der Erneuerung Chinas zu vollbringen, begann der Druck von unten. Wie stark er war, beweist die Tatsache, dass die Regierung, die zuerst die Einberufung des Parlaments für das Jahr 1915 angekündigt hatte, den Termin verkürzen und vorbereitende Schritte zur Eröffnung tun musste. Sie berief die Provinzlandtage und den Vorbereitungs-Reichstag ein, die die Vorstufen des chinesischen Parlamentarismus bilden sollen. Zwar bestehen sie teilweise aus Beamten und nur zu einem Teile aus Deputierten, die auf Grund eines Steuerzensus gewählt sind; trotzdem aber werden sie zum Sprachrohr der oppositionellen Bewegung und fordern energisch die Einberufung des Parlaments. Dreimal nach Peking gesandte Deputationen, die diese Forderung dem Throne überbringen sollten, bildeten eine stets in Peking wirkende Liga der Kammer um die Einberufung des Parlamentes.

Aber die Beschleunigung der Arbeiten zur Einberufung des Parlamentes konnte das Wachstum der revolutionären Bewegung nicht aufhalten. Diese schöpfte immer wieder neue Kräfte aus dem Zersetzungsprozess des alten China, der sich in Hungersnöten äußerte, aus der Gier der chinesischen Bourgeoisie, den jetzigen Zuständen, die dem ausländischen Kapital die Vorherrschaft einräumen, möglichst schnell ein Ende zu bereiten, aus dem Bestreben der jungen Militärs, den dem Reiche drohenden Gefahren durch schnelle Maßregeln ein Ende zu bereiten. Nach einer Reihe von kleineren Aufständen bricht im Oktober 1911 in Südchina die Revolution aus; sie bereitet den Regierungstruppen eine Niederlage nach der anderen, verbreitet sich immer weiter, macht der Herrschaft der Mandschus ein Ende und rollt wieder die chinesische Frage in ihrem ganzen Umfange auf.

Diese seit dem Jahre 1900 andauernde Entwicklung erlaubte den Großmächten keine Einmischung in die chinesischen Angelegenheiten, wie sie am Ende des vorigen Jahrhunderts eingeleitet zu sein schien. Die zunehmende Gärung in China zwang zu großer Vorsicht, da man auf einen Widerstand stoßen konnte, der vor 10 Jahren unmöglich gewesen wäre. Dabei kämpften im Schoße der Regierungen verschiedene Ansichten über die Bedeutung der bevorstehenden Umwandlung Chinas. Ein Teil der Bourgeoisie Westeuropas und Amerikas wies auf den stark zunehmenden Anteil Chinas an dem Weltverkehr hin – im Jahre 1901 betrug er 1376,1, im Jahre 1909 2077,2 Millionen Mark –, und folgerte daraus, dass die Beschleunigung dieser Entwicklung auch den Anteil des europäischen Kapitals an der Ausbeutung Chinas entsprechend vergrößern würde. Man zog daraus den Schluss, dass es im Interesse des Kapitals liege, der Entwicklung Chinas keine Steine in den Weg zu legen und jedenfalls auf alle Pläne der Aufteilung Chinas zu verzichten. Ein anderer Teil der bürgerlichen Politiker wies darauf hin, dass Japans Lebensinteressen diese Macht zur Aneignung der Südmandschurei trieben, und dass Russland an eine Ausbreitung in der Nordmandschurei, der Mongolei und dem Chinesisch-Turkestan denken müsse, da es bei einem wirtschaftlichen Wettstreit mit dem europäischen Kapital auf den Märkten des freien Chinas den kürzeren werde ziehen müssen. Ließen sich aber die Ausbreitungsgelüste Russlands und Japans nicht eindämmen, so würden die anderen Mächte, und in erster Linie Nordamerika, auch eingreifen, wodurch die chinesische Frage an demselben Wendepunkt angelangt sein würde, wie im Jahre 1900. Daran wurde nun die Mahnung geknüpft, sich in Bereitschaft zu halten, die verstärkt wurde durch die Furcht des europäischen Kapitals vor dem chinesischen, und durch die Erwägung, dass die chinesischen Volksmassen, einmal in Bewegung geraten, sich an den Vertretern des ausländischen Kapitals versündigen könnten. Und da das letztere sehr möglich erscheint, weil das chinesische Volk in dem europäischen Kapital seinen Ausbeuter und Unterdrücker sehen muss, so wird das europäische Kapital Vorkehrungen treffen, um in die Entwicklung der chinesischen Frage eventuell mit Waffenmacht eingreifen zu können. So steuerte das Schiff des europäischen Imperialismus in der chinesischen Frage ohne festen Kurs.

Was den deutschen Imperialismus betrifft, so zeigte er in seiner chinesischen Politik dieselbe Unbestimmtheit der Ziele wie der europäische überhaupt. Der im Jahre 1897 „gepachtete“ Hafen Kiautschou sollte zum Bollwerk der deutschen Expansion in China ausgebaut werden. 150 Millionen Mark wurden für den Ausbau und die Verwaltung dieses Stützpunktes verwendet, ohne irgend welche ernsteren Ergebnisse zu zeitigen. Auf seine militärische Ausrüstung musste man aus Rücksicht auf das erstarkende China verzichten, und als ökonomisches Einfallstor konnte er keine spezielle Bedeutung erlangen, weil die industriell vorgeschrittenen Provinzen in Südchina liegen.

Zwar ist der Gesamthandel Kiautschous auf 130 Millionen Mark gestiegen, aber die deutsche Ausfuhr nach Kiautschou war sehr gering und verminderte sich in dem Maße, wie der Ausbau des Hafens und der deutschen Verwaltungsgebäude beigelegt wurde. Im Jahre 1909 betrug die deutsche Einfuhr in Kiautschou 3,3 Millionen Mark und die Ausfuhr 147 000 Mark. Der Erfolg des ersten Schrittes Deutschlands auf dem Wege der territorialen Fußfassung in China war also lächerlich klein.

Ungeachtet dessen wiesen die deutsche Bourgeoisie und das deutsche Kapital jeden Gedanken an die Aufgabe Kiautschous von sich, weil sie noch immer mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs der chinesischen Erneuerungsversuche und der Wiederkehr der Aufteilungspolitik rechnen. Das deutsche Kapital schafft sich angesichts dessen weltpolitisch das Anrecht, an der zukünftigen Teilung Chinas mitzuwirken. Es nimmt teil am Wettstreit der kapitalistischen Mächte auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens Chinas. Aber die Konkurrenz der Mächte, die wie England durch ihre älteren Beziehungen zu China oder wie Japan und die Vereinigten Staaten Nordamerikas durch ihre geographische Lage einen Vorsprung auf dem chinesischen Markte besitzen, erlauben dem deutschen Kapital auch auf diesem Gebiete keine besonderen Erfolge. Der deutsche Anteil an dem Handelsverkehr Chinas ist zwar in dem letzten Jahrzehnt absolut gestiegen – er betrug im Jahre 1901 82,4; 1902 93; 1903 79; 1904 92; 1905 118;1906 124; 1907 119; 1908 121; 1909 122 und 1910 161 Millionen Mark – aber relativ bedeuten diese Ziffern kein Wachstum: im Jahre 1901 betrug der Anteil Deutschlands am chinesischen Handel in Prozenten 5,99 und 1909 bloß 5,87. Berücksichtigt man nun auch, dass ein Teil der deutschen Ausfuhr durch England geht, also in den Handelsziffern Englands enthalten ist, so kann man dennoch von einem Vordringen des deutschen Handels in China nicht sprechen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Anteil des deutschen Kapitals an den Industrie- und Bankgründungen in China. Neben der im Jahre gegründeten Deutsch-asiatischen Bank (Sitz in Schanghai, Kapital 20 Millionen Mark), die ziemlich gute Geschäfte macht und ihren Teilhabern 8 Prozent Dividende zahlt, arbeitet in China die Deutsche Schantau-Bergbau-Gesellschaft mit 12 Millionen Mark Kapital, die China Export-Import und Bank-Compagnie mit 134 Millionen Mark und die Schantung-Bahngesellschaft mit 54 Millionen Mark Kapital. Dazu kommt noch in Betracht die Teilnahme Deutschlands an der Deckung des chinesischen Geldbedarfs, die sich in der teilweisen Unterbringung chinesischer Staatsanleihen an den Börsen Deutschlands äußert; die Höhe der Beteiligung des deutschen Kapitals an diesen Anleihen, die bis zum Jahre 1909 2400 Millionen Mark befragen, lässt sich jedoch nicht ganz genau angeben, aber jedenfalls dürfte er nicht groß sein, da er sonst den Anteil Deutschlands am chinesischen Handelsverkehr beschleunigen müsste. Vergleicht man diese Resultate der wirtschaftlichen Ausbreitung des deutschen Kapitals in China mit dem Wachsen der Prozentzahlen des japanischen und amerikanischen Handels, so muss man zu dem Ergebnis gelangen, dass das deutsche Kapital auf seine Errungenschaften in China keineswegs stolz sein kann. Die deutsche Bourgeoisie verhüllt diese Tatsache nicht, sie zieht aber aus ihr nur den Schluss, dass es notwendig sei, mit gesteigerter Energie an die Eroberung des chinesischen Marktes zu schreiten. Während die Kulturbedürfnisse des deutschen Volkes nur in geringem Maße befriedigt werden, gründet das Deutsche Reich eine Hochschule in China, um durch die Ausbildung von Chinesen Agenten für das deutsche Kapital zu erziehen, während in Deutschland die Teuerung wütet, und die Regierung jeder Forderung des deutschen Volkes nach Abschaffung der von ihr mitverschuldeten Wirtschaftspolitik ein schroffes Nein entgegensetzt, nimmt sie sich liebreich der hungernden chinesischen Bauern in Schandung an, um den Boden für die zukünftige Eroberungspolitik in China vorzubereiten. Der Ausbruch der chinesischen Revolution mit ihren nicht vorauszusehenden Folgen, weckt den alten Appetit des deutschen Imperialismus. „Schaut auf China und baut neue Kriegsschiffe“ – schallt es aus den Verhandlungen der Schiffsbautechnischen Gesellschaft, und die imperialistische Presse vertritt die Ansicht, dass China wieder zum Tummelplatz des europäischen Imperialismus werden könne. Das deutsche Kapital wittert wieder Morgenluft. Was es auf dem Wege der friedlichen Ausbreitung nicht errungen hat, will es auf gewaltsamem Wege mit einem Schlage erobern. Und nur von dem Gang der Ereignisse am Gestade des Stillen Ozeans wird es abhängen, ob das nächste Jahr den deutschen Imperialismus nicht im Wirrwarr eines neuen chinesischen Abenteuers findet.

3. Das deutsche Kapital in der Türkei

Auf dem zweiten Terrain, dessen Unterminierung das deutsche Kapital sich zur Aufgabe gestellt hat, in der Türkei, ist es auf nicht mindere Schwierigkeiten gestoßen wie in China. Sein erstes größeres Unternehmen, der Bau der Bagdadbahn, verletzte wichtige Interessen Englands. Erstens stärkte es die Lage des jungen deutschen Konkurrenten, was dem englischen Kapital um so unangenehmer war, als es diesen Konkurrenten an allen Enden der Welt vorfand. Zweitens stärkte es die Türkei, was seit dem Augenblick, wo Russland das Schwergewicht seiner Ausbreitung nach dem fernen Osten verlegt hatte, nicht mehr im Interesse des englischen Kapitals lag. Dazu kamen noch englische Pläne, die durch die Bagdadbahn durchkreuzt wurden; so der Plan einer Bahn, die Ägypten durch das südliche Arabien und Persien mit Indien verbinden sollte, und die großen Pläne über die Besiedlung Südmesopotamiens mit ägyptischen Bauern, d.h. die Vorbereitung der Annexion dieser Gebiete durch England. Zu dem englischen Widerstand gesellte sich der seines damaligen mittelasiatischen Konkurrenten, Russlands. Seit den Erfahrungen, die Russland mit dem befreiten Bulgarien gemacht, seitdem ihm klar geworden, dass es auf dem Wege nach Konstantinopel starken Widerstand nicht nur bei den westeuropäischen Mächten, sondern selbst bei den erwachenden „slawischen Brüdern“, finden würde, entdeckte es sein asiatisches Herz und wendete sich in der Richtung des kleinsten Widerstandes, zu den Gestaden des Stillen Ozeans, wo es von China keinen nennenswerten und von Japan nur schwachen Widerstand erwartete. In demselben Jahre, in dem die provisorische Konzession der Bagdadbahngesellschaft erteilt wurde, begann der Bau der mandschurischen Bahn. Kein Wunder also, dass die auf die Konservierung des Status quo gerichtete russische Politik im nahen Orient die Bagdadbahn als eine ernste Störung ihrer Kreise betrachten musste, um so mehr, als sie auf ihre alten Pläne der Erringung des Zutritts zum Persischen Golf nicht verzichtet hatte. Der zukünftigen Position Russlands in einem Hafen Südpersiens konnte die Möglichkeit des Aufkommens einer türkischen oder, was man für noch wahrscheinlicher hielt, einer deutschen Flotte im Persischen Golf, in dem Hafen, mit dem die Bagdadbahn enden würde, ebenso unangenehm werden wie es England bedrohlich erscheinen würde. Aber auf die Neutralität Deutschlands angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung im fernen Osten angewiesen, musste sich die russische Gegnerschaft mit zwei Maßregeln begnügen: mit der Verpflichtung der Türkei, dass alle Bahnbauten am Schwarzen Meere nur von Russen oder vom türkischen Staate selbst gebaut werden. Die zweite Maßregel bestand in der Einwirkung auf die französische Regierung, die Bagdadbahnwerte zur offiziellen Notierung auf der Pariser Börse nicht zuzulassen, sie sollte nicht nur der Bagdadbahn schaden, sondern auch den unermesslichen Pumpplänen Russlands nützen. Die französische Regierung nahm eine feindliche Stellung dem Bagdadbahnplan gegenüber nicht nur unter der Einwirkung Russlands ein. Angesichts der Schwäche der französischen Industrie, ihrer geringen Konkurrenzfähigkeit, musste die französische Regierung die Stärkung des deutschen Exports nach der Türkei befürchten. Tatsächlich ist denn auch, während der deutsche Export nach der Türkei von (in runden Zahlen) 35 Millionen im Jahre 1901 auf 67 im Jahre 1905 gewachsen ist, der französische in derselben Zeit von 35 auf nur 40 gestiegen, obwohl in dieser Zeit das in der Türkei angelegte französische Kapital auf mehr als zwei Milliarden, das deutsche aber nur auf 300 bis 500 Millionen Mark geschätzt wurde. Aber trotz der Feindschaft der französischen Regierung und der Gefahr, die dem französischen Einfluss in der Türkei drohte, nahm das französische Kapital einen starken Anteil an der Finanzierung des Bagdadbahnunternehmens (er beträgt jetzt 30-40 Prozent des Gesamtkapitals). Die hohen Profite, die einzelnen Banken und den Rentiers winkten, überwogen das Interesse der französischen auswärtigen Politik.

Die türkische Regierung ließ sich durch diese Schwierigkeiten nicht abschrecken. Abdul Hamid, ein in wirtschaftlichen Sachen moderner Kopf, wusste die Bedeutung des Eisenbahnnetzes als der wichtigsten Vorbedingung der staatlichen Zentralisation sehr wohl zu würdigen. Er wusste, dass nur die Bagdadbahn ihn zum Herrscher über Mesopotamien und Babylonien machen konnte, über Länder, die jetzt nur ein Tummelplatz der Raubzüge der Beduinen waren. Und die kurzen Erfahrungen, die er mit den anatolischen Bahnen gemacht hatte, zeigten ihm, wie sehr die Bahnen die Steuerkraft erhöhen. Da aber die türkische Regierung nicht imstande war, selbständig den Bahnbau zu unternehmen, musste sie ihn einer Kapitalistengruppe übergeben, hinter der jene Regierung stand, die am meisten Interesse an einem Verschieben der Aufteilung der Türkei hatte. Das war Deutschland, und so gewährte Abdul Hamid im Jahre 1902 die Kilometergarantie für die 200 Kilometer lange Strecke Konia-Eregli, die am 25. Oktober 1904 dem Betrieb übergeben wurde.

Aber die Gegner ruhten nicht. Sie nutzten die finanziellen Schwierigkeiten der Türkei aus, um den weiteren Bahnbau zu hintertreiben. Wie bekannt, besitzt die Türkei auf Grund internationaler Verträge kein Recht, einen autonomen Zolltarif aufzustellen, zur Erhöhung der Zölle ist die Zustimmung der Mächte nötig, die nach einer treffenden Bemerkung Galsters [38] in Konstantinopel als überzeugte Freihändler auftreten, obwohl die Zollmauern von den europäischen Staaten für ihre eigenen Gebiete dauernd erhöht werden. Und so bewilligten im Jahre 1906 die Westmächte die Erhöhung der Wertzölle von 8 Prozent auf 11 Prozent nur unter der Bedingung, dass der Erlös bloß für die Reformen in Mazedonien verwendet wird. Damit wollten sie mit einem Schlage gleich zwei Fliegen treffen in den Augen der Balkanvölker paradierten sie als ihre speziellen Beschützer, und gleichzeitig glauben sie dem Unternehmen des deutschen Kapitals einen tödlichen Schlag versetzt zu haben. Obwohl nach einem früheren Vertrag der Erlös der Zölle schon der Bagdadbahngesellschaft zugebilligt war, protestierte Deutschland gegen die Bedingungen der Westmächte nicht, um der Türkei, deren Vertrauen zu gewinnen es noch galt, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die deutsche Regierung und die Deutsche Bank konnten so entgegenkommend sein, weil andere Quellen den weiteren, wenn auch langsamen Bau ermöglichten. Im Jahre 1903 fand die Unifizierung der vier Serien der türkischen Staatsschulden statt. Die Ersetzung dieser in schweren Zeiten zu schlechten Bedingungen aufgenommenen Anleihen durch einen einheitlichen Anleihewert machte verschiedene Einnahmen frei, die bis dahin der Verzinsung der Staatsschuld hatten dienen müssen. Nach langem Kampfe, den die Vertreter der Westmächte gegen die Überweisung eines Teiles dieser Einkünfte an die Bagdadbahngesellschaft zur Deckung der Kilometergarantie führten, erteilte Abdul Hamid im Jahre 1908 die Kilometergarantie für die 840 Kilometer lange Strecke bis zum Dorfe El Helif im oberen Mesopotamien, die den schwierigsten Teil des Baues bildet, da es sich um die Durchquerung des Taurus und Amanusgebirges handelt.

Der Bau dieser Strecke war noch nicht begonnen, als das Hamidsche Regime wie ein Kartenhaus unter dem Anprall der jungtürkischen Bewegung zusammenbrach. Mit den Jungtürken schienen die Westmächte die Oberhand in Konstantinopel zu gewinnen. Die Jungtürken, die als Flüchtlinge die Gastfreundschaft Englands und Frankreichs genossen hatten, während der deutsche Boden die Sohlen der Schnorrer und Verschwörer brannte, kamen an das Staatsruder mit der Sympathie für die Westmächte, zu der sich die Antipathie gegen die Freundin Abdul Hamids, die deutsche Regierung, gesellte. Aber die objektive Tatsache, dass die Interessen Englands die Schwächung und Aufteilung der Türkei erfordern, dass Russland den Balkanstaaten durch die neoslawische Bewegung neue Hoffnungen einzuflößen suchte, dass es nach dem mittelasiatischen Abkommen mit England die Türkei von der persischen Seite her zu bedrohen schien, brachte in sehr kurzer Zeit die auswärtige Politik der Türkei in die alten Gleise. Die Fortführung der Linie von Burgurla an wurde im Frühjahr 1909 begonnen. England musste nun einsehen, dass die Vereitelung des Baues der Bagdadbahn nicht leicht sein werde, und so versuchte es jetzt wenigstens die Gefahr, die den englischen weltpolitischen Plänen von der Bahn drohte, nach Möglichkeit zu beseitigen. Sie forderte, die Trasse von Adana an sollte entlang dem Golf von Alexandrette laufen, was allerdings abgeschlagen wurde, obwohl dieser Teil der Bahn zu den wirtschaftlich einträglichsten gehören würde. Die türkische Regierung blieb nach einem gewissen Schwanken bei dem alten Projekt, da nach der Meinung der militärischen Sachverständigen die Annahme der englischen Pläne den englischen Kriegsschiffen die Möglichkeit geben würde, in Kriegszeiten die Truppentransporte nach Arabien und Mesopotamien zu unterbrechen. Aber nicht nur die gesteigerte Widerstandskraft der Türkei, zu der er teilweise auch beigetragen hatte, kam dem deutschen Imperialismus zugute. Auch die immer mehr zutage tretende Schwäche der auswärtigen Politik des konterrevolutionären Russlands erwies ihm einen entschiedenen Dienst. Seit dem Zusammenbruch der „neoslawischen“ Balkanpolitik Russlands wendet sie sich wieder von den Fragen des nahen Orients, denen Mittelasiens und des fernen Orients zu. Während sie sich aber im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts dabei nur der Neutralität Österreichs im nahen Orient versichern musste und Deutschland so sehr durch das Bündnis mit Frankreich einzuschüchtern wusste, dass sie selbst dessen Unterstützung im fernen Orient nach dem Chinesisch-Japanischen Kriege bekam, muss der restaurierte Zarismus jetzt seiner geschwächten und der mächtig gestärkten Stellung des deutschen Imperialismus Rechnung tragen. Und er erklärt in Potsdam, nichts gegen den Weiterbau der Bagdadbahn einwenden zu wollen.

Noch mehr, er stimmt dem deutschen Plane zu, nach dem eine Zweigbahn nach der persischen Grenze (nach Chanikin) gebaut werden soll, die nicht nur dank der Beförderung der persischen Pilger zum heiligen Orte in Kerbela zu den finanziell einträglichsten Linien des Bahnsystems gehören wird, sondern noch die persischen Märkte dem deutschen Kapital öffnet. Die so geänderte Haltung Russlands ermöglichte der türkischen Regierung die Erteilung nicht nur des Zugeständnisses zum Bau der weiteren 1435 Kilometer langen Strecke von Helif nach Bagdad, sondern sie rollt die Frage des Baues der letzten 650 Kilometer betragenden Strecke von Bagdad zum Persischen Golf auf. Über diese Strecke werden jetzt Verhandlungen zwischen Türkei, Deutschland, England, Frankreich und Russland geführt. Zu ihrer Ermöglichung willigte die Bagdadbahngesellschaft in die Rückgabe der Konzession, auf deren Grund sie die Bahn bis zum Persischen Golf führen könnte, und es wird verhandelt über die Art, wie die letzte Linie gebaut werden soll, ohne die englischen Interessen zu verletzen, welche die Türkei nicht gänzlich ignorieren kann, ohne England zu einer offensiven Politik zu reizen.

In die Verhandlungen tritt England in ganz anderer Haltung ein als im Jahre 1903. Während der letzten Debatten im Oberhaus erklärte der Regierungsvertreter, Lord Morley, gerade heraus, dass die ablehnende Haltung Englands „durch die späteren Ereignisse keinesfalls gerechtfertigt wurde“. Trotzdem wird es wohl noch manche Kämpfe geben, bis es zu einer Einigung kommen wird. Ihr Zustandekommen wird nicht nur durch Gegensätze in der englischen Finanzwelt verschleppt, sondern in erster Linie durch die Bemühungen Englands, selbst nach der bisher verlorenen Kampagne zu retten, was sich retten lässt.

Die Bagdadbahn hatte eine große politische Bedeutung schon in dem Augenblick, wo ihr Plan gefasst wurde. Diese Bedeutung bestand erstens – wie schon erwähnt – in der Schaffung großer ökonomischer Interessen des deutschen Kapitals auf türkischem Boden, was ihm die Möglichkeit gab, bei einer eventuellen Teilung des türkischen Reiches Erbansprüche zu erheben, zweitens in der militärischen Stärkung der Türkei. Das Erstarken des deutschen Imperialismus, dessen erster mit großer Mühe errungener Erfolg die Bagdadbahn ist, der Sieg der Revolution in der Türkei, das Aufkommen einer modernen revolutionären Bewegung in Indien, die natürlich ganz anders zu bewerten ist als die früheren zerstreuten Aufstände einzelner Stämme, das Aufkommen der nationalistischen Bewegung in Ägypten, der Beginn des Regenerationsprozesses Persiens, das alles hat die politische Bedeutung der Bagdadbahnfrage mächtig erhöht. Zu den Momenten, die wir schon gestreift haben, kommen nun noch andere hinzu.

Zunächst die Bedeutung der Bagdadbahn und der von ihr beschleunigten Stärkung der Türkei in Arabien und Mesopotamien für den deutsch-englischen Gegensatz, worauf Paul Rohrbach in der jüngst erschienenen zweiten Auflage seiner Arbeit „Die Bagdadbahn“ in folgenden Worten hinweist:

„Es gibt für Deutschland im Grunde nur eine einzige Möglichkeit, einem englischen Angriffskrieg zu begegnen und das ist die Stärkung der Türkei. England kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: in Ägypten. Mit Ägypten würde England nicht nur die Herrschaft über den Suezkanal und die Verbindung mit Indien und Asien, sondern wahrscheinlich auch seine Besitzungen in Zentral- und Ostafrika verlieren. Die Eroberung Ägyptens durch eine mohammedanische Macht wie die Türkei könnte außerdem gefährliche Rückwirkungen auf die 60 Millionen mohammedanischer Untertanen Englands in Indien, dazu auf Afghanistan und Persien haben. Die Türkei aber kann nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, dass sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt, dass sie durch die Fortführung der anatolischen Bahn einen Angriff Englands auf Mesopotamien abwehren kann, dass sie ihre Armee vermehrt und verbessert, und dass ihre allgemeine Wirtschaftslage und ihre Finanzen Fortschritte machen – ... Auf der anderen Seite aber würde die bloße Erkenntnis, dass die Türkei militärisch stark, ökonomisch gefestigt und im Besitz genügender Eisenbahnverbindungen ist, für England möglicherweise schon genügen, um auf den Gedanken des Angriffs auf Deutschland zu verzichten, und das ist es, worauf die deutsche Politik abzielen muss. Die Politik der Unterstützung, die Deutschland der Türkei gegenüber verfolgt, bezweckt nichts anderes als den Versuch, eine starke Versicherung gegen die von England her drohende Kriegsgefahr zu schaffen“. [39]

Die Ausführungen Rohrbachs stellen sehr weite politische Perspektiven dar, die nur bei der weiteren Erstarkung der Türkei sich verwirklichen könnten. Vor wenigen Jahren noch hätte die Möglichkeit einer türkischen Offensive gegen England nicht einmal als Gegenstand der Bierbankpolitik, sondern direkt als Hirngespinst gegolten. Heute aber muss man diesem bisher bei der Behandlung der Bagdadbahnfrage wenig in Betracht kommenden Moment die ihm zukommende Bedeutung zuerkennen. Denn obwohl die Mächte auch heute noch mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs des jungtürkischen Regiments rechnen, so ziehen sie andererseits auch die Möglichkeit in Betracht, dass sich die Türkei durchschlagen und eine Rolle in den weltpolitischen Auseinandersetzungen spielen wird. Was weiter eine besondere Berücksichtigung erfordert, sind die Umwälzungen in Mittelasien, speziell in Persien. Hier läuft die englische Politik nach dem Siege der Revolution auf die Hemmung des Reorganisationsprozesses Persiens hinaus. Das ist aber nur möglich, wenn das Tempo seiner ökonomischen Entwicklung verlangsamt wird. Ob das geschieht zur Schaffung eines wüstenartigen Glacis in Südostpersien, ob zur Vorbereitung der späteren Annexion – dies festzustellen ist natürlich unmöglich –, die Erstarkung der Türkei in Mesopotamien, die wirtschaftliche Entwicklung dieser Stätte alter Kultur würde jedenfalls einen dicken Strich durch die englischen Pläne darstellen, und so ist es kein Wunder, dass in der jetzigen Situation, wo die Hintertreibung des Baues unmöglich ist nachdem der Versuch, die Bahn unter die Obhut der englischen Schiffskanonen im Golf von Alexandrette zu stellen, misslungen ist, England selbst alles tut, um den bestimmenden Einfluss auf die Bahnlinie von Bagdad zum Persischen Golf zu bekommen.

Welche Trümpfe hat England in der Hand? Neben dem wichtigsten, seiner maritimen und finanziellen Macht die der Türkei nicht erlaubt, ohne sehr großes Risiko offen auf die Seite des Dreibundes überzugehen, ist es seine Stellung in Kuwait, der besten Endstation der Bagdadbahn am Persischen Meer. Da der Hafen in Basra sehr kostspielige Arbeiten erfordern würde, um als Endstation zu dienen, muss der Türkei sehr daran gelegen sein, die Bahn in Kuwait ausmünden zu lassen. Kuwait ist formell seit 1638 ein der Türkei untertäniges Sultanat, das, seit dem Midhat Pascha von Bagdad aus in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die türkische Herrschaft am Persischen Meer befestigte, als solches selbst von England angesehen worden war. Seitdem aber die Bagdadbahnfrage England auf die Gefahr der Erstarkung der Türkei am Persischen Meer aufmerksam gemacht hatte, wusste England seine Stellung in Kuwait so zu befestigen, dass die Türkei genötigt war, nach einem von dem bekannten englischen diplomatischen Schriftsteller Lucien Wolff gesehenen Dokumente (Daily Graphic vom 20. März 1911) einen Zustand anzuerkennen, nach dem weder die Türkei noch England Kuwait militärisch besetzen dürfen. Das bedeutet, dass ohne Einwilligung Englands die Bagdadbahn nicht in Kuwait enden kann, wenn die Türkei nicht einen militärischen Konflikt mit England unmittelbar heraufbeschwören will. Der zweite Trumpf in Englands Händen, auf den Sir Edward Grey jüngst erst unzweideutig im Englischen Parlament hinwies, ist die Unmöglichkeit der von der Türkei schon so lange begehrten Erhöhung der Zölle von 11 auf 15 Prozent ohne Einwilligung Englands.

Welche Forderungen will England vermittels dieser Trümpfe durchsetzen? Es ist in erster Linie die Übergabe der Leitung der Bahnlinie von Bagdad bis Kuwait in die Hände Englands, zweitens die überwiegende Anteilnahme des englischen Kapitals an der Finanzierung dieser Strecke. Demgegenüber erstrebt die Türkei eine internationale Verwaltung der Linie und eine solche Beteiligung der türkischen und ausländischen Kapitalistengruppen, dass keine das Übergewicht bekommt. Bei den Verhandlungen darüber sucht man einen Mittelweg zwischen den beiden extremen Standpunkten zu finden, und die allgemeine internationale Situation der nächsten Jahre wird bestimmen, welche Interessen den Sieg behaupten werden. Die alldeutsche Presse behauptet, dass der deutsche Imperialismus ganz um das erstrebte Ziel kommen wird, wenn die Lösung der Frage auch nur annähernd den Forderungen Englands entspricht, da dann die Bagdadbahn das Los des Suezkanals teilt. Selbst wenn man die wirtschaftliche Bedeutung der Bagdadbahn fürs erste ganz beiseite lässt, muss man diese Erklärung der Dehn, Plehn und Konsorten doch lediglich als einen Versuch ansehen, der deutschen Regierung den Rücken zu stärken, denn die Tatsache schon, dass die Türkei ihre Herrschaft in Mesopotamien bis Bagdad festigen würde, müsste jeden Versuch Englands, vom Süden her einen Vorstoß zu wagen, sehr erschweren, ganz abgesehen von der gänzlichen Durchkreuzung der englischen Pläne einer Bahn, die Ägypten mit Indien verbinden sollte, oder der Lahmlegung der wirtschaftlichen Entwicklung an den Gestaden des Persischen Golfs.

So bedeutet die Bagdadbahn einen Sieg des deutschen Imperialismus, selbst wenn bei dem Bau ihrer letzten Linie die englischen Interessen mehr berücksichtigt würden, als es nach Lage der Dinge heute zu erwarten ist. Aber der moderne Imperialismus ist keine Jagd nach Phantomen, nach einer bloß platonischen Weltherrschaft, sondern eine Politik des Kapitalismus, seiner tiefsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate bedrohte Kapital sucht. Von dem wirtschaftlichen Standpunkt gesehen, bedeutet der Bau der Bagdadbahn einen vollen Erfolg des deutschen Kapitals. Wie wir schon im ersten Kapitel ausgeführt haben, geben die Leiter des Unternehmens den bloßen Gründergewinn auf 138 Millionen Francs an, gar nicht gesprochen von den „Ersparnissen“, die sie bei den ihnen von der Türkei zugestandenen Baukosten machen. 160 Millionen Francs sollen diese Ersparnisse nach den Berechnungen englischer Fachmänner betragen. Dass der Bau der Bagdadbahn auch den deutschen Handelsverkehr mit der Türkei günstig beeinflusst, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass seine Ziffern – die deutsche Einfuhr aus der Türkei stieg in den Jahren 1902 bis 1910 von 36 auf 37 Millionen Mark, die deutsche Ausfuhr in die Türkei von 43 auf 105 Millionen Mark – nicht nur absolut sondern auch im Vergleich mit dem Handelsverkehr anderer Staaten stark gewachsen sind.

4. Die Marokkopartie

Wir erwähnten schon in dem einleitenden Abschnitt dieses Kapitels, dass die Konzentrierung der deutschen auswärtigen Politik auf zwei der wichtigsten Ziele – auf die Erringung einer Position in der Türkei und in China – keinesfalls das Vordringen auf anderen Gebieten ausschloss. Der deutsche Imperialismus benutzte jede Gelegenheit, Positionen zu erlangen, die wie die nach dem Spanisch-Amerikanischen Kriege von Spanien gekauften Karolineninseln, die deutschen älteren Besitzungen in der Südsee abzurunden halfen. Er suchte den Einfluss des deutschen Kapitals auch in Gebieten zu verstärken, die er dank ihrer geographischen Lage und historischen Entwicklung nicht in seine Einflusssphäre zu ziehen vermochte. Denn späterhin konnte er für den Verzicht auf politische Ansprüche in diesen, außerhalb der Linie seiner Entwicklung liegenden Gebieten Entschädigungen in anderen Gebieten erlangen, seien es politische oder territoriale, die wiederum zur Abrundung, zur Kommassation der alten Besitzungen dienen konnten.

Eine ganze Anzahl Von Aktionen des deutschen Imperialismus, die auf den ersten Blick Ausbrüche einer irren, unsteten Politik zu sein scheinen, gehören bei näherer Betrachtung zu dieser Politik der Schaffung von Hilfsmitteln zur Unterstützung der hauptsächlichsten Ziele des deutschen Imperialismus. So war es mit der deutschen Politik in Persien, die neben den Handelszielen den Zweck verfolgte, Trümpfe gegen Russland in die Hand des deutschen Imperialismus zu geben, und die übrigens auch dazu verholfen hat, Russland von einem zu nahen Verhältnis zu dem englischen Imperialismus abzuhalten. Zu dieser Politik muss auch die Marokkopolitik der deutschen Regierung gerechnet werden, wenn man sie jetzt, beim Abschluss der Marokkokrise, rückschauend untersucht.

Die ganze Entwicklung der nordafrikanischen Geschichte in den letzten drei Jahrzehnten wies darauf hin, dass dieses entwicklungsfähige Land [40], wenn es nicht imstande sein würde, seine Unabhängigkeit zu wahren, Frankreich zufallen müsste. Die deutsche Marokkopolitik konnte den Plan der Fußfassung in Marokko nicht verfolgen, wollte sie ihre Kräfte nicht gänzlich zersplittern und eine Reibungsfläche mit Frankreich schaffen, die der deutschen Regierung die Hände auf anderen wichtigeren Gebieten binden müsste. Deutschland griff in die Marokkofrage ein, als Frankreich und England hinter seinem Rücken die Geschicke Marokkos im Jahre 1904 zu entscheiden suchten. Ein Protest dagegen sollte dartun, dass das deutsche Kapital den Anspruch erhebt, bei jeder Weltteilung mitsprechen zu dürfen. Das Ziel dieses Protestes war, den Versuch zu unternehmen, ob sich die Unabhängigkeit Marokkos nicht retten ließe, und ob es nicht ein Gebiet der gemeinsamen Ausbeutung für das internationale, nicht nur französische Kapital, bilden könnte. Wäre die Aktion Deutschlands gegen die französischen Marokkopläne im Jahre 1905 von Erfolg gekrönt gewesen, dann hätte das deutsche Kapital zwei Fliegen mit einem Schlage getötet: es hätte sich ein Feld zur Ausbeutung bewahrt, und könnte als Beschützer der islamitischen Freiheit vor der Türkei stolzieren. Diese Ziele wurden nicht erreicht, obwohl die deutsche Regierung sie durch starkes Säbelgerassel unterstützte; Frankreich wurden dank der Unterstützung Englands, Russlands und Italiens auf der Konferenz in Algeciras im Jahre 1906 Funktionen in Marokko überwiesen, deren Ausübung, bei gleichzeitiger Minierarbeit des französischen Börsenkapitals, Marokko mit jedem Tage immer mehr an Frankreich ausliefern musste. Angesichts dieser Tatsache musste der deutsche Imperialismus auf seine bisherigen Ziele in der Marokkopolitik verzichten, denn der diplomatische Kampf gegen die Beherrschung Marokkos durch Frankreich musste mit einem Kriege enden, Marokko aber war eines Krieges für das deutsche Kapital nicht wert, denn es lag abseits von den Hauptzielen der deutschen Weltpolitik. Es galt hier nun, aus der Anerkennung des französischen Appetits auf Marokko politischen Gewinn zu erzielen und zugleich koloniale Nebengewinne herauszuschlagen. Diese Politik hatte die deutsche Regierung in dem Februarabkommen vom Jahre 1909, wie in dem Novemberabkommen des Jahres 1911 verfolgt. Im Jahre 1909 erkannte sie an, dass Frankreich in Marokko politische Interessen besitzt und nahm für sich nur Handelsinteressen in Anspruch. Dank diesem Zugeständnis schloss sich Frankreich den Versuchen Englands nicht an, die bosnische Krise in einen Weltkrieg zu verwandeln, in dem Deutschland und Österreich einer englisch-französisch-russischen Koalition gegenübergestanden wäre. Die deutschen Zugeständnisse in der Marokkofrage dienten also zur Abwehr eines Angriffes der Tripelentente, was zur Durchbrechung des Ringes, den England um Deutschland gezogen hatte, um den deutschen Imperialismus auf die Knie zu zwingen, führte.

In den letzten zwei Jahren entwickelte sich die Marokkofrage soweit, dass sie zur Lösung reif wurde. Die Weltlage erlaubte der deutschen Regierung nicht, die bisherigen Bahnen ihrer Marokkopolitik zu verlassen und ein Stück des marokkanischen Bodens an sich zu reißen. Die Lage der Türkei war seit dem Frühjahr bedroht: der albanische und arabische Aufstand, der Niedergang des jungtürkischen Ansehens, das Brodeln auf dem Balkan, ließen Verschiedenes erwarten. Die Türkei bildet aber, wie hier schon wiederholt angegeben worden ist, eine wichtige Position in den Berechnungen des deutschen Imperialismus gegenüber England. Dabei näherte sich das deutschenglische Ringen um die Endlinie der Bagdadbahn seinem Abschluss. In einer solchen Situation eine Politik zu beginnen, die Frankreich und England fesseln müsste, war für die deutsche Diplomatie – schätzt man sie auch noch niedriger als gewöhnlich ein, obwohl Übertreibung auch hier die Erkenntnis trübt – unmöglich. Umgekehrt, ihre Politik ging darauf hinaus, das Werk von Potsdam weiterzuführen. In Potsdam wurde Russlands Verhältnis zur Tripelentente gelockert. Die Liquidation der Marokkofrage sollte Frankreich von der Notwendigkeit befreien, die englische Unterstützung in Marokko mit der Unterstützung Englands im nahen Osten zu bezahlen, wo die französischen Interessen selbst keine Schwächung der Türkei erfordern. Dieses allgemeine Ziel der letzten deutschen Marokkoaktion erklärt zum Teil den nervösen und sonst unverständlichen Eingriff der englischen Regierung in die deutsch-französischen Verhandlungen durch die Rede Lloyd Georges vom 21. Juli vorigen Jahres.

Es galt, in Frankreich den Eindruck hervorzurufen, als ständen der deutschen Aktion noch andere Ziele als die offiziell zugestandenen, es galt, in der Welt den Eindruck zu wecken, Deutschland bleibe in dem Rahmen von Entschädigungsforderungen nur dank dem englischen Machtwort. Und dieses Ziel war die Ursache, warum es Deutschland so sehr daran gelegen war, dass die Verhandlungen unter vier Augen, nur zwischen Frankreich und Deutschland, stattfanden. Die zweite weltpolitische Ursache, warum Marokko nicht das Ziel der deutschen Politik bilden konnte, war die schon früher bei der Festlegung der deutschen Marokkopolitik in Betracht gezogene Tatsache, dass eine Besitzergreifung eines Teiles von Marokko ohne Zustimmung Frankreichs – selbst wenn sie zu keinem Kriege geführt hätte, was sehr unwahrscheinlich zu sein scheint –, Deutschland genötigt hätte, dort eine große Land- und Seemacht zu unterhalten, das heißt, sich für die nächsten, für die ganze weltpolitische Entwicklung so kritischen Jahre, in der Nordsee sehr zu schwächen. Denn selbst wenn die Reichstagsabgeordneten ohne weiteres eine große Flottenvermehrung bewilligen wollten, würde ihr Ausbau Jahre erfordern, in denen die Schiffe in Agadir die Entblößung der heimischen Gewässer bedeuten müssten. Zuletzt kam in Betracht die Gefahr des Krieges, der von vornherein als Angriffskrieg unter für Deutschland sehr ungünstigen diplomatischen Bedingungen stattfinden würde. Schon diese Momente genügten, um den deutschen Imperialismus von allen territorialen Absichten auf Marokko zurückzuhalten. Sie wurden unterstützt durch das Fehlen größerer kapitalistischer Interessen Deutschlands in Marokko, durch die Teilnahme eines Teils des deutschen Kapitals an den französischen Unternehmungen in Marokko und durch die zunehmende Protestation des Proletariats, mit der nicht zu rechnen die Regierung keinen Grund hatte, da Marokko nicht zu den Lebensinteressen des deutschen Kapitals gehört.

So verfolgte die deutsche Regierung auch bei der letzten Marokkoaktion in erster Linie die alten Ziele vom Jahre 1909, die Schwächung der Position Englands durch die Wegräumung des Konfliktsstoffes, der immer wieder zu Reibungen mit Frankreich führte und es dem englischen Imperialismus in die Arme trieb. Ferner versuchte sie für die volle Anerkennung der französischen Marokkopläne Entschädigung auf kolonialem Gebiet zu erlangen. Die von Frankreich abgetretenen Gebiete von Französisch-Kongo [41] ein Sumpf- und Waldland, das nur dem Finanzkapital Profite abwerfen wird, da es nötig sein wird, aus den Groschen der deutschen Arbeiter neue Kolonialbahnen zu bauen – erlauben aber dem deutschen Imperialismus, den Versuch zu unternehmen, durch weiteren kolonialen Schacher mit Belgien und Portugal eine Verbindung zwischen den afrikanischen Kolonien Deutschlands zu schaffen.

Ob das Abkommen das erste Ziel erreicht ob es in England den Eindruck erweckt, dass es ebenso wenig auf die aktive Unterstützung Frankreichs wie Russlands gegen Deutschland wird rechnen können, ist eine Frage, die sich jetzt nicht beantworten lässt. Diese beiden Ziele geben der Marokkopolitik der Regierung, obwohl sie zum Verlust Marokkos für das deutsche Kapital und zur „Kongoentschädigung“ geführt hat, die selbst für breite Kreise des Industrie und Handelskapitals wenig verlockend ist, vom Standpunkt ihrer allgemeinen imperialistischen Politik einen gewissen Sinn. Die Tatsache, dass die deutsche Regierung keine territoriale Besitzergreifung in Marokko anstrebte, dass sie also nicht gesinnt war, wegen Marokko einen Krieg zu beginnen, hat keinesfalls die Gefahr eines Krieges ausgeschlossen. Da der Charakter der deutschen Marokkopolitik auch der französischen und englischen Regierung bekannt war, konnten sie in ihrer Unnachgiebigkeit weiter gehen, als der deutsche Imperialismus ohne Einbuße an Ansehen zu ertragen vermochte. Das hätte leicht zu einer Besitzergreifung in Marokko mit allen ihren Konsequenzen führen können, und auch etwaige Unruhen in Südmarokko zur Zeit der Stationierung der deutschen Kriegsschiffe in Agadir hätten Deutschland aus der festgelegten Bahn herauswerfen können.

Die Marokkopolitik des deutschen Imperialismus konnte den Weltkrieg entfesseln wie jede seiner Aktionen, die von Anfang an auf Biegen oder Brechen losging. Dasselbe gilt von allen anderen imperialistischen Unternehmungen, die dem deutschen Imperialismus als untergeordnete Trümpfe bei seinen Hauptzügen dienen sollen. Es gibt in dieser Zeit der großen weltpolitischen Spannungen keine imperialistischen Aktionen, denen nicht die Gefahr des Weltkrieges auf dem Fuße folgen würde. Die Tatsache also, dass der deutsche Imperialismus in einer Frage keine territorialen Absichten hat, nimmt seiner Einmischung, wenn sie nur ernsterer Natur ist, nicht den Charakter einer imperialistischen, den Frieden gefährdenden Aktion. Dasselbe gilt natürlich auch von der Einmischung Englands oder Frankreichs in die Hauptaktionen des deutschen Imperialismus. Die imperialistischen Gegensätze können an Punkten zur Austragung kommen, die keineswegs zu den Brennpunkten der deutschen auswärtigen Politik gehören.



Anmerkungen

31. Über die wirtschaftlichen Grundlagen des deutsch-englischen Gegensatzes siehe die knappe aber gut informierende Schrift von Schulze-Gävernitz: Deutschland und England, Berlin, Verlag Hilfe 1911; über die weltpolitische Seite der Frage die verhältnismäßig objektive und ruhige Schilderung Paul Rohrbachs in seinem Buch Deutschland unter den Weltvölkern, Berlin 1911 (dritte Ausgabe).

32. Th. Rothstein: Der Niedergang der englischen Industrie, Neue Zeit, 1905. In englischer Sprache in Buchform erschienen

33. Darüber bei Schulze-Gävernitz: Der britische Imperialismus, Leipzig 1907; Leutschau: Großbritannien, Halle 1907; kritische sozialdemokratische Stellungnahme in den entsprechenden Kapiteln des schon zitierten Buches von Parvus über die Kolonialpolitik.

34. Professor O. Franke: Ostasiatische Neubildungen, Hamburg 1911. Für diesen Zeitabschnitt S.20-96

35. aus dem Tagebuch Li Hung Tschangs, abgedruckt bei Franke, a.a.O., S.111.

36. Dr. Hans Plehn: Weltpolitik, Berlin 1909, S.1-74 und 167-202; Fritz Wertheimer: Die japanische Kolonialpolitik, Hamburg 1910; Franke, a.a.O., S.136-137.

37. A. Paquet: Die ostasiatischen Reibungen, München 1910.

38. Galster: Die Türkei im Rahmen der Weltwirtschaft, Greifswald 1907, Seite 63.

39. Rohrbach: Die Bagdadbahn, Berlin 1911 (Seite 19).

40. Aus der reichhaltigen, aber in vielen Fällen recht phantastischen Literatur über die wirtschaftlichen Verhältnisse Marokkos ist die objektiv geschriebene Abhandlung von Nauticus (für das Jahr 1909): Marokko und seine Beziehungen zur deutschen Volkswirtschaft (S.270–296) hervorzuheben.

41. Siehe Werner Stahl: Französisch-Kongo im Lichte der amtlichen französischen Berichterstattung des letzten Jahrzehnts, Berlin 1911.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008