Karl Radek

Das dritte Jahr des Kampfes
der Sowjetrepublik gegen das Weltkapital


II. Vor der Entscheidung


Die Bilanz der Entente-Politik

Das Jahr 1920 führte zu Ende, was das Jahr 1919 gebracht hat: die Zertrümmerung der Interventionspläne der Entente. Sowjet-Rußland hat mit den einst vom Zarismus unterjochten Randvölkern, mit den Finnen, Esten, Letten, Litauern Frieden geschlossen. Es ist dabei, den Frieden mit Polen zu schließen. Es kann mit Rumänien, wenn dieses auf einen Frieden nicht eingeht, leicht fertig werden. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß all die Vasallen der Entente zu wenig Vertrauen zu ihren Herren haben. Entweder rechnen sie, die Entente ist weit, die Rote Armee ist nah, und sie werden von der Entente im entscheidenden Momente im Stich gelassen, oder sie lassen sich leiten durch die Einsicht, daß die Entente gar nicht gewillt ist, ihre dauernde Existenz anzuerkennen, daß sie nicht einmal imstande ist, dies zu tun, wenn sie ihre Karte auf die russische Konterrevolution setzen will. Schließlich verstehen sie, daß das Verhältnis zur Entente ihre Ausbeutung durch das Ententekapital mit sich bringt, falls sie keine Gegenversicherung durch den Frieden mit Sowjet-Rußland haben. Und schließlich die Zerfahrenheit, der Ententepolitik hat in ihnen den Glauben an die Festigkeit ihres, antibolschewikischen Kurses untergraben. Die Randvölker sind als allgemeine Trumpf aus der Hand der Entente durch die Sowjetpolitik geschlagen worden. Noch wird die Entente vielleicht imstande sein, diese oder jene Clique eines Randstaates in Bewegung gegen Sowjet-Rußland zu bringen, eine allgemeine Front gegen Sowjet-Rußland aus den Randstaaten wird die Entente nicht mehr imstande sein, zu formen. Dies destoweniger, als die massenpsychologischen Grundlagen einer solchen Intervention vollkommen verschwunden sind. Die Bourgeoisie der Randstaaten konnte die Bauern und Kleinbürger ihrer Länder gegen Sowjet-Rußland nur dadurch auf die Beine bringen, daß sie ihnen das Märchen von dem Sowjet-Imperialismus vorerzählte. Sowjet-Rußland hat dieses Märchen zerschlagen. Es war nicht nur in dem Moment zum Frieden entschlossen, wo es von stärkeren Feinden bedroht war, sondern es hat den Frieden gehalten, als seine Armeen frei wurden. Die Massen in Estland, Lettland, Litauen, beginnen zu verstehen, daß sie belogen wurden. Das alte nationale Mißtrauen zu den Russen, das Resultat der alten zarischen nationalen Unterdrückungspolitik, es verschwindet. Und die Bourgeoisie, die so furchtbare Angst hatte, Sowjet-Rußland könnte unter der Maske des Friedens den Umsturz in den Randländern vorbereiten, sie rechnet folgendermaßen: an und für sich stellen die Randländer mit einer sehr schwachen Arbeiterklasse kein besonderes Anziehungsobjekt für Sowjet-Rußland. Politisch und ökonomisch sind sie nur Transitländer, für Wären wie für revolutionäre Ideen. Siegt die Revolution im Deutschland, dann – das wissen, sehr gut, die Leute in den bürgerlichem Kreisen dieser Randländer – wird auch das Proletariat dieser Randländer die Kraft finden, die Macht zu ergreifen. Aber bis dieser Tag der Sintflut eintritt, hat Sowjet-Rußland gar kein Interesse, diese Länder zu überrennen. Es braucht sie eben als Fenster zu Europa, solange es keinen stabilen Frieden mit England erreicht hat. Hat es diesen Frieden, so wird es ein desto lebhafteres Interesse haben, ihn nicht aufs Spiel zu setzen durch Angriffe auf Länder, mit. denen es erst den Frieden geschlossen hat. Diese Rechnung der bürgerlichen Kreise, – und man findet sie in allen Köpfen in den Randländern – , stärkt ihre friedliche Stimmung desto mehr, je mehr sie am Transithandel mit Rußland verdienen. Die Zertrümmerung der von der Entente finanzierten und organisierten Kräfte der russischen Konterrevolution hat in weiten Kreisen der Entente-Politiker die sehr richtige Ueberzeugung gestärkt, daß jeder Angriff auf Sowjet-Rußland nur die moralische Position der Sowjetregierung stärke, indem er nicht nur die Angst der Bauern um ihren Grund und Boden, nicht nur die Angst des Proletariats vor der Herrschaft des weißen Terrors, sondern auch die nationalen Gefühle der Intellektuellen mobil macht Aber die Niederlagen der Weißen haben noch eine andere Folge. Die geschlagenen, im Stich gelassenen, in ganz Europa herumwandernden weißen Offiziere und Flüchtlinge, die mit der Ausnahme der kleinen Schicht der Generalität und der Schieber, alle Bitternisse der Emigration, alle Schrecknisse der ententistischen Konzentrationslager auszukosten bekommen, sie klagen die Entente der Schuld an ihrem Los an. Sie klagen die Entente an, d aß sie sie nur als Schachfiguren in ihrem Kampfe um die Ausbeutung Rußlands behandelt hat Es genügt, einen Blick in die weißgardistische Presse Rußlands zu werfen, um zu sehen, daß die Entente, in erster Linie England, die Kunst fertig gebracht hat, nicht nur die. Arbeiter und Bauernmassen Rußlands, sondern auch die Weißen im Haß zu sich zu vereinigen. Natürlich kann die Entente aus diesen zerlumpten, verhungerten, deklassierten Elementen immer ein paar Zehntausende fur Geld mobil machen. Sie haben nichts zu verlieren; sie würden sich ebenso gern oder ungern dem König von Siam, wie dem König von England vermieten. Aber mit diesen Ironsides ohne Glauben, ohne Willen, ohne Ziel, kann man keine Schlachten gewinnen.

Gewisse Ententekreise, sehen ein, daß die Karte auf die aktiven konterrevolutionären Kräfte ausgespielt hat. Sie ziehen daraus den Schluß: nun dann gilt es zu warten, bis der Hunger, das wirtschaftliche Chaos die Passivität der Massen der Bauern Rußlands überwindet und sie zu einem aktiven konterrevolutionären Massenfaktor macht. Aber klügere Elemente der Entente sehen ein, daß diese Rechnung auf sehr schwache Füße gestellt ist. Wenn Rußland nicht genötigt ist, im Kriege seine Produktion aufzuzehren, so wird es seine Energie dem Wiederaufbau seiner Produktionskräfte zuwenden. Es wird sogar ohne Hilfe des Auslandes sich langsam zu erholen beginnen, und schließlich sagen die Engländer mit Professor Seely: der Hunger allein ist kein revolutionärer Faktor, er ist nur ein revoltierender Faktor. Mit den Revolten wird noch jede Regierung fertig, wenn sie auch nur Hunderttausende entschlossener Männer besitzt, die mit ihr auf Leben und Tod verbunden sind; damit aus Revolten eine Revolution wird, ist eine organisierende Kraft nötig, die sich auf eine aufsteigende soziale Schicht stützt, die weiß, was sie will, die Ideale hat, die die Massen anfeuern können. Die weißgardistische Presse gibt aber zu, daß sie keine Ideale besitze, die die Massen auf die Beine bringen. Wenn man die klügsten weißgardistischen Organe liest, so sieht man in ihnen eine Atmosphäre vollkommener Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit. Mystisch rechnen sie, daß einmal das Damaskus für den Bolschewismus kommen muß, aber wann und wie? Das können sie nicht sagen. Das Bramarbasieren der Sozialisten-revolutionäre, das „Volk“ werde aufstehen im Namen der kahlen Demokratie, findet keine gläubige Aufnahme in den führenden Kreisen der Entente. Erstens haben sie die Madame Demokratie, in den Umarmungen so vieler Koltschaks und Denikins, in den Rinnsteinen so vieler Straßen gesehen, daß sie nicht glauben können, diese zerzauste und beschmutzte Frauensperson könne mehr Anziehungskraft auf die russischen Volksmassen ausüben, als sie sie ausgeübt hat in jenem Moment, wo sie noch unberührt zum ersten Mal von den Matrosen im Taurischen Palais vergewaltigt wurde, ohne, daß sich auch nur eine Hand zu ihrer Verteidigung erhob. Die Rotamontaden der Sozialistenrevolutionäre prallen ab an dem Unglauben der Leiter der Entente desto mehr, daß generelle Auffassung der Entente über die russischen Volksmassen die ist, sie seien überhaupt zu einer demokratischen Selbstverwaltung noch nicht reif.

Was also tun? Warten. Aber ohne Rußland gibt es keine Wiederherstellung des Friedens in Europa. Ohne Rußland gibt es keine Wiederherstellung der Weltwirtschaft. Warten heißt, seiner eigenen Zersetzung zuzuschauen. Und darum ist die Entente vor die Frage gestellt, von neuem vor die Frage gestellt, unerbittlich vor die Frage gestellt: Krieg oder Frieden mit Sowjet-Rußland?
 

Der Churchill-Hoffmannsche Plan einer allgemeinen Offensive gegen Sowjet-Russland

Die englisch-französische Intervention gegen Sowjet-Rußland begann im Jahre 1918 als, ein Teil des allgemeinen Kampfes der Entente 'gegen den deutschen Imperialismus. Natürlich glaubte die Entente keinen Augenblick an ihre Märchen darüber, daß Sowjet-Rußland sich an den deutschen Imperialismus verkauft hat. Niemand war es besser als der Entente bekannt, daß die sogenannten Sisson-Dokumente von ihren eigenen Agenten plump falsifiziert worden sind. Colonel Robins, dem diese Dokumente Monate vor ihrer Veröffentlichung vorgelegt waren, konnte selbst feststellen, daß sie alle ohne die geringste Ausnahme gefälscht sind. Und Herr Sisson, dem das offen gesagt und bewiesen worden ist, wagte sie nicht früher zu veröffentlichen, als bis die Entente sich zur Intervention gegen Sowjet-Rußland entschlossen hat, und sich dadurch zum Gebrauch giftiger Gase berechtigt hielt. Aber die Entente rechnete damit; daß Sowjet-Rußland zu schwach sein wird, dem deutschen Druck Widerstand zu leisten, daß es unter diesem Druck die russischen Lebensmittel und Rohstoffe in den Dienst des deutschen Imperialismus stellen, und so seinen Sieg herbeiführen wird. Dieser Gefahr konnte auf zwei Wegen vorgebeugt werden: durch eine Unterstützung Sowjet-Rußlands, oder durch Besetzung seiner Teile. SowjetRußland war bereit, diese Unterstützung anzunehmen. Durch die Zwangslage genötigt, sich in Brest-Litowsk dem deutschen Diktat zu unterwerfen, arbeitete sie fieberhaft-daran, sich widerstandsfähig gegen den deutschen Imperialismus zu machen. Wie ernst ihm dabei die Sache war, das konnte General Nissel, der französische Militärattache und seine Kollegen feststellen, als sie zu den ersten Beratungen, die Trotzki mit den russischen Militärfachleuten über den Ausbau der Roten Armee im April 1918 abhielt, zugezogen wurden. Aber das Entente-Kapital, das inmitten seines Entscheidungskampfes gegen den deutschen Imperialismus schon an den zukünftigen Kampf gegen die Weltrevolution dachte, konnte sich nicht entscheiden, den ersten proletarischen Staat zu unterstützen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als durch die Organisation des tschechoslowakischen Aufstandes, durch den Ueberfall von Archangelsk, eine neue Front in Rußland bilden zu suchen. Diese Front sollte Deutschland nötigen, Kräfte von der Westfront nach Rußland zuwerfen, und so der Entente die Möglichkeit geben, eine Entscheidung im Westen herbeizuführen.

Als der deutsche Imperialismus schon im Sterben lag, suchte er die Entente für den Gedanken zu gewinnen, auf dem Rücken des russischen Volkes, auf seine Kosten einen Verständigüngsfrieden zu schließen. Damals erschienen in der Kreuzzeitung, die der Obersten Heeresleitung am nahesten stand, Artikel, in denen der Entente vorgeschlagen wurde, sich mit Deutschland zum Kampfe gegen den Weltbolschewismus zusammenzuschließen: Und General Hoffmann erzählte in seinem Rûl-Interview, wie alles vorbereitet war für eine Offensive gegen Petrograd, und wie die Vorbereitungen durch die deutsche Niederlage an der Westfront zu Wasser wurden. Da Deutschland sich genötigt sah, das belgische Faustpfand aus der Hand zu geben, wollte es Petrograd und Moskau zu einem Faustpfand machen. Der Leichnam der Sowjet-Republik sollte die. Mitgift für die deutsch-ententistische Vernunftsehe bilden. Natürlich war dieser Rettungsversuch des deutschen Imperialismus ein Produkt seiner bekannten psychologischen Plumpheit und Unfähigkeit, das reale Kräfteverhältnis abzumessen. Die Entente, die zu ihrem Siege alle Leidenschaften der Volksmasen gegen Deutschland mobilisieren mußte, konnte selbstverständlich nicht im Handumdrehen mit Deutschland kooperieren. Und im Moment, wo die Entente Deutschland an den Boden warf, konnte sie sich zutrauen, auch aus eigenen Kräften mit Sowjet-Rußland fertig zu werden.

Nicht auf Kooperation mit Deutschland, sondern umgekehrt gegen Deutschland, war die russische Politik, der Entente in der nunmehr folgenden Periode eingestellt. Die Tatsache, daß die Entente von dem geschlagenen deutschen Imperialismus forderte, er solle einstweilen seine Truppen im Baltikum und in der Ukraine, belassen, zeigte nicht den Willen zur Kooperation mit Deutschland, sondern zur vorübergehenden Ausnutzung der deutschen Soldaten, wie die Entente mit den Senegal-Negern nicht kooperierte, sondern sie als ihre Wachthunde benutzte. Die russische Politik der Entente mußte nicht nur eine antirussische, sondern auch eine antideutsche Politik sein. Deutschland war geschlagen. Es stand ihm bevor der Versailler Golgatha-Weg. Rußland war durch den Krieg ruiniert. Die Entente war nicht gewillt, auch einem weißgardistischen Rußland auch nur einen Franken und einen Schilling, seiner Schulden abzulassen. Es war nicht gewillt, das kraftlose Rußland zur Teilung der allgemeinen Beute zuzulassen. Somit mußte die Entente damit rechnen, daß ein von ihr wieder hergestelltes kapitalistisches Rußland sich an Deutschland anzulehnen versuchen würde, um möglichst unabhängig von der Entente zu werden, um von der Entente Erleichterungen abzupressen. Und die Entente mußte befürchten, daß ein bürgerliches Deutschland seine Kräfte zu restaurieren versuchen wird, indem es für die industrielle und organisatorische Hilfe, die es Rußland leisten würde, von ihm Rohstoffe und Lebensmittel bekommen würde. Sollte aber in Deutschland die Revolution siegen, so würde sie durch ihre Lebensinteressen zu einem Zusammenschluß mit Sowjet-Rußland, getrieben werden. Die Entente sah so eine russisch-deutsche Interessengemeinschaft heranreifen, wie auch die Entwicklung vor sich gehen würde: in revolutionären oder konterrevolutionären Bahnen. Die Randstaaten- und Polenpolitik der Entente entsprang zu einem Teile diesem Bestreben nach der Trennung Deutschlands von Rußland. Und es gehörte die ganze Stupidität der deutschen Generalität dazu, um sich in das Bermondt-Abenteuer zu stürzen.

Als aber im Sommer 1920 die Rote Armee vor Warschau stand, da trat, wie schon erwähnt, Churchill mit dem Artikel auf, indem er forderte, die Entente möge Deutschland einen Teil seiner Versailler Schulden ablassen, um es als Sturmbock gegen die Roten Heere zu gebrauchen. Dieser Artikel zeigte, daß in den führenden Kreisen der Entente sich eine neue Tendenz durchzusetzen sucht, die Tendenz, die besagt: der alte Krieg, zwischen den kapitalistischen Lagern ist vorüber; ein neuer Krieg von viel größerer Bedeutung, ein Krieg zwischen dem Lager des Proletariats und des Kapitals naht im Weltmaßstabe. Im ersten Krieg, im imperialistischen, ging es um die Einteilung des Weltprofits zwischen den beiden kapitalistischen Lagern. In dem neuen Krieg, dem Krieg des Kapitalismus gegen die soziale Revolution geht es um den Profit überhaupt. Lassen wir den alten Hader um die Aufteilung der Versailler Beute und denken wir an die Rettung unserer Existenz.

Dieser Gedanke ist der einzige Zukunftsgedanke des Kampfes der Entente gegen Sowjet-Rußland, wenn dieser Kampf überhaupt aufgenommen werden soll. Es ist klar, daß, nachdem die Randstaaten, nachdem die russischen Weißgardisten versagt haben, die Entente eine neue Intervention nur dann unternehmen kann, wenn Deutschland in das Spiel hineingezogen wird. Denn, wenn es auch keinem Zweifel unterliegt, daß bei der Welle der Arbeitslosigkeit, die sich jetzt über die Welt ergießt, die Entente imstande wäre, neue Söldnerheere aufzustellen, so müßten die ententistischen Militäroperationen Deutschland, zur Basis haben, wenn sie nicht zu spät kommen solle, wenn die Zufuhren an Lebensmitteln und Munition gesichert sein sollen. Deutschland kann als Aufmarschbasis der Entente entweder entgegen seinem Willen oder mit ihm gebraucht werden. Im ersten Falle müßte die Entente die für den Krieg gegen Rußland gebildeten Heere zu einem großen Teil zur Niederhaltung des deutschen Proletariats, zur Besetzung Deutschlands gebrauchen. Nur im Falle der Hilfe der deutschen Regierung und der deutschen Bourgeoisie würde diese die Niederwerfung und die Niederhaltung des deutschen Proletariats von der Entente auf sich nehmen.

Wenn wir den Gedanken an die Heranziehung Deutschlands zu einer Intervention gegen Sowjet-Rußland für die Vorbedingung einer neuen Intervention gegen Sowjet-Rußland nennen, so ist, damit nicht gesagt, weder, daß diese Vorbedingung erfüllbar, noch daß sie vollkommen phantastisch ist. Es ist sehr charakteristisch, daß die Idee von Churchill propagiert und von der französischen imperialistischen Presse mit dem Temps an der Spitze abgelehnt wurde. Denn dadurch, daß Deutschland zum Kriege gegen Sowjet-Rußland herangezogen würde, müßte der französische Imperialismus auf einen guten Teil der Versailler Rechnung verzichten. Die Teilnahme Deutschlands an dem Kriege gegen Sowjet-Rußland würde dem deutschen Militarismus erlauben, seine Kräfte von neuem zu restaurieren. Und wenn auch der General Hoffmann treuherzig erklärt: die Entente könnte doch technische Sicherheiten erlangen, daß das deutsche Kondottieriheer nicht am Rhein verwendet wird, so werden ihm die französischen Imperialisten trotz seiner biedern Miene erklären: Spiegelberg, ich kenne dich. Sie wissen ebenso gut wie der ehrliche Hoffmann, daß es sich nicht um Technik, sondern um eine vollkommene Aenderung der Machtposition Deutschlands handeln würde. Und dann: ein solcher gemeinsamer Feldzug des internationalen Kapitals gegen Sowjet-Rußland würde durch seinen zynischen Charakter einer Kolonial-Expedition gegen das russische Volk alle seine revolutionären Energien wachrufen. Und da er ein Krieg der Weltkonterrevolution wäre, so würde er die internationale Arbeiterklasse auf die Beine bringen. Der englische Imperialismus sah, wie sie unerwartet im Sommer 1920 ihr Haupt erhob, obwohl er damals unter der Maske der Verteidigung Polens sich zum Sprung gegen Sowjet-Rußland bereitete. Die englische Regierung kann nicht daran zweifeln, daß die englische Arbeiterklasse, die inzwischen durch die wachsende Arbeitslosigkeit weiter revolutioniert wurde, sich erheben würde zu einem entscheidenden Kampfe, falls die englische Regierung das Wagnis auf sich nehmen würde. Die Aussicht, einen Krieg zu führen, indem die Interessen der kapitalistischen Weltallianz keinesfalls einheitlich sind, ihn zu führen mit der Gefahr der Revolution in jedem der Länder, die sich an der Allianz beteiligen, ihn zu führen mit der Aussicht, sogar im Falle des Sieges das große Rußland besetzt halten zu müssen, ihn zu führen in der Aussicht darauf, das imperialistische Deutschland wieder auferstehen zu lassen, das alles stellt ein Abenteuer von solchen Dimensionen dar, daß an dieses Abenteuer die leitenden Kreise der Entente herangehen würden, nur, wenn ihre äußere und innere Lage sie zu einem Vabanque-Spiel verurteilen würde. Da dem einstweilen nicht so ist, da sie noch hoffen, aus der Weltkrise, in der sie sich befinden, mit einem blauen Auge hinwegzukommen, so ist damit zu rechnen; daß die Friedenstendenz in der Entente überhaupt, in England in erster Linie sich weiter durchzusetzen suchen wird. Diese Tendenz wird beschleunigt durch die Möglichkeiten, die Sowjet-Rußland im Falle, daß die Entente ihm keinen Frieden gewährt, offen stehen.
 

Die Aussichten der Revolution in Mitteleuropa und im nahen Osten

Durch ein Wunder von der Zertrümmerung gerettet, befindet sich Polen in einem unaufhaltsamen Zersetzungsprozeß. Die Valuta dieses alliierten Siegerlandes steht zehnmal niedriger als die des besiegten Deutschland. Niedriger als die des sterbenden Oesterreich. Das agrarische Land ist in der Deckung seiner Lebensmittelbedürfnisse auf das Ausland angewiesen. Der Transport befindet sich in wachsender Deroute. Die Industrie liegt zu einem großen Teil aus Mangel an Rohstoffen und Maschinen danieder. Obwohl Tausende und' aber Tausende Kommunisten sich in den Gefängnissen und Konzentrationslagern befinden, folgt ein Streik auf den andern. Die Regierung, zersetzt durch den Kampf der bürgerlichen Cliquen, weiß nicht aus noch ein. In Lettland und Esthland war das vergangene Jahr kein Jahr der wirtschaftlichen Festigung, sondern eins der wachsenden wirtschaftlichen Desorganisation und der wachsenden Teuerung. In der Tschechoslowakei ist der nationalistische Rausch der Massen, wie es die Dezember-Ereignisse zeigten, verflogen. Ohne eine Kommunistische Partei, ohne einheitliche Leitung, stand zirka eine Million Arbeiter mit haßfunkelnden Augen der bürgerlichen Regierung gegenüber. In Ungarn hat die weiße Diktatur die Leiden der Massen zu einem Ausmaße gesteigert, das kaum zu übersteigen ist. Oesterreich stirbt vor Hunger und Kälte. In Deutschland kein Zeichen des eintretenden Gleichgewichtes, kein Zeichen irgend welcher wirtschaftlichen Konsolidierung. In allen mitteleuropäischen Ländern geht der Prozeß der Proletarisierung der Gesellschaft ununterbrochen vorwärts. Die Sozialdemokratie, die im Jahre 1919 überall das Ruder in der Hand hatte und als Wellenbrecher der Revolutionen dem Bürgertum diente, ist durch die Zuspitzung der Gegensätze aus den Regierungen hinausgedrängt und in die Opposition, wenn auch nur in die Schein-Opposition, gedrängt worden. Wenn sich auch die proletarische Angriffskraft in diesen Ländern nur allmählich sammelt, so sammelt sie sich doch und wird mit jedem Tag durch den wachsenden Druck von oben gesteigert. Die Weltrevolution bereitet ihr Uebergreifen auf Mitteleuropa vor. Ihr Sieg in Mitteleuropa, oder auch nur große Bürgerkriege zwischen dem Rhein, der Weichsel und der Donau, sie würden Sowjet-Rußland vor jedem Angriff vom Westen sichern. Sowjet-Rußland will sich nicht in fremde Verhältnisse mischen, nicht aus einem metaphysischen Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern aus dem realen Interesse heraus, das die Grundlage , dieser Formel bildet: aus dem Interesse heraus an der selbständigen Entwicklung der Revolution. Es unterliegt gar keinem. Zweifel, daß die Revolution in jedem Lande desto stärker sein wird, je selbständiger sie siegt. Aber in dem Moment, wo die Bourgeoisie sich gegen das russische Proletariat zusammenfindet, muß sie auch ihr eigenes Proletariat in Deutschland, in Oesterreich, in der Tchecho-Slowakei, in Polen, wie in den Entente-Ländern niederwerfen, um sich freie Bahn gegen das russische zu schaffen. Dann gibt es nicht nur theoretisch, sondern im praktischen Sinne dieses Wortes keine Staaten in Europa mehr, keine Nationen in Europa mehr, es gibt nur das Lager der Revolution und das Lager der Konterrevolution. Dann würde es die einfachste Kriegsregel sein: mit dem Bajonett in der Hand der Weltrevolution nach Mitteleuropa, nach dem Westen den Weg zu bahnen. Und die soziale Lage ist objektiv so, daß es sich dabei keinesfalls darum handeln würde, den Kommunismus an der Spitze der Bajonette nach Westeuropa zu tragen, sondern mit dem Bajonett, mit dem Kolben die kapitalistische dünne Kruste zu zerschlagen, die noch den proletarischen Kern umgibt und auf ihn drückt. Will die Entente, Will die Weltbourgeoisie durch einen Krieg gegen Sowjet-Rußland in dieser Weise die Weltrevolution beschleunigen, Sowjet-Rußland wird dabei nicht schlecht fahren, wie groß auch die Leiden sein könnten, die ihm ein neuer Krieg bringen würde, wie groß die Opfer, die es in diesem entscheidenden Krieg zusammen mit dem Weltproletariat bringen müßte.

Und wie sieht die Lage im nahen Osten aus, dem Ausgangspunkt in dem Objekt des imperialistischen Weltkrieges? Die Entente hat den Frieden von Sevres zusammengeschmiert. Um ihn durchzuführen, hält England 80.000 Soldaten in Mesopotamien, Frankreich 70.000 Soldaten in Cilizien und Syrien. England einen Teil der Flotte und eine stattliche Heereszahl in Konstantinopel. Der Vasall der Entente, das kleine Griechenland, 100.000 Soldaten in Kleinasien. Und während in Frankreich, in England der Schrei nach Sparsamkeit gegen koloniale Abenteuer nicht nur aus den Volksmassen, sondern sogar aus den Reihen der Bourgeoisie ertönt, während Frankreich die Revision des Friedens von Sevres fordert, während das griechische Volk den imperialistischen Diktator Venezilos stürzt, sammelt Kemal Pascha um sich die besten Elemente des Türkentums, findet im türkischen Bauerntum genügend Kräfte, um der Entente, Widerstand zu leisten. Nachdem Sowjet-Rußland den Weg über Sowjet-Armenien zur Türkei gefunden hat, kann es seine starke Stütze bilden. Die Munition, an der es in erster Linie Kemal Pascha fehlte, kann ihren Weg nach Anatolien finden. Ist Griechenland erledigt, so kommt die Reihe an die englischen Heere in Mesopotamien, die sich schon dem unorganisierten, schlecht bewaffneten Arabertum gegenüber in sehr schwieriger Lage befanden. In Persien gelang es den Engländern bisher nicht, vom Medschilis die Anerkennung des anglo-persischen Vertrages vom August 1919 durchzudrücken, in welchem die völkerbundfreundliche englische Regierung im letzten Augenblick vor der Gründung des Völkerbundes Persien für zwei Millionen engl. Pfund in Gold einzusacken suchte. Die Sowjet-Regierung braucht gar nicht künstliche Sowjet-Republiken in Persien ins Leben zu rufen. Ihr aktuelles Interesse in Persien besteht darin, daß Persien nicht zum Aufmarschgebiet gegen Baku werde. Verpflichtet sich die persische Regierung, die Entfernung der englischen Heere zu fordern und lehnt England entgegen dem Versprechen Lloyd Georges diese Forderung ab, so erscheinen die Roten Truppen in Persien nicht als Eindringlinge, sondern als Verbündete. Nimmt die persische Regierung diese ihr von ihrem eigenen Interesse diktierte Haltung ein, dann sind die Formen der Herrschaft in Persien, dann ist die Lösung der Agrarfrage in Persien – eine Arbeiterfrage gibt es dort kaum – die Sache ausschließlich des persischen Volkes, des geistigen Einflusses der persischen Kommunisten, deren am meisten verantwortliche Führer es ausgezeichnet verstehen, daß der Kommunismus in Persien nur die Form der Bauernbewegung auf absehbare Zeit ist, und daß in dieser Zeit der Kommunismus eine Spanne Weges gemeinsam mit der demokratischen Intelligenz gehen kann. In Indien gehen die Wellen der revolutionären Bewegung hoch. Es handelt sich nicht mehr um eine rein nationalistische intellektuelle Bewegung, sondern gleichzeitig um das Erwachen von Millionen Proletarier, die vom englischen wie vom indischen Kapitalismus über alle Maßen ausgebeutet werden. Von dem Stand der russisch-englischen Beziehungen wird es abhängen, ob die Sowjet-Regierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften die Entwicklung der indischen Angelegenheiten beschleunigt.

Die Entente hat gewiß jede Ursache, nicht der Meinung zu sein, als sei das Friedensbedürfnis Sowjet-Rußlands größer als das der Entente und Englands in erster Linie.
 

Die Friedensverhandlungen in London

Dies scheinen die Herren in der Downingstreet nicht vollkommen zu kapieren. Eine Clique alter Bürokraten, von einem unsichtbaren Zopf behaftet, ohne Einsicht in die treibenden Kräfte der Weltentwicklung, einmal von einer mystischen Furcht vor der Revolution geplagt, das andere Mal sie hochnäsig von oben behandelnd, hat die Diplomatie Englands nach der Niederlage der Sowjet-Truppen im Kriege gegen Polen die politische Sowjets Delegation aus England ausgewiesen und die Verhandlungen über die Handelsbeziehungen ins unendliche verschleppt. Nur dank dem ehrlichen, ungeschwächten Friedenswillen der Sowjet-Regierung, die, weil sie fest auf den endgiltigen Sieg, der Weltrevolution hofft, es gar nicht benötigt, künstlich diese Revolution durch eine Kriegspolitik zu beschleunigen, ist es bisher zum Abbruch der russisch-englischen Verhandlungen über den Handel nicht gekommen. Lord Curzon ist dadurch auf den Gedanken gebracht worden, er könne der russischen Sowjet-Regierung Dinge bieten, die von keiner Regierung akzeptiert werden könnten. Der Leiter der englischen auswärtigen Politik schien zu glauben, er könne Sowjet-Rußland im Orient binden, ohne England Sowjet-Rußland gegenüber zu binden. Er scheint nicht zu verstehen, daß, wenn Sowjet-Rußland bereit ist, in friedliche Beziehungen zu England zu treten, so doch nicht deshalb, um Herrn Curzon einen friedlichen Schlaf zu sichern, sondern um sich Frieden zu sichern, der seinerseits als Gegenleistung friedliche Beziehungen für England garantiert. Lord Curzon glaubte Sowjet-Rußland bieten zu können, daß seine Vertreter in London den Eingriffen des sehr ehrenwerten Thomas Basil und der Agenten von Scotland Yard ausgesetzt sein könnten. Dadurch hat der Vertreter der englischen Oligarchie bewiesen, daß er vor der revolutionären Propaganda eine größere Angst hat, als Sowjet-Rußland vor der englischen konterrevolutionären Propaganda. Denn wenn in den Wallisen der Sowjet-Kuriere die Revolution nach England transportiert werden könnte, so nicht minder könnte die Konterrevolution in dem englischen Kuriergepäck nach Moskau transportiert werden. Und trotzdem war die Sowjet-Regierung bereit, die Immunität der englischen Vertreter und ihres Gepäcks zu gewährleisten, während die englische Regierung wochenlang wegen dieser Lappalie die Verhandlungen aufhielt. Daß ohne Garantien, daß das russische Sowjet-Gold, das für die Warenbestellungen nach London transportiert wird, durch die Gerichte nicht konfisziert wird für die alten englischen Gläubiger Rußlands, keine Handelsbeziehungen möglich sind, müßten sogar weniger in Handelssachen geübte Leute einsehen, als es die englischen Diplomaten sind. Und trotzdem hat die englische Regierung für diese Fragen einstweilen nur Redensarten gefunden, keine klare Formel. Und zum Schluß. Es ist doch klar, daß Handelsbeziehungen nur ein Surrogat regelmäßiger, geregelter diplomatischer Beziehungen sind. Da die englische Regierung als Vorbedingung der Handelsbeziehungen den Verzicht der Sowjet-Regierung auf eine englandfeindliche Politik in Mittelasien ansieht, so werden sich aus den Handelsbeziehungen politische Beziehungen ergeben müssen. Denn wie kann man ohne politische Verhandlungen, ohne dauernde Organe der politischen Beziehungen feststellen, was eine englandfeindliche oder rußlandfeindliche Politik ist. Wenn England ein gutes oder ein schlechtes Handelsabkommen mit Sowjet-Rußland schließt, so ist es genötigt, in politische Beziehungen zu Sowjet-Rußland zu treten. Wenn es trotzdem diese Notwendigkeit nicht offen anerkennen will, und nicht Konsequenzen daraus ziehen will, sondern eine Politik der Maskierungen vorzieht, so wird diese Politik die englische Regierung vor keiner der Folgen der klaren politischen Verhältnisse schützen. Sie wird nur das Ansehen der englischen Regierung mindern. Tür und Tor für allerhand Zweideutigkeiten eröffnen, für das Spiel der Cliquen in London und der Cliquen in Paris, dem Spiel, das, wenn es auch Nachteile für Sowjet-Rußland enthält, in letzter Linie zu Ungunsten Englands ausschlagen muß. Sollte auf der Basis der bisherigen Verhandlungen ein solches unvollkommenes Abkommen getroffen werden, so wird England eben, einen solchen Frieden haben, wie es ihn verdient.
 

Entweder – oder

In unserer Auseinandersetzung über die Frage der auswärtigen Politik der proletarischen Revolution, die wir im Oktober 1919 mit den deutschen National-Kommunisten Lauffenberg und Wolffheim pflegten, wie in unserem Artikel über die äußere und innere Lage Sowjet-Rußlands, den wir im Januar 1920 veröffentlicht haben, schrieben wir, daß von dem Moment an, wo der Weltkrieg zu. Ende war, es auch klar wurde, daß die äußere Politik des einstweilen allein dastehenden proletarischen Staates keinesfalls ausschließlich auf den Krieg mit allen andern kapitalistischen eingestellt sein kann, sondern daß sie umgekehrt auf den Versuch der Schaffung eine modus vivendi zwischen dem proletarischen Staat und dem kapitalistischen Staatensystem eingestellt sein muß. Das Jahr 1920 hat eine sonderbare Art des modus vivendi gezeitigt. Während Frankreich offen den Krieg Polens und Wrangels gegen Sowjet-Rußland unterstützte, verhandelte England mit Sowjet-Rußland über Handelsbeziehungen, verkaufte an Sowjet-Rußland Waren durch die Vermittlung verschiedener neutraler Länder, die ihrerseits mit Sowjet-Rußland auch in Handelsbeziehungen traten. Deutschland und eine Reihe von Vasallen-Staaten der Entente nahmen an dem Handel teil. Sowjet-Rußland wurde sogar durch dieses modus vivendi gestärkt. Die einfache Tatsache, daß es für das Jahr 1921 seinen Bedarf an Sensen vollkommen im Auslande zu decken verstand, bildet einen kleinen Strich in dem Bild dieser Beziehungen. Wir sind überzeugt, daß die Unmöglichkeit der Niederwerfung des proletarischen Rußlands und die wachsende Zersetzung der kapitalistischen Welt die widerspruchsvolle Tatsache friedlicher Beziehungen zwischen dem ersten proletarischen Staat und der sterbenden kapitalistischen Welt mir starkem wird. Diese Sachlage ist natürlich sehr widerspruchsvoll. Die kapitalistischen Staaten, die den proletarischen eher heute als morgen begraben stehen möchten, können ihm nicht den Dolchstoß versetzen. Was bleibt ihnen übrig, als mit ihm in Handelsbeziehungen zu treten. Nachdem sie die halbe Welt ruiniert haben, erkennen sie am eigenen Leibe, daß sie dadurch natürlich ärmer geworden sind, daß die Ausschließung Rußlands aus dem Handel in erster Linie sie der Möglichkeit beraubt, ihre Waren nach Rußland zu verkaufen, und so ihre wirtschaftliche Deroute steigert. Aber auch der Ausfall der russischen Rohstoffe und Lebensmittel bedeutet für einzelne von ihnen die Unterwerfung unter das amerikanische Monopol. Auch wenn es klar ist, daß das ruinierte Sowjet-Rußland heute nur eine geringe Menge von Rohstoffen und keine Lebensmittel liefern kann, so ist es auf der andern Seite klar, daß, wenn der wirtschaftliche Ruin der Welt nicht zunehmen, sondern abnehmen soll, dann muß eben Rußland durch die seinem Transport und seiner Industrie und seiner Landwirtschaft geleistete Hilfe in die Lage versetzt werden, wieder auf den Weltmarkt zu erscheinen. Aber Rußland, das ist Sowjet-Rußland, alles andere, was im Namen Rußlands spricht, ist ein Gespenst und eine Phantasie. Mag Wells noch so sehr in vielen seinen Urteilen über Rußland daneben hauen, mögen die Bolschewiki noch weniger dem Ideal einer Regierung entsprechen, das sich die ehrenwerte City gebildet hat, Wells hat tausendmal recht, wenn er behauptet, eine andere als die bestehende Sowjet-Regierung sei auf absehbare Zeit unmöglich. Und sogar die philosophisch veranlagten Politiker, wie es Herr Balfour ist, können nicht mit einer andern Zeit rechnen als der, die eben absehbar ist. Und wo hilft Herrn Curzon seine Sehnsucht nach einer guten konservativen Regierung, deren Mitglieder in Pagenkorps ihre Bildung genossen hätten, wenn, eine solche Regierung unmöglich ist. Daß die Handelsbeziehungen mit Sowjet-Rußland es stärken werden, unterliegt keinem Zweifel. Wenn Herr Lloyd George sich beruhigt mit der Hoffnung, die Manchester-Hosen und die Baumwoll-Hemden werden die Bolschewiki besänftigen, wenn er sogar vielleicht die Hoffnung hat, er könne uns vermittels der Sheffielder Rasiermesser, wenn nicht die Gurgel abschneiden, so wenigstens zu Gentlemans machen, so haben wir natürlich darüber unsere eigene Meinung. Politisch ausschlaggebend ist, daß, wenn die kapitalistische Welt mit Sowjet-Rußland keinen ununterbrochenen Krieg führen will und kann, so muß sie eben den Krieg durch den Frieden unterbrechen.

Es ist natürlich sehr widerspruchsvoll, wenn das kommunistische Rußland genötigt wird, sein Gold in die Taschen der europäischen Kapitalisten zu überführen, wenn es genötigt ist, den Kapitalisten Konzessionen auf russischem Territorium zu machen. Es wäre lächerlich, zu leugnen, daß dies die Kapitalisten stärken wird. Wir haben zu wenig Bedürfnis nach Illusionen, um das zu leugnen. Aber erstens stärker als alle Bedenken ist die Notwendigkeit, den Volksmassen Sowjet-Rußlands, den Volksmassen der Welt immer wieder zu zeigen, daß die Sowjet-Regierung den Frieden will. Dieser Friedenswille der Sowjet-Regierung war der stärkste Faktor ihrer Siege, war der stärkste Faktor der Mobilisierung des Weltproletariats zur Verteidigung Sowjet-Rußlands. Und er konnte diese Rolle spielen, nur weil Sowjet-Rußland ehrlich den Frieden wollte, nur weil es nicht Friedens-Demonstrationen, sondern den Kampf um den Frieden mit allen Mitteln führte. Und es konnte ehrlich, den Frieden erstreben, weil in letzter Linie der Frieden die Kräfte der Volksmassen entfesselt, weil er die Volksmassen auf die Fragen der innern Umwälzung konzentriert. Es ist die Tragödie des Weltkapitals, daß es den Weltkrieg nicht vermeiden konnte und den Weltfrieden nicht herbeiführen kann. Es beweist, daß die Zukunft dem Kommunismus gehört, daß er aus dem Krieg geboren und im Kriege sein Schiff trotz Sturmes und trotz der. Klippen glücklich zum Ziele fahrend, gleichzeitig seine Geschicke dem Frieden anvertrauen kann.

Der Kapitalismus ist dem Tode geweiht. Zwei Jahre sind seit dem Ende des Weltkrieges vorüber. Und der einzige rettende Gedanke, den er, wenn auch nicht geboren, so doch der alten cobdenianischen Bibel, entnommen hat, der Gedanke der Notwendigkeit der Behandlung der Weltwirtschaft als ein Ganzes, dieser Gedanke, der uns entgegentönt aus dem tragikomischen Buche von Keynes, dieser Bibel der Plattheiten, aus den Reden von Robert Cecil, von General Smuts, der durchklingt durch die Reden von Lloyd-George als ein Gedanke, mit dem dieser größte Staatsmann der sterbenden kapitalistischea Welt nur im Stillen wie mit einer Maitresse leben kann, – dieser Gedanke eine Utopie ist. Der Kapitalismus ist zu sehr zerrissen, als daß er diesen Gedanken seiner Kindheit verwirklichen könnte. Und darum kann auch Sowjet-Rußland auf keinen dauernden Frieden rechnen, nur auf den Frieden, der den Krieg unterbricht und mit dem Krieg, der auf den Frieden folgt. Nun, Sowjet-Rußland wird immer wieder um den Frieden kämpfen, und es wird immer wieder durch die friedliche Arbeit sich zur Abwehr der ihm drohenden Gefahren wappnen.

Wieder winkt den russischen Volksmassen die Hoffnung auf den Frieden, die Hoffnung auf friedliche Arbeit Und wieder wie im Frühjahr 1920 gerät der russische Ameisenhaufen in Bewegung. Wieder schleppen die redlichen Arbeiter Holzblöcke zum Bau der Brücken, Häuser und Schulen, wieder bereitet man den Kampf gegen den Hunger, den Kampf gegen Not und wieder steigt zum Himmel das Lied von der Arbeit empor. Und wieder weicht der Gedanke der Zerstörung dem Gedanken der schaffenden Arbeit. Und wieder ziehen Apostel in das Land, die die Schlafenden aufzurütteln, in Arbeitskolonnen zu ordnen suchen. Und niemals und nirgends hat es so viele hunderttausende gegeben, die mit tiefer Inbrunst die Religion der gemeinsamen Arbeit verkünden, der Arbeit aller für alle. Aber wie im Jahre 1920, so ruft auch jetzt die Führerin dieses Volkes, die Führerin dieser Pioniere, die Sowjetregierung, dieser Verkünder einer neuen Weltordnung dem Ameisenhaufen zu: Stellt Wachen auf, in einer Hand die Kelle, in der andern die Waffe, die Gefahr ist nicht vorüber! Und es wird von der kapitalistischen Welt abhängen, ob die Arbeitsarmeen Rußlands Wälder roden, Rußlands Wege verbessern, Rußlands Ruinen abräumen; oder ob sie hungrig und zerlumpt, mit leerem Magen, aber mit heißen Herzen, sich dem Westen zu wälzen, um gegen die zu kämpfen, die sie nicht in Frieden arbeiten lassen, und denen zu helfen, die wie sie, die Welt aus den Ruinen neu aufbauen wollen. Die Wahl liegt bei der kapitalistischen Welt, bei Sowjet-Rußland liegt nur die Entscheidung, niemals zu verzagen, in jeden Umständen zu kämpfen und unter allen Umständen zu siegen. Diese Entscheidung ist gefallen. Und es gibt kein Mittel in der Welt, das sie aus den Herzen des russischen Proletariats und der Vorderreihen des russischen Bauerntums herausreißen könnte.


Zuletzt aktualiziert am 15.6.2011