Karl Radek


Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft

(1918)


Karl Radek, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Wien 1918.
Karl-Heinz Neumann (Hrsg.), Marxismus Archiv, Band I, Marxismus und Politik, Frankfurt/M. 1971, S.156-165.
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Was ist der Kommunismus? Diese Frage beantwortet der jugendliche Friedrich Engels in einem Entwurf des Kommunistischen Manifestes im Jahre 1847: „Der Kommunismus ist die Lehre von den Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse.“ Gemäß dieser Erklärung, die schon den ganzen Geist des wissenschaftlichen Sozialismus enthält, bestand das Werk von Marx und Engels in erster Linie darin, in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die Entwicklung der Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse aufzufinden, um sie zum Ausgangspunkt der kommunistischen Tätigkeit zu machen. Damit war die Entwicklung von der Utopie zur Wissenschaft vollzogen.

Die Vorläufer von Marx und Engels, die utopistischen Sozialisten, haben Großes geleistet in der Charakteristik der bürgerlichen Gesellschaft. Der grimme Fourier, der sie geißelte und von allen Hüllen entblößte; der faustisch geniale Saint-Simon, der ganze Epochen der menschlichen Geschichte mit ein paar Worten blitzschnell beleuchtete; Owen, der tief und liebevoll in die menschliche Natur eindrang und ihre Abhängigkeit von der ökonomischen Entwicklung mit Wort und Schrift aufwies. Sie alle lieferten Bausteine für das große Gemach des wissenschaftlichen Sozialismus. Ohne sie ist Marxens Werk undenkbar. Aber trotz der tief eindringenden Kritik der kapitalistischen Gesellschaft verstanden es die Vorläufer von Marx nicht, in ihr selbst die Massenkräfte zu finden, die sie überwinden könnten. Deshalb mußten sie die historische Vorsehung spielen, den Plan der Rettung der Menschheit aus den Klauen des Kapitalismus ausarbeiten, einen Plan, dessen einzige Schwäche war, daß der Baumeister fehlte, der nach ihm den Tempel der Menschheit gen Himmel erheben konnte. Marx und Engels zeigten, wie die Entwicklung der Produktionskräfte unter der Herrschaft des Kapitalismus in immer größere Anarchie und Versklavung der Massen ausmünden müsse, wie sie gleichzeitig in der Konzentration der Industrie, in der Bildung einer starken Arbeiterklasse und in der Erfüllung ihres Geistes und ihres Herzens mit dem Gedanken an eine neue Ordnung, mit dem eisernen Willen sie zu erringen, die Grundlage des Sozialismus selbst schafft. Marx und Engels zeigten dem internationalen Proletariat eine historische Notwendigkeit seines Sieges, des Sieges des Sozialismus. Gleichzeitig zeigten sie ihm auch, daß dieser Sieg den Entrechteten und Versklavten nicht mechanisch auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung in den Schoß fallen werde, sondern daß sie sich für diesen Sieg im Schweiße ihres Angesichtes, im ununterbrochenen Kampf ihrer Gehirne, Tag für Tag gegen die Bourgeoisie auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens kämpfend, vorbereiten müssen, um ihn dann im direkten revolutionären Kampfe Klasse gegen Klasse zu erringen. Dieser revolutionäre Endkampf, der in der eisernen Diktatur des Proletariats über alle anderen Klassen ausmünden wird, wird erst die Arbeiterklasse in das gelobte Land des Sozialismus führen.

Die Lehre von Marx und Engels von den Bedingungen des Sieges des Proletariats, die Lehre des Kommunismus steht heute da, unberührt vom Zahn der Zeit, ein Granit-Block. Die 70 Jahre, die uns von dem Tage trennen, an denen die genialen Jünglinge vom Lichte der nahenden Revolution die Zukunft der Menschheit grell beleuchtet erblickten und sie uns im unvergeßlichen Kommunistischen Manifest zeigten, haben viele Änderungen in der kapitalistischen Struktur gezeitigt, die zu erfassen die nicht immer glücklich gelöste Aufgabe der Nachkommen Marxens war. Aber die Grundlinien der Entwicklung haben sich nicht geändert, und erst heute in der ersten sozialistischen Revolution, die die Welt erlebt, erfassen wir vollkommen die Lehre des Kommunismus. In der ersten sozialistischen Revolution, in ihren eisernen Notwendigkeiten, erleben wir die geniale Bestätigung der prophetischen Kraft des Geistes unserer Meister. Der Kommunismus ist eine Lehre von der Revolution und deshalb ist er in seiner ganzen Tiefe und Breite nur in der Periode der Revolution selbst zu erfassen. Daraus ergibt sich schon, daß in der langen Periode der ruhigen Entwicklung, die der Zeit der Revolution voranging, nur einzelne scharfe Geister imstande waren, die Lehre des Kommunismus so allseitig, so unverfälscht zu erfassen, wie sie geboren wurde im revolutionären Zeitalter des entstehenden Kapitalismus, im Geiste der Kinder dieser Sturm- und Drangperiode, im Geiste von Karl Marx und Friedrich Engels.

In der Epoche der ruhigen Entwicklung wurden dieser Lehre die verschiedensten nicht kommunistischen Elemente beigemischt, und so entstanden unter dem Namen sozialdemokratischer Auffassungen verschiedene Ersatzprodukte des Kommunismus, die die internationale Arbeiterklasse jetzt beiseite schieben muß, wenn sie ihren Aufgaben gewachsen sein soll. Der verwässerte und gefälschte Kommunismus, aus dem sein lebendiger Geist ausgelöscht wurde, ist es, der es den Arbeitern Europas erschwert, die Lehren der russischen Revolution zu verstehen und zu beherzigen. Deshalb ist es eine der ersten Aufgaben des proletarischen Befreiungskampfes unserer Zeit, den Kommunismus von allen Schlacken zu befreien. Das geschieht am leichtesten, wenn wir historisch die Entwicklung der einzelnen Fälschungen des Kommunismus kennen lernen, auf dem sie entstanden sind.

Die Verfälschung des Kommunismus

Die Marx’sche Lehre, die in ihrem Umriß in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren wurde, fand ihre Verbreitung in weiten Schichten des Volkes erst in den 80er Jahren. Als in den 60er und 70er Jahren die deutsche Arbeiterbewegung unter Führung Ferdinand Lassalles einsetzte, war den Arbeitern keine einzige Schrift Marxens bekannt. [1] Die Gedanken des Kommunismus wurden ihnen durch die kleinen zündenden Broschüren Lassalles geläufig: in denen jedoch die Lehre des Kommunismus ganz eigenartig ausgeprägt, wenn nicht verfälscht wurde. Ferdinand Lassalle suchte die Arbeiterschaft in Bewegung zu bringen in einer Zeit, wo eine Epoche der kapitalistischen Prosperität die konterrevolutionären Gewalten in ganz Europa gestärkt hatte und ihnen die Möglichkeit gab, die damals auf der Tagesordnung stehenden großen Zeitfragen zu lösen.

In Deutschland war das Junkertum zusammen mit der Großbourgeoisie dabei, die damals wichtigste Frage der Schaffung eines einheitlichen kapitalistischen Staates zu erledigen. Die Kräfte, die im Jahre 1848 versucht haben, auf revolutionärem Wege eine einheitliche deutsche Republik zu gründen, sie erwiesen sich zu schwach, und was sie nicht imstande waren zu leisten – den kapitalistischen Staat als Organ der deutschen Bourgeoisie zu gründen – das nahmen die Bourgeoisie und das Junkertum in ihre Hände. Sie erledigten sich ihrer Aufgabe, indem sie das reaktionäre Gebäude eines bürokratisch-kapitalistischen Bundesstaates bildeten, in dem eine Clique von Großkapitalisten zusammen mit den Junkern und den Generälen unter der Hohenzollern-Spitze die Geschichte des deutschen Reiches leitete. In einer solchen Zeit suchte Lassalle aus der Arbeiterschaft eine Kraft zu bilden, die, wenn sie nicht imstande war, selbständig die Geschichte des deutschen Volkes zu bestimmen, so doch imstande sein sollte, von den herrschenden Gewalten Zugeständnisse zu erlangen. Auf diese engbegrenzte Aufgabe war die kommunistische Propaganda zugespitzt, wie sie von Lassalle unter den Arbeitern verbreitet war. Um seine Propaganda trotz des Druckes der Bismarckschen Reaktionsperiode verbreiten zu können, suchte er dem Kommunismus ein möglichst unschuldiges Gesicht zu verleihen. Der junge Löwe, dessen Tatzen noch nicht imstande waren, mit den Feinden fertig zu werden, sollte als Lämmlein auf die Weide geführt werden. Lassalle versuchte den Kommunismus als eine Bewegung darzustellen, die sich auf friedlichem Wege durchsetzen könne. Durch das allgemeine Wahlrecht sollten die Arbeiter den Einfluß auf den Staat erobern, um mit seiner Hilfe zur Organisation der Produktivgenossenschaften zu gelangen, die allmählich die kapitalistische Gesellschaft in die sozialistische verwandeln sollten. Diese Propaganda entwickelte in den Arbeiterkreisen eine Verehrung des Staatsgedankens ohne Rücksicht darauf, ob der Staat sich in den Händen des Kapitalismus oder in den Händen der siegreichen Arbeiterklasse befindet. Diese Auffassung wurde zwar, insoweit es sich um das Verhältnis zu der Bismarckschen Regierung handelte, auf eine harte Probe gestellt durch die Ära der wilden Verfolgungen der deutschen Arbeiterbewegung in der Zeit von 1878 bis 1890, wo der wilde Druck von oben, die Hetze gegen die Arbeiterbewegung, in den Vorderreihen der Arbeiterschaft großen Haß gegen den kapitalistischen Staat entstehen ließ, und die durch diesen Haß genährte Hoffnung, daß er bald unter den Schlägen der sozialen Revolution zusammenbrechen werde. Diese Stimmung der Arbeiterschaft wurde noch genährt durch die schleppende Krise, die im Wirtschaftsleben Europas der 80er Jahre herrschte. Aber das war nur eine Unterbrechung in dem Prozesse der reformistischen Verfälschung des Kommunismus, wie sie seit der Konstituierung der kapitalistischen europäischen Staaten in den 70er Jahren vor sich ging. Sobald die Arbeiterbewegung sich etwas von den Schlägen erholt hatte, sobald sie etwas erstarkt war und die wildesten Formen der kapitalistischen Verfolgung schwanden, nahm der Prozeß der Verfälschung und Verwässerung des Kommunismus in allen Ländern den größten Umfang an. Dem steuerte noch die rasche wirtschaftliche Entwicklung bei, die Prosperitätsperiode des Kapitals, wie sie überall im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts Platz griff, in erster Linie auf dem Gebiete der Elektrizitäts- und der Metallindustrie. Seit den 80er Jahren fielen die Getreidepreise dank der Entwicklung der amerikanischen Landwirtschaft, und jetzt begannen die Löhne unter dem Einfluß des flotten Geschäftsganges zu steigen. Die Vorderreihen der Arbeiterschaft, die Arbeiteraristokratie, sah den Himmel voller Geigen. Die Regierungen waren genötigt, ihre Verfolgungen einzustellen, sie begannen, soziale Reformen zu versprechen. Die Arbeiter errangen überall die Vertretung in den Parlamenten; die Arbeiteraristokratie verdiente gute Löhne, und da setzte sich in ihr die Auffassung fest: die Revolution sei eine überwundene Phase der bürgerlichen Entwicklung. Die Arbeiterklasse werde die Bourgeoisie nötigen, immer neue Zugeständnisse zu machen, die schließlich die kapitalistische Wirtschaftsweise in eine solche verwandeln werden, die den Interessen der Arbeiterklasse entspräche. Diese Bestimmung fand ihren Ausdruck zuerst in der opportunistischen parlamentarischen Praxis, in der Politik der parlamentarischen Arbeiterführer, die hofften, durch Techtelmechtel mit der Bourgeoisie, durch eine Beschränkung ihrer Forderungen, durch ein Aufgeben der revolutionären Propaganda, die Lage der Arbeiterschaft immer mehr heben zu können. Dann fand diese Tendenz ihren theoretischen Ausdruck in der Lehre des Reformismus (Revisionismus), wie er durch Eduard Bernstein in Deutschland, Saraute und Jaures in Frankreich, Treves und Turati in Italien geprägt wurde.

Wenn man die Lehren des Reformismus auf eine Formel bringen will, so bestanden sie in dem Versuch der Beweisführung, daß die kapitalistische Entwicklung die Gegensätze zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie nicht verschärfe, sondern mildere, und daß darum nicht die Revolution, sondern Zusammenarbeit des Proletariats mit den einsichtigen Schichten der Bourgeoisie den Weg der Befreiung des Proletariats bedeute. Der Reformismus leugnete die Möglichkeit der sozialistischen Revolution, die er durch die soziale reformerische Evolution ersetzte. Es war eine konterrevolutionäre Lehre, er suchte, den Gedanken der Revolution der Arbeiterschaft als eine Kinderkrankheit der Arbeiterbewegung darzustellen, um sie vor den Wagen der Bourgeoisie zu spannen. Diese Tendenz des Reformismus fand den grellsten Ausdruck in einer Reihe von Artikeln des Bernsteinschen Jüngers Eduard David, die er im Jahre 1903 in den Sozialistischen Monatsheften, dem Hauptorgan des internationalen Reformismus, über die Diktatur des Proletariats veröffentlichte. Nicht Revolution, sondern parlamentarische Aktion, Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung – das war der Weg, den der Reformismus der Arbeiterklasse predigte.

Zusammenbruch der reformistischen Illusionen

Aber dieselbe Entwicklung, die nach der Überzeugung der Reformisten die revolutionäre Lehre des Kommunismus überwunden haben sollte, zeigte bald den Arbeitern die ganze Lächerlichkeit der reformistischen Illusionen. Die Junker setzten sich zur Wehr gegen die wachsende Konkurrenz der jungen agrarischen Länder und erhöhten durch agrarische Zölle die Lebensmittelpreise. Die Entwicklung des Kapitalismus führte zur Bildung von Trusts und Kartellen, die großen kapitalistischen Organisationen, die nicht nur das Handwerk, sondern auch die mittlere Bourgeoisie verdrängten und besiegten. Zum Schutz der Kartellrente forderten sie auch für die Industrie hohe Zölle. Sie vereinigten sich mit den Junkern, um gemeinsam die Völker zu plündern; gleichzeitig bedeutete die fortschreitende Kartellisierung der Industrie eine enorme Machterweiterung der Kapitalisten, den Arbeitergewerkschaften gegenüber. Dieselben Gewerkschaften, die dem kleinen Textilbaron gegenüber mit seinen paar hundert Arbeitern ihren Willen ohne weiteres durchdrücken konnten, waren ohnmächtig den Eisen- und Kohlenkönigen gegenüber, die über Zehntausende von Arbeitern kommandierten. Wenn der Arbeiter in einer Textilfabrik mit seinem Lohn unzufrieden war, konnte er Arbeit in einer anderen Fabrik finden. Die kartellierten Kohlen- und Eisenbarone erkannten die Gewerkschaften nicht an, sie standen fest zusammen gegen jede Forderung ihrer Arbeiter und wußten sich durch das System schwarzer Listen gegen ihre Arbeiter zu wehren. Die Verschärfung der Beziehungen zwischen Proletariat und Bourgeoisie, sowohl in der Fabrik als auch auf dem Konsummarkte, wurde noch mehr verstärkt durch die imperialistische Politik, die den Kampf der kartellierten Industrien auf dem Weltmarkte, den Kampf der Waren und der Kapitale in einen Krieg zu verwandeln drohte. Die wachsende Steuerlast, durch das Wachstum des Militarismus und Marinismus verursacht, die wachsende Kriegsgefahr, die sich immer mehr verschärfte, Gewerkschaftskonflikte, verleiteten die besitzenden Klassen, wieder einen schärferen politischen Kurs gegen die Arbeiterklasse zu steuern. Weil die Ausbeutung wuchs, deshalb mußten auch die Unterdrückungsmaßregeln verschärft werden. Die wachsende politische Reaktion wirkte ihrerseits auf die Arbeitermassen als Sturmzeichen und zeigte ihnen in allen Ländern, daß nicht der revolutionäre Kommunismus, sondern umgekehrt der angeblich „reale“ Reformismus eine Utopie war, zwar keine die Seelen beflügelnde, die Energien aufmunternde Utopie, die den Weg der Menschheit in ihren Bildern kürzt, um die Trägen zur Beschleunigung ihrer Schritte aufzumuntern, sondern eine Utopie, die umgekehrt ihren Schwung lähmen, sie in kriechendes Getier verwandeln sollte.

Seit dem großen Streik im Ruhrgebiet, seit den großen Kämpfen der Berliner Elektrizitätsarbeiter, der stürmischen Bewegung der französischen Arbeiter für die Erringung des Achtstundentages, war der große Glaube der Arbeiterschaft an die friedliche Entwicklung zum Sozialismus verschwunden. Sie sahen, wie sich die Kräfte des Kapitalismus im Wirtschaftsleben wie in der Politik gegen das Proletariat zusammenballten, sie sahen, wie die bürgerlichen Parteien sich immer mehr zu einer reaktionären Masse zusammenfanden, sie sahen, wie sich die ganze bürgerliche Gesellschaft dem Abgrund des Krieges näherte, sie sahen, daß dieser Entwicklung gegenüber das Parlament schon deshalb immer mehr versagen mußte, weil es selbst in allen Ländern an Macht verlor zu Gunsten der Geheimkabinette, in denen die Bürokratie zusammen mit den Haifischen des Kapitals die vitalsten Angelegenheiten des Volkes erledigte. – Die auflodernde russische Revolution des Jahres 1905 zeigte den Massen Europas, welche Kräfte in dem Arbeitervolke stecken, wenn es sich aufrafft und wenn es gewillt ist, seine Persönlichkeit für die Sache in die Schanze zu schlagen. Seit dem Jahre 1905 standen die Probleme des Kampfes um die Macht, d.h. die Probleme der sozialistischen Revolution, die theoretisch durch die Diskussion mit dem Reformismus auf die Tagesordnung gestellt wurden (die Broschüre Kautskys über die Soziale Revolution, erschienen im Jahre 1903) vor dem Bewußtsein der Volksmassen.

Auf der Suche nach dem Weg zur Macht

Es begann ein mühevolles Suchen des Ausweges aus der Sackgasse, in die sich die kapitalistische Entwicklung verrannt hatte. Die erste Frage, die vor den Arbeitermassen stand, war: wohin geht die Reise? Diese Frage wurde so klipp und klar durch die Entwicklung beantwortet, wie es nur zu wünschen war. Der Versuch, durch Zusammenarbeit mit dem Bürgertum die Lage der Arbeiterschaft zu bessern, scheiterte in Frankreich vollkommen. Millerands Eintritt in die bürgerliche Regierung brachte der Arbeiterschaft nichts ein und führte zur Kompromittierung der Sozialdemokratie in den Augen der Arbeitermassen. Der Ausgang der Wahlen 1907 in Deutschland zeigte den Arbeitern, daß die bürgerlichen Parteien sich gegen die Arbeiterschaft zu einer eisernen Mauer zusammenschließen würden, sobald es sich um den Imperialismus, d. h. um die Ausbreitung der kapitalistischen Macht über schwächere Völker, um den bewaffneten Konkurrenzkampf der kapitalistischen Staaten handelt. Die Tatsachen der Wirtschaftskrise des Jahres 1907 sprachen eine so klare Sprache, daß ein so namhafter Reformist wie Max Schippel seine Untersuchung des Verlaufes der Wirtschaftskrise nicht anders beenden konnte, als durch die Feststellung der Verschärfung der Klassengegensätze in der ganzen Welt. Karl Kautsky zog in seiner Arbeit Der Weg zur Macht im Jahre 1908 die Bilanz der ganzen Entwicklung, indem er bewies, daß sich die kapitalistische Welt in der Richtung einer ungeheuren sozialistischen Weltkrise bewege, daß wir am Vorabend der sozialistischen Revolution stehen. Diese Überzeugung die sich immer mehr in den Vorderreihen der Arbeiterschaft festsetzte, stellte sie vor die zweite Frage: Mit welchen Mitteln wird das Proletariat sich in der neuen Situation zur Wehr setzen, mit welchen Mitteln wird es zum Angriff auf die Festungen des Kapitals übergehen? Schon 1905 hat sich das deutsche und österreichische Proletariat zum Gedanken des Massenstreiks geistig durchgerungen. Ungeachtet der großen Versteinerung des Geisteslebens der Parteiführerschaft, die in ihrem ruhigen spießbürgerlichen Leben sehr wenig die Stimmung der Arbeiterschaft widerspiegelte, hatte sie in dem Massenstreik ein Abwehrmittel gegen Anschläge auf die Grundrechte der Arbeiterschaft erkannt (die deutsche Sozialdemokratie in Jena 1905) oder sogar in ihm das Angriffsmittel des Proletariats gegen besonders hartnäckige Gegner begrüßt (die österreichische Sozialdemokratie). Der Massenstreik wurde von den französischen Syndikalisten als Generalstreik zum allmächtigen Befreiungsmittel erhoben. Die Arbeiterschaft, die bisher nur durch ihre Vertreter politisch in den Parlamenten kämpfte, begann sich auf ihre Rolle in dem Produktionsprozeß, auf die Worte Freiligraths: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ zu besinnen.

Jahrelang diskutierten die Führer des linken Flügels der Arbeiterschaft die Bedingungen der Anwendung des Massenstreilcs. Soll er von den Leitern der Arbeiterorganisationen beschlossen werden, wenn die parlamentarische Aktion versagt, wenn der Gegner die Massen durch seine rücksichtslose Politik zur Verzweiflung bringt, soll er also eine Pistole sein, die man als Ergänzung des parlamentarischen Kampfes bereit hält, oder ist er die Kampfform, die spontan aus den sich verschärfenden Klassenkämpfen hervorbricht, und die nicht im Konferenzzimmer der Führer, sondern jede Stunde in den Werkstätten und in den Fabrikskasernen vorbereitet werden muß: nicht nur durch die sich steigernde Agitation, sondern durch die zu verschärfende Aktion des Proletariats. Das waren die Fragen, die den linken Flügel der internationalen Arbeiterbewegung in den Jahren vor dem Weltkriege aufs Energischste beschäftigten. Und schon zeigte es sich, daß selbst in dieser einfachen Frage das Lager des Sozialismus, das Lager, das unter dem Banner Marxens kämpfte, sich spaltete, indem ein Teil unter der Führung Karl Kautskys zwar sich mit dem Munde zu der nahenden sozialistischen Revolution bekannte, aber ängstlich der Verschärfung des Klassenkampfes aus dem Wege ging, obwohl die ganze innere und äußere Lage des Proletariats sie erforderte.

In diesem Kampf um den Weg zur Macht tauchte hie und da die Frage auf: „Worin soll die Macht der siegreichen Arbeiterschaft sich äußern?“ Aber sie wurde nirgends klar auf die Tagesordnung gestellt, und dies aus sehr einfachen Gründen. Auf der Tagesordnung der Geschichte stand eben erst die Frage des Sichinbewegungsetzens der Arbeiterbataillone, die Frage Ihres allgemeinen Marschzieles, nicht aber der auf dem Wege zu durchschreitenden Etappen. Um die Notwendigkeit des Massenstreiks zu beweisen, wiesen die radikalen Sozialisten auf den Niedergang des Parlamentarismus hin. Sie zeigten, wie er immer mehr und mehr eine Zitadelle der kapitalistischen Beutejäger werde: sie kritisierten aufs Schärfste in den republikanischen Ländern die Talmirepublik und die Talmidemokratie, und es tauchte oft die Frage auf: „Wie verwandelt man die kapitalistische Demokratie und ihre parlamentarischen Organe in Machtorgane des siegreichen Proletariats?“ Als Anton Pannekoek, der klarste Kopf des westeuropäischen Sozialismus, die Frage damit beantwortete, daß man den kapitalistischen Staat auch in seinen demokratischen Formen zertrümmern und neue Machtorgane des arbeitenden Volkes im Feuer der proletarischen Revolution schaffen müsse, da wurde er von Karl Kautsky, dem autoritativsten marxistischen Theoretiker der zweiten Internationale, des Anarchismus geziehen. Wie richtig auch die Antwort Pannekoeks war, sie war nur eine halbe Antwort. Sie wies darauf hin, daß die Zwangsorgane des Kapitals zerschlagen werden müssen, aber sie zeigte nicht, welche Zwangsorgane das Proletariat zu bilden haben wird, um seinen Sieg durchzuführen und zu befestigen.

Während die Mehrheit auch der revolutionären Sozialisten in der Demokratie die Form, in der der Sozialismus siegen wird, sahen, wies der Syndikalismus, diese revolutionäre Theorie der Länder, in denen der Bankrott der Demokratie eine tiefe Enttäuschung in den Volksmassen erzeugt hatte, auf die Gewerkschaften hin, als das Organ, das die Macht erobern und zum Machtorgan ausgestaltet werden sollte. Diese Frage, die, wie gesagt, nur sporadisch von dem weit über den Rahmen der Zeit hinausgreifenden Gehirn einzelner Theoretiker gestellt wurde, konnte durch sie nicht beantwortet werden. – Die historischen Lösungen werden niemals durch die Theoretiker der revolutionären Arbeiterklasse erfunden, sie können nur durch revolutionären Kampf der Massen praktisch gefunden werden, und den Theoretikern bleibt nur die Aufgabe, den Sinn der praktischen Schritte des Proletariats zu begreifen, sie zu verallgemeinern und sie zum allgemeinen Kampfobjekt des Proletariats, zu der Losung seines Kampfes zu machen.

Die Lehren des Weltkrieges

Bevor die Arbeiterklasse vor die Frage ihrer Machtorgane gestellt werden konnte, mußte sie zuerst alle Folgen ihrer Machtlosigkeit im wörtlichsten Sinne des Wortes an ihrem Leibe spüren. Sie mußte die Hölle des Weltkrieges durchschreiten, von Granaten in Stücke gerissen werden, sie mußte verbluten für die Interessen des Kapitals, sie mußte Berge von Leichen auftürmen, damit die Lehre: der Kapitalismus treibe zur blutigsten Anarchie, zur Vernichtung der geringen Kulturansätze, die geschaffen sind, zum tiefsten Elend der Massen, zu ihrer Versklavung im wahrsten Sinne des Wortes, damit diese Lehre sich aus einer theoretischen These in schreiendes und brennendes Bewußtsein wenigstens der Vorderreihen der Arbeiterschaft verwandelte.

Die theoretische Propaganda der revolutionären Sozialdemokraten, die Erfahrungen, die Schläge, die das Kapital dem Proletariat seit Ende des vorigen Jahrhunderts tagtäglich versetzte, das alles genügte nicht, die wachsende Unruhe des Proletariats über erste schüchterne Massenvorstöße gegen das Kapital hinauswachsen zu lassen. Die opportunistische Politik der Führer der Arbeiterbewegung lullte die Vorderreihen der Arbeiteraristokratie in Ruhe ein, eine Ruhe, die bewies, daß sich die Elite der Arbeiter in verhältnismäßig günstigen Verhältnissen befand. Die niederen Schichten der Arbeiterklasse waren aber zu unwissend, zu unbeholfen, als daß sie imstande gewesen waren, ohne die Partei- und Gewerkschaftsbürokratie oder gegen ihren Willen, sich in den revolutionären Kampf zu stürzen. So kam das lang erwartete Tier des Weltkrieges und begann dem Proletariat mit seinen Tatzen die Lehren zu predigen, die es nicht verstand, als sie ihm von dem revolutionären Sozialismus gepredigt wurden.

Das russische Volk ist das erste, das diese Lehren verstanden hat und aus ihnen die Schlüsse zog, indem es die sozialistische Revolution vollzog. Die russische Revolution ist die erste Antwort des Proletariats auf den Weltkrieg, der Vorkämpfer und der Vorläufer der internationalen Revolution, sie gibt die Antwort auf die Fragen, die die Sphinx der Revolution jahrzehntelang dem Sozialismus stellte. Auf die Frage, die die Arbeiterklasse beantworten muß, wenn sie von ihr nicht zerrissen werden will. Indem das russische Proletariat mit seiner Revolution den ersten Schritt auf dem Wege der Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat macht, bedeutet sie zugleich einen mächtigen Schritt zur Entwicklung der Wissenschaft von dem Kommunismus. Der Kommunismus ist die Lehre von den Bedingungen des Sieges der Arbeiterklasse. Diese Bedingungen werden am klarsten im Prozesse des Sieges, darum ist das Verständnis der russischen Revolution eine Vorbedingung der Entwicklung des Kommunismus von der Wissenschaft zur Verwirklichung, d. h. zur proletarischen Weltrevolution.


Anmerkung

1. Bebel erzählt in seinen Lebenserinnerungen, daß das Kommunistische Manifest der Generation, die in den 70er Jahren in die Bewegung eintrat, unbekannt war. Aus anderen Quellen wissen wir, daß Engels: Herrn Dührings Umwälzung in der Wissenschaft es war, woraus der Marxismus als einheitliche Weltanschauung zugänglich wurde. Die Arbeit von Engels erschien im Jahre 1878.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008