Karl Radek


Genua, die Einheitsfront und die Komintern

II. Der Kampf in Genua

Ich komme somit zu der Konferenz in Genua. Nach dem, was ich gesagt habe, werden auch die Genossen, die die Konferenz vielleicht etwas rosig ansahen, ganz gewiss klar darüber sein, dass Genua, wenn die Konferenz stattfindet, ein Schauplatz des Kampfes sein wird. Genua wird trotz aller Versuche, die Gegensätze zu verkleistern, diese Gegensätze krass zum Ausdruck bringen. Sogar wenn Staaten die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze zu verhüllen versuchen werden, so werden diese Gegensätze als soziale Gegensätze im Kapitalismus selbst in der grellsten Form auftreten. Ich habe bisher von den Gegensätzen zwischen den Staaten gesprochen, indem ich jeden Staat als ein kapitalistisches Ganzes nahm. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass das den Tatsachen nicht entspricht, dass es nur eine Methode ist, bei der ersten Darstellung die Dinge etwas schematischer zu behandeln. Und hier komme ich eben zu diesen Gegensätzen, die nicht nur innerhalb des Kapitalismus in nationalen Grenzen, des national getrennten Kapitalismus bestehen, sondern innerhalb jedes kapitalistischen Staates.

Der neue bürgerliche Pazifismus

Ich will von einer neuen Erscheinung sprechen: dem bürgerlichen Pazifismus, Es ist notwendig, dass die Genossen diese Frage sehr nüchtern beurteilen, weil sie vielleicht auch in der weiteren Politik der Kommunistischen Internationale eine große Rolle spielen kann.

Wenn Ihr hört: „bürgerlicher Pazifismus“, dann lacht Ihr alle. Ihr lacht auf Grund einer Erinnerung, einer Erinnerung an langhaarige Jünglinge, die kein Fleisch essen und die gelehrt beweisen, dass schon Jesus Christus verboten hat, einen anderen zu töten, dass es dem Getöteten unangenehm und für den Tötenden nicht nützlich ist, die beweisen, dass schon die wilden Menschen gelernt haben, den Gefangenen nicht zu verspeisen, sondern ihn arbeiten zu lehren. Aber diese komische Gestalt hat der bürgerliche Pazifismus nur vor dem Kriege gehabt. Er hat sie nicht mehr. Er wurde zu einer bürgerlichen Politik, und er stellt ein großes Klasseninteresse der Bourgeoisie dar. Denken Sie an die englische Bourgeoisie. Sie ist die größte industrielle Bourgeoisie Europas, die größte Handels-Bourgeoisie der Welt.

Ich will Sie nicht durch Ziffernreihen ermüden, aber es ist klar, dass der Staat, der in Europa am meisten ausführte und am meisten einführte, der Vermittler war zwischen allen Kolonien und Europa, dass die Bourgeoisie dieses Staates unter den Folgen des Krieges und des jetzigen Zustandes am meisten leidet. Und, Genossen, solange Menschen über die Frage der sozialen Revolution in England nachgedacht haben, so waren sie immer einer Meinung: der Angelpunkt der sozialen Revolution in England ist die Arbeitslosenfrage. Aus einem ganz einfachen Grunde. Wenn der Arbeiter in Russland nichts zu essen hat, arbeitslos ist, Hunger leidet, flüchtet er ins Dorf, die Städte bilden Inseln im agrarischen Lande, und wie schwer auch die Bevölkerung zu leiden haben mag, sie hat immer die Aussicht, aus der Geschichte noch heraus zu kommen. In einem Lande mit überwiegend industrieller Bevölkerung, das selber nur für sieben Wochen Brot produziert, bedeutet die Arbeitslosigkeit die größte Kalamität: sie hindert die Produktion von Äquivalenten, für die man vom Ausland Brot kriegen könnte, und zweitens kann sie Revolten erzeugen.

Und darin: wenn Sie vom Pazifismus der englischen Bourgeoisie hören, so seien Sie überzeugt, es ist den Leuten bitter ernst mit dieser Sache. Und würde die englische Politik geleitet werden nur durch die englische Handels- und Industrie- Bourgeoisie in ihrer großen Masse, würde England wirklich demokratisch regiert werden, dann würde die englische Regierung in Europa eine Friedenspolitik treiben. Ich habe Ihnen im ersten Teil des Vortrags schon gezeigt, von wem das sabotiert wird. Die Teile der Industrie, die für die Kolonien, für die Flotte arbeiten, die alte Diplomatie, die Bürokratie des Imperialismus, sie sitzen an der Staatsmaschine und sabotieren diese Politik. Aber der Antrieb nicht nur von den Arbeitermassen, sondern von der Bourgeoisie, den Industriellen, er ist für die Politik des Pazifismus.

Nehmen Sie Amerika. In Amerika geschehen Wunder am Himmel. Führende amerikanische Finanziers, Frank Vanderbilt, Kahan, gehen unter die Schriftsteller und schreiben Bücher, in denen sie erklären, dass Amerika Verzicht auf die Eintreibung der Schulden leisten, dass es Milliarden zum Wiederaufbau Europas ausgeben soll. Und sie sagen: Wenn wir das nicht tun, werden wir zugrunde gehen. Denn wenn Europa nicht kaufen kann, verlieren wir einen ungeheuren Markt. In derselben Richtung wirken die Interessen der Farmer. Die Farmer schreien nach Absatzmärkten in Europa. Und woran scheitert die Sache? Wieder ein anderer Teil der Industrie weist darauf hin: Wir exportieren nur 10 Prozent unserer Produktion, soll sie der Teufel holen, die Leute in Europa. Und derselbe Farmer, der schreit: Gebt mir Absatzmärkte, ist gegen neue Steuern, und wovon soll man die Kredite nehmen? Sie haben hier also einen Wirrwarr von Tendenzen, und diese Tendenzen werden miteinander kämpfen. Sie kämpfen schon jetzt miteinander, sie werden der Bourgeoisie nicht erlauben, in Genua irgend einen Plan, der wirklich auf den Weltwirtschafts- Aufbau gerichtet wäre, aufzustellen. Denn worin könnte der Plan bestehen? Er ist sehr einfach: Schuldenstreichen.

Niemand kann sie bezahlen, und wehe den Industrieländern, wenn man beginnen würde, sie zu bezahlen. Ein Teil der amerikanischen Finanzschriftsteller schreibt: Gott behüte uns davor, dass England und Frankreich die Schulden bezahlen. Denn dann werden sie doch noch weniger kaufen, als sie jetzt kaufen, und wenn sie in Waren bezahlen, so werden sie die Konkurrenz stärken.

Der zweite Punkt wäre: Gut, die Schulden sind weg, aber wovon leben, wovon weiter arbeiten? Einen internationalen Anleihefonds bilden, um den Ländern, die Kapital für Rohstoffe, für den Bau neuer Fabriken brauchen, Kredite zu geben. Nun ja. Woher soll man sie nehmen? Welches kapitalistische Land oder welche kapitalistische Gruppe wird freiwillig einem großen internationalen Konsortium Geld leihen, damit es damit wirtschafte? Wo ist das Organ des gemeinsamen Willens des Kapitalismus, und in erster Linie: wo ist die kapitalistische Klasse, die fähig wäre, jetzt zu sagen: Nach den Niederlagen, den Verlusten des Krieges sammle ich einen Fonds in der Höhe der Hälfte dessen, was der Krieg gekostet hat, zum Wiederaufbau der Welt, der in 10, 20 Jahren geschehen sein kann und sich erst dann bezahlt machen wird.

Aber, wie gesagt, weil starke bürgerliche Interessen dahinter stehen, so wird hier ein Kampf ausgefochten, der die größte Bedeutung für den Klassenkampf des Proletariats haben wird. Vergessen Sie nicht, dass Millionen und Abermillionen Arbeiter die Revolution fürchten, weil sie Zerrüttung bedeutet; sie sind pazifistisch, sie wollen keinen Krieg, und sie lechzen nach dem kapitalistischen Wiederaufbau. Und die kapitalistische Welt ist genötigt, diesen Massen pazifistische Losungen zuzurufen, die auszuführen sie nicht imstande sein wird, um die zu kämpfen aber diese Massen genötigt sein werden.

Das sind die sozialen Gegensätze in der bürgerlichen Welt auf der Konferenz. Wie wird das diplomatisch aussehen? Welche Macht wird diese pazifistische Politik vertreten? Keine einzige. Jede von ihnen wird „ A“ sagen und wird nicht „B“ zu sagen wagen. Und sie werden, nachdem sie monatelang Europa über den Wiederaufbau in Atem gehalten haben, dort mit dem Plan einer neuen Plünderung auftreten. Die Vertreter der bürgerlichen Regierungen sind in den letzten Jahren sehr demokratisch geworden. Sie prügeln sich auf offener Straße, aber sie sagen keinesfalls auf offener Straße, was sie zu tun beabsichtigen, vielleicht deshalb, weil ihnen die Gedanken über das, was sie zu tun haben werden, noch fehlen. Aber trotzdem kann man sich objektiv darüber orientieren, worin der Plan von Genua besteht. Und ich wiederhole: Er besteht in der Absicht eines Plünderungszuges gegen Russland. Erlauben Sie mir, kurz die Hauptlinien dieses Planes, wie man ihn aus dem ganzen Kampf der bürgerlichen Presse ersehen kann, hier darzustellen. Er richtet sich gegen Deutschland und gegen Russland. Die Alliierten haben einen Versailler Frieden hinter sich, nach dem Deutschland 132 Milliarden Goldmark zu bezahlen hat. Ob sie es offen sagen oder nicht, die Alliierten wissen, dass Deutschland diese 132 Milliarden Gold nicht zahlen kann. Der Versailler Frieden hat sich als unausführbar gezeigt. Die Bezahlung der ersten Milliardenrate im Herbste des vorigen Jahres führte zu einem solchen Sturz der deutschen Mark, dass der Dollar auf 300 Mark kam, und dass die Bank of England den Totenschein für den Versailler Frieden ausstellte, indem sie der deutschen Regierung, nachdem die englischen Vertreter ihr zugeflüstert hatten: Wenden Sie sich um Kredit nach London, erklärte: Unter den nach dem Versailler Frieden waltenden Verhältnissen kann Deutschland keinen Kredit haben. Das ist das Todesurteil. Denn die für den Versailler Frieden geforderten Milliarden können nur dann bezahlt werden, wenn Deutschland Auslandskredite erhält.

Nun, die Alliierten werden, nicht vielleicht in Genua direkt, aber im Anschluss daran, übereinkommen, die Verpflichtungen Deutschlands zu mildern. Es handelt sich nicht darum, ob die Endsumme bleibt oder nicht. Denn es kann Deutschland absolut gleichgültig sein, was es nach papierenen Verträgen in 25 Jahren zu zahlen verpflichtet ist.

Dann wird der Versailler Frieden als Kuriosität in den Museen stehen, sogar in dem Falle, wenn die kapitalistische Welt noch so lange leben würde. Die Erleichterung wird bestehen in erster Linie in der Kürzung der Verpflichtungen für die nächsten Jahre und zweitens in Krediten.

Jetzt entsteht folgende Frage: Wenn die Lage Deutschlands erleichtert wird und Deutschland nicht ein Viertel seiner Ausfuhr, sondern seine alte Ausfuhr erreicht, was dann? Deutschland hat die Weltmarktpreise noch nicht erreicht. Die deutsche Kohle, das deutsche Eisen, die deutschen Rohstoffe werden in Deutschland zu billigeren Preisen von deutschen Kapitalisten erworben, zum Teil sogar billiger als die Reparationskohle. Z. B. die gemischten deutschen Zechen, die selbst Kohle bauen, geben sich diese Kohlen doch weder zu dem Weltmarkt-, noch zu dem Reparationspreis, sondern zu dem Preis, den diese Kohle wirklich kostet. Wenn Deutschland mit dieser Konkurrenz auf dem Weltmarkt erscheint, so wird dies eine Erschwerung der Lage der Alliierten sein. Aus diesem Grunde vereinigen die Alliierten, in erster Linie England, den Plan der Kürzung der deutschen Zahlungen mit dem Plan der Benutzung Deutschlands zur Ausplünderung Russlands, was „Wiederaufbau“ Russlands genannt wird.

Der Plan geht in dieser Richtung: Statt den Franzosen und Engländern Waren zu geben, mit denen sie nichts anzufangen wissen, – denn wenn Frankreich von Deutschland für die verwüsteten Gebiete Maschinen bezieht, so werden diese Maschinen nicht von den französischen Kapitalisten fabriziert, und mehr noch, es ist nicht ein einmaliger Bezug, da die Fabriken sich auf die deutschen Typen der Maschinen einstellen, und wenn Frankreich Deutschland erlaubt, den Norden aufzubauen, so wird Deutschland in Frankreich nach dem Kriege zehnmal stärker, als es vor dem Kriege gewesen war. Der Sinn besteht also darin, den deutschen Export vom Westen nach dem Osten zu lenken.

Aber hier soll die deutsche Warenausfuhr nach Russland als Eigentum der Alliierten vor sich gehen. Wenn man moralisch sprechen wollte, so wäre es so: Die deutsche Schuld an der Verwüstung Frankreichs und Serbiens und Russlands soll bezahlt werden durch den Aufbau Russlands. Aus dem Moralischen in die Sprache des Börsenberichts übersetzt, bedeutet es: Deutschland arbeitet auf Konto der Alliierten für Russland, die Profite davon rechnen die Alliierten auf die Reparationsschuld.

Ein gutherziger Deutscher, und die Deutschen haben ein Talent, jede Sache sehr schön darzustellen, fasste diese Sachlage in drei Worten zusammen: Englisches Kapital, deutsche Arbeit und russischer Boden, wobei die Sowjetrepublik die Rolle des Bodens spielen sollte. Dieser Plan hat einen tiefen weltpolitischen Hintergrund. Es sei festgestellt: es ist weltpolitisch genommen – ganz gleich, wer ihn zum ersten Male gedacht haben mag – ein englischer Plan, denn seine Konsequenzen sind für England die günstigsten. Wenn Deutschland in Russland die Rolle des wirtschaftlichen Reorganisators spielen würde, so würde das folgende Lage ergeben. Der die Profite kriegt, sitzt in London oder in Paris, den sehen die russischen Arbeiter nicht. Aber der, der als Werkmeister und Schweißtreiber auftritt, ist der Deutsche. Das Resultat ist: die einzige Aussicht Deutschlands, sich durch wirkliche gleichberechtigte Mitarbeit mit Russland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zu stärken, ist damit begraben. Deutschland wird eine industrielle Kolonie, Russland eine agrarische Kolonie. Es wird hier das System angewandt, vermittelst dessen die Kapitalisten die Arbeiteraristokratie von der Masse des Proletariats trennen: sie nehmen den guten Organisator, den intelligenten Arbeiter und machen ihn zum Werkmeister. Das ist auf zwei Länder gebracht: die agrarische, die proletarische Masse Russlands, ausgebeutet von deutschen Werkmeistern des englischen Kapitals. Sie werden fragen, wie England das tun will? Aus einem einfachen Grunde: solange Amerika außerhalb eines internationalen Konsortiums, das dieses Kapital aufbringt, bleiben würde, würden drei Mächte den Ausschlag geben: Deutschland, Frankreich, England. Da England dem Anschein nach Verteidiger Deutschlands ist und Deutschland Kredit geben soll, verfügt es über deutsche und englische Karten. Frankreich wird majorisiert, und in dieser Weise läuft der Plan darauf hinaus: Wenn die deutschen Arbeiter sich gesagt haben: „Zusammen mit dem russischen Proletariat werden wir die Welt erobern“, so antworten das englische Kapital und das deutsche Kapital, das mit diesem geht: „Zusammen mit dem englischen Kapital werden wir Russland ausbeuten“.

Hat dieser Plan Aussicht, ausgeführt zu werden? Er wird in dieser oder jener Form in Genua auftauchen. Er ist zum Tode verurteilt durch die einfache Tatsache, dass er nicht nur gegen Russland gerichtet ist, sondern auch gegen Frankreich. Denn wenn sich Deutschland in der russischen Wirtschaft festsetzt und dadurch gleichzeitig nicht seinen, sondern den englischen Einfluss in Russland stärkt und ausgestaltet, dann wird nicht nur Deutschland zum Vasall Englands, sondern auch Russland würde wirtschaftlich zum Vasall Englands, und Frankreich stände in der Welt isoliert da, es könnte mit Jugoslawien und mit Monaco die Welt in die Schranken fordern. Und darum weinte Herr Herbette im Pariser „Temps“, als diese Pläne auftauchten, blutige Tränen und erklärte, die französischen nationalen Interessen gingen seit Elisabeth und Katharina der Großen parallel mit den russischen nationalen Interessen, und niemals werde Frankreich an der Ausbeutung Russlands und an einem internationalen Kuratel über Russland teilnehmen.

Nun, die Schatten der Elisabeth und der ehrwürdigen Katharina II. und die Gefühle Herbettes in allen Ehren. Reell genommen ist hier eins klar: der französische Imperialismus hat kein Interesse, dem englischen zur Beherrschung Russlands zu verhelfen und dem deutschen zu helfen, sich in Russland aufzurichten.

Der Abwehrkampf Sowjetrusslands

Sowjetrussland kennt alle ihm drohenden Gefahren. Sowjetrussland geht nach Genua, frei von allen Illusionen. Es weiß sehr gut, dass keine einzige kapitalistische Macht imstande ist, ehrlich und energisch an den Wiederaufbau der Welt zu schreiten. Es weiß, dass sie alle nur ein Ziel haben, wenn sie vom Wiederaufbau sprechen, und dieses Ziel lautet: sich zu bereichern auf Kosten des Schwächeren. Und trotzdem geht Sowjetrussland nach Genua mit der Überzeugung, dass, wie auch diplomatisch die Verhandlungen in Genua verlaufen können, Räterussland aus Genua gestärkt zurückkehren wird. Die kapitalistischen Regierungen fürchteten bisher am meisten die Ausnützung der diplomatischen Tribüne zu kommunistischer Agitation. Sie fürchteten am meisten die kommunistische Propaganda der Sowjet-Diplomatie. Die Sowjet-Diplomatie wird sie mit dieser Propaganda verschonen. Nicht aus Kompromiss Sucht, nicht um die delikaten Ohren der Herren Lloyd George und Poincaré zu verschonen, sondern weil das, was sie vom kommunistischen Standpunkt zu sagen hätte und sagen könnte, viel eindrucksvoller die Tatsachen sagen werden, die Tatsachen der Politik der Alliierten in Europa und in der Welt während der drei Jahre, die seit dem Friedensschluss verflossen sind.

Die kapitalistische Presse verkündet der Welt freudig den Bankrott des Kommunismus, weil, vereinsamt in einem bäuerlichen Lande, die Proletarier Russlands, auf sich allein angewiesen, von der ganzen kapitalistischen Welt angegriffen, durch Krieg und Blockade bekämpft, ihr nacktes Leben mit den Waffen in der Hand verteidigend, nicht imstande waren, die Gesellschaftsform zu verwirklichen, deren Grundlage die Steigerung der Technik ist. Nun, der Kapitalismus beherrscht die ganze Welt mit Ausnahme Russlands. Drei Jahre schweigen schon die Waffen, und die kapitalistischen Regierungen, die Bourgeoisie der Welt, waren vollkommen ungehindert, sie konnten ungehindert beweisen, wie ausgezeichnet sie auf Grund des kapitalistischen Systems die Welt neu aufbauen können, die sie im Kriege in Trümmer geschlagen haben. Wir haben diesen Neuaufbau gesehen. Er besteht im Anhäufen der Friedensruinen auf den Kriegsruinen.

Das kapitalistische System ist verurteilt durch die Tatsachen der Vergangenheit und die Tatsachen der Gegenwart.

Aber vielleicht werden sich die kapitalistischen Herrscher jetzt im letzten Augenblick aufraffen, vielleicht werden sie jetzt einen Plan des Aufbaues der Welt aufrollen, der Ordnung, wenigstens vom kapitalistischen Standpunkt, schafft, der den arbeitenden Massen für ihre schwere Arbeit wenigstens das gibt, was das Pferd für seine Arbeit kriegt: genügend Futter. Wir sagen im voraus: Kapitalistische Nationalökonomen, kapitalistische Denker haben diese Pläne entwickelt, aber die Bourgeoisie als Ganzes wird sich die Ohren zuhalten, sie wird sich von diesen Ratschlägen ebenso abwenden, wie sich die englische Regierung abgewandt hat von den Ratschlägen, die ihr in Versailles ihr finanzieller Sachverständiger [John] Meynard Keynes gegeben hat, wie sich die amerikanische Regierung abgewandt hat von den Ratschlägen, die ihr Russland-Sachverständiger Bullit gegeben hat. Und wenn die Sowjet-Diplomatie der kapitalistischen Welt diese Ratschläge der weitsichtigen bürgerlichen Politiker vorhalten sollte, so wird sie ganz gewiss nur eine Antwort hören: Wir können diese uferlosen Pläne nicht ausführen. Und die bürgerliche Welt wird in Genua auf einem Schiff stehen, das ohne Ruder ins uferlose Meer hinausläuft, wo es vom Sturm vernichtet wird. Die Tatsache, dass der Kapitalismus in Genua dastehen wird ohne jeden leitenden Gedanken, ohne jeden Plan, diese Tatsache wird all sein Geschrei über den Bankrott des Kommunismus übertönen, und sie wird den Proletariern aller Länder sagen: Lasst alle Hoffnungen fahren auf die kapitalistische Welt, lasst alle Hoffnungen fahren darauf, dass diese Welt eine neue Ordnung schaffen kann.

Miteinander hadernd, sich gegenseitig misstrauend, werden die kapitalistischen Regierungen habgierig ihre Hand ausstrecken nach dem Gut und nach der Habe des russischen arbeitenden Volkes. Alle werden sie es tun, darauf pochend, dass der Hunger an der Wolga die Sowjetregierung zur Kapitulation zwingen wird. Wenn in Indien Millionen Menschen vor Hunger starben, da blieb die englische Regierung ruhig. „Wenn sie nicht leben können, so sterben sie“, schrieb kalt der Historiker des englischen Imperialismus, Prof. Seelly, in seinem Buche über die Expansion Englands. Aber sie wissen, dass die Sowjetregierung, die Regierung der Arbeiter und Bauern, verbunden mit den leidenden Massen, ihrem Hunger gegenüber nicht die Kühle und die Ruhe der weißblütigen Herren hat. Und darum führen sie den Plan aus, den Lloyd George im August 1921 den teuflischen Plan nannte, den Plan, den Hunger der russischen Volksmassen auszunützen, um sie zu berauben. Und für diesen Raubzug bereiten sie sich alle vor. Was ist da charakteristischer als die Tatsache, dass dieselbe demokratische Regierung Deutschlands, die vor der ganzen Welt Klage erhebt gegen den Plünderungszug der Entente in Deutschland, dass sie sich durch ihre Experten bei den Verhandlungen über das internationale Konsortium dem Plane der Alliierten anschließt, von der Sowjetregierung zu fordern: sie solle alle Schulden bezahlen, sie solle die Fabriken und die Bergwerke den Ausländern zurückerstatten, ohne dass auch mit einem Worte erwähnt wird, wer denn dem russischen Volke Ersatz leisten wird für den Tod und die Vernichtung, den der dreijährige Interventionszug und die dreijährige Blockade über Russland gebracht haben, Kriegshandlungen, die ohne Kriegserklärung gegen das friedfertige, nach Frieden lechzende, um Frieden bittende russische Volk begangen worden sind.

Sowjetrussland, seine Regierung und seine Massen treiben eine kühle Realpolitik. Sie wissen, dass, obwohl die kapitalistischen Regierungen nicht imstande sind, die aus den Angeln gehobene Welt wieder einzurenken, dass sie jedoch existieren, und dass sie noch die Schicksale der Völker bestimmen. Die Sowjetregierung weiß, dass die erste Welle der Weltrevolution vorüber ist, und sie weiß, dass die neue Welle erst langsam anwachsen wird. Die Sowjetregierung weiß, dass die russische Volkswirtschaft nicht wieder hergestellt werden kann ohne Hilfe der europäischen Volkswirtschaft. Sie hoffte, dass die europäischen Arbeiter es sein werden, die den russischen Arbeitern Maschinen, den russischen Bauern Pflüge liefern werden, um von ihnen mit der Zeit Brot und Rohstoffe zu kriegen.

Nun, die europäischen Arbeiter sind noch nicht Herren in ihrem Hause. Die Fabriken und die Maschinen und alle Produktionsmittel, die sie geschaffen haben, befinden sich in den Händen der Kapitalisten. Und die Sowjetregierung weiß, dass die kapitalistische Welt gegründet ist auf „Soll und Haben“. Darum erklärt die Sowjetregierung: Wir brauchen das Weltkapital, und darum müssen wir ihm das geben, was das Ziel seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, wir müssen ihm Profit geben. Um neue Kredite, die uns notwendig sind, zu erhalten, müssen wir die alten Schulden anerkennen; um unsere wichtigsten Industriezweige, die in unseren, den Händen des russischen Staates bleiben müssen, zu beleben, müssen wir einen Teil der Fabriken den Kapitalisten der Welt in Pacht geben; um die Naturschätze Russlands heben zu können, müssen wir einen Teil dieser Naturschätze an das ausländische Kapital verpachten. Narren, die sich Kommunisten nennen, sogar radikale Kommunisten nennen, haben uns deshalb des Verrats am Proletariat geziehen. Gute, wohlmeinende Leute haben uns gefragt, ob wir nicht sehen, welche Gefahren uns daraus erstehen. Den radikalen Schreihälsen antworten wir: Zeigt uns einen andern Weg! Könnt Ihr uns helfen mit Maschinen und Pflügen, oder soll Eure Hilfe nur im Phrasengedresch bestehen? Und den wohlmeinenden Warnern sagen wir: Wir sind ein hartes Volk von Kämpfern und haben die Gefahren zu würdigen gelernt im Kampfe, wo von einer Entscheidung die Schicksale unserer Republik abhingen. Glaubt Ihr, dass wir jetzt, aus Vertrauen zum Weltkapital, den Weg beschritten haben, der sich neue ökonomische Politik nennt? Kennt Ihr Wege der Revolution ohne Gefahren? Bewusst der großen Opfer, die das arbeitende russische Volk bringen muss, bewusst der Gefahren, die ihm drohen auf dem neuen Wege, hat die Sowjetregierung ihn beschritten, und sie wird ihn solange ruhig und entschlossen gehen und gehen müssen, solange das Weltproletariat sie von diesem eisernen Muss nicht befreit, solange die europäischen Arbeiter nicht imstande sein werden, uns die technischen Mittel, ohne die jetzt kein Volk existieren kann, zur Verfügung zu stellen.

Das, was wir Ihnen, Genossen, sagen, das haben wir offen all den kapitalistischen Regierungen gesagt, mit denen wir verhandelten. Wir sagten ihnen: bisher bestand nur die kapitalistische Welt. Ihr konntet, wie weit und breit sie war, frei walten und schalten. Ihr habt den Weltkrieg gemacht, der die Weltrevolution geboren hat. Und nun stehen wir da, von Gnaden der neuen, von Euch in Bewegung gesetzten Kräfte, der erste von der Arbeiterklasse geleitete Staat. Wir haben eine Bresche geschlagen in das kapitalistische Staatensystem, wie einst die englische und dann die französische Revolution die erste bürgerliche Bresche im feudalen Staatensystem war. Ihr wolltet ums vernichten. Es ist Euch nicht gelungen, und jetzt fragen wir Euch: Wollt Ihr mit unserer Existenz rechnen, wie wir mit der Eurigen? Wir suchen einen Modus vivendi mit Euch, solange Ihr existiert. Die kapitalistische Welt wird uns in Genua antworten: Wir haben nichts gegen die Existenz der Sowjetregierung, wenn sie dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, wenn sie dem Weltkapital zurückerstattet, was des Weltkapitals ist. Was wird ihr die Sowjet-Diplomatie antworten? Genossen! Die Konferenz in Genua ist kein gelehrter Disput von Kommunisten mit Kapitalisten, sondern sie bedeutet Kampf, und Ihr alten Kämpfer wisst, dass man vor dem Kampfe dem Gegner öffentlich keinen Vortrag über die im Kampfe anzuwendende Taktik hält. Eure Vertrauensmänner sind informiert über alle Einzelheiten unserer Taktik. Die Vertrauensmänner der Gewerkschaften sitzen in unserer Genua-Delegation, und sie haben zusammen mit den Vertretern der Partei und der Regierung unsere Kampfesweise festgelegt, insoweit das vor der Konferenz möglich ist.

Aber diese diplomatischen Züge und Gegenzüge sind nicht einmal wichtig. Für die breiteste Arbeitermasse, für Euch, die Ihr ihre Seele seid, ist es wichtig, zu wissen: Was werden wir den Kapitalisten zugestehen und was werden wir von ihnen fordern.

Wir werden ihnen gegenüber die Verpflichtung übernehmen, die alten Schulden zu bezahlen, wenn sie unsere Regierung anerkennen, und wenn sie uns helfen, an die Arbeit zu gehen, die allein die Werte schaffen kann, mit welchen wir die alten Schulden bezahlen können. Aber indem wir diese Verpflichtung übernehmen, sagen wir den Kapitalisten offen: Der imperialistische Krieg und Euer Räuberfeldzug gegen Sowjetrussland haben das Land in den finanziellen Bankrott getrieben. Was habt Ihr davon, wenn Ihr uns eine Schuldenlast aufbürdet, die wir nicht zahlen können? Was habt Ihr davon, wenn wir Euch gegenüber auf dem Papier Verpflichtungen übernehmen, die wir nicht halten können? Handelt uns gegenüber, wie Kaufleute einem bankrotten Schuldner gegenüber handeln, wenn sie ihn nicht untergehen lassen wollen, weil sie, hoffen, wenigstens einen Teil der Schulden von ihm zurückzukriegen. Sie stunden zuerst die Zahlungen, bis er sich erholt hat und zahlen kann. Sie treffen mit ihm ein Übereinkommen, das die Schuld auf das Maß reduziert, das zu tragen möglich ist, und sie helfen ihm, die neue Arbeit zu beginnen, deren Früchte er mit ihnen zu teilen haben wird. Ihr müsst so vorgehen, um so mehr, als wir Eurem Schuldzettel den unsrigen entgegenstellen können, und um so mehr, als das der einzige vernünftige Ausweg ist, wenn Ihr auch nur einen Teil Eurer Schulden wiedersehen wollt.

Die kapitalistische Welt wird uns antworten: Ja, Ihr seid zwar finanziell bankrott, aber Ihr habt Fabriken und Schächte, die uns einmal angehört haben. Gebt sie zurück. Wir können ihnen darauf antworten: Die russische Revolution hat die Junker verjagt, den Grund und Boden zum Eigentum des Staates gemacht und den Bauern zur Bearbeitung übergeben, damit das russische Volk keine feudalen Blutsauger zu mästen hat. Und niemand wird nach den Erfahrungen der drei Jahre des Bürgerkrieges, in dem der Bauer mit den Waffen in der Hand seinen Grund und Boden verteidigt hat, wagen, zu versuchen, ihm den Grund und Boden aus den Händen zu reißen. Ihr glaubt, wie es scheint, dass der Arbeiter weniger tapfer die Fabriken verteidigen wird. Nun, wir raten Euch nicht, die Probe aufs Exempel zu machen. Aber ganz davon abgesehen: die Revolution hat nicht nur den Acker Russlands tief umgepflügt. Um uns zu verteidigen gegen Krieg und Blockade, um die Kriegswerkstätten instand zu bringen, die während drei langer Jahre uns ausrüsteten für unseren Kampf gegen Euch, haben wir die Fabriken zusammengelegt, haben wir aus zehn Fabriken eine gemacht. Und wenn Ihr die Hand ausstrecken wollt nach Euren Fabriken, so werdet Ihr vielerorts nur vier Wände finden. Eine Wiederkehr zu den alten Eigentumsverhältnissen ist unmöglich. Sie ist unmöglich aus dem Grunde, weil unser neues Gesetz der Nationalisierung der Industrie den neuen Notwendigkeiten des durch die russische Revolution geschaffenen Lebens entspricht. Die Wiederkehr zu den alten Eigentumsverhältnissen ist unmöglich, weil nur eine neue, großzügige Technik, die hinausgreift über die alten Schranken des Eigentums, Russland wieder neu aufbauen kann. Ihr könnt in Russland Profite einheimsen; sie Euch zu gewähren, sind wir bereit, aber wir sind nicht gewillt, die Errungenschaften der Revolution aufzugeben. Nicht Denationalisierung, sondern Pacht und Konzession, das ist der Boden, das ist die Grenze unserer Zugeständnisse.

Wir wissen nicht, was uns die kapitalistische Welt in Genua antwortet. Wir sind gefasst auf das Unvernünftigste, weil diese kapitalistische Welt, die von der Geschichte zum Tode verurteilt ist, sich schwer zur Vernunft durchringen kann.

Aber, was sie uns auch heute antworten wird, letzten Endes entscheiden wird das Kräfteverhältnis, entscheiden wird die Frage, dass das internationale Kapital Russland als Absatzmarkt und Rohstoffquelle braucht, entscheiden wird die Tatsache, dass man hundertundfünfzig Millionen Menschen nicht behandeln kann wie eine Wüstenei. Denn überlässt die kapitalistische Welt Russland sich selbst, dann kann sie an keinen Frieden und an keinen Wiederaufbau denken.

Wenn in den kapitalistischen Städten tausend Arbeitslose demonstrieren, so schwingen die Polizisten gegen sie die Gummiknüppel und zerstreuen sie. Wenn zehntausend Arbeitslose sich in Bewegung setzen, dann wird ihnen eine Kavallerieabteilung entgegengesandt. Wenn die kapitalistische Welt ein großes Volk arbeitslos machen wollte, so würde sie gegen dies Volk ganze Armeen mobilisieren müssen. Sie hat es schon versucht und sie hat den Kampf verloren. Zerklüftet in einander feindliche Lager, hat sie zu befürchten, dass wir uns mit dem Feinde jedes Staates verbünden werden, der uns auszuhungern versuchen wird. Wir werden uns nicht nur mit dem Beelzebub, sondern auch mit seiner Großmutter verbinden, wenn es sich darum handeln wird, die Rechte, für die die russische Arbeiterklasse, für die die Rote Armee geblutet und gehungert hat, zu verteidigen. Hungrig und arm geht Sowjetrussland nach Genua.

Aber es geht mit dem Bewusstsein, dass ein Volk von 150 Millionen nicht ins Joch gebeugt wird, wenn es sich verteidigen will. Kühl denkend, zu Zugeständnissen bereit, geht Sowjetrussland nach Genua, um der kapitalistischen Welt den Waffenstillstand und den Frieden anzubieten. Es wird von dieser Welt abhängen, ob sie unser Angebot annimmt. Wird sie es abschlagen, nun, dann werden wir weiter hungern und weiter kämpfen, und unser wird der Sieg sein, denn wir stellen das neue Leben dar, denn wir haben den Schrei in die Welt gestoßen, der der Schrei der neuen Epoche ist, die begonnen hat an dem Tage, wo die Kanonen des Weltkrieges den Schlaf der kapitalistischen Welt verscheucht haben.

Den Kampf, den die Sowjetregierung in Genua führen wird, den Kampf, den sie nach Genua vielleicht mit andern Waffen zu führen genötigt sein wird, werden Millionen und aber Millionen von Arbeitern und nicht nur von Arbeitern mit tiefer Sympathie verfolgen, und sie werden uns in diesem Kampfe unterstützen. Als wir drei Jahre lang für die Erhaltung der Diktatur kämpften, unterstützten uns nicht nur die kommunistischen Arbeiter, die mit uns einer Meinung waren über die großen Fragen der Geschichte und ihrer Lösungswege. Es unterstützten uns die nüchternen englischen Arbeiter, die keine Kommunisten waren, und es unterstützten uns alle die, deren Herz warm wurde bei der Nachricht von den unerhörten Opfern, die die russischen Arbeiter brachten für die Sache ihrer Befreiung. Nun, wir sind überzeugt, die Massen, die uns heute im Kampfe unterstützen werden, werden viel größer sein, obwohl es uns noch nicht gelungen ist, unser großes Ideal zu verwirklichen. Denn drei Jahre sind verflossen, seitdem die kapitalistische Welt der Erde den Frieden verkündet hat, und diese drei Jahre haben Millionen und aber Millionen Menschen gezeigt, dass der Kapitalismus keinen Frieden und kein Brot geben kann. Und damit komme ich zum dritten Teil meines Vortrages, damit komme ich zu der Frage der Aufrichtung der einheitlichen Kampffront des Proletariats trotz aller Differenzen, die es spalten.

Diese Frage ist nicht erst aufgetaucht bei der Nachricht von der Konferenz in Genua. Zum ersten Mal wurde sie von uns aufgeworfen in Deutschland im Januar des Jahres 1921, als es galt, die sich anbahnenden proletarischen Bewegungen zusammenzufassen zum Kampf um ein Stückchen Brot. Damals richtete die Kommunistische Partei Deutschlands den bekannten Offenen Brief an alle Gewerkschaften und die beiden sozialdemokratischen Parteien mit dem Vorschlag, gemeinsam für den Kampf um die nächsten proletarischen Interessen einzutreten. Der III. Kongress der Kommunistischen Internationale hat im Juli diesen Schritt, der im ersten Augenblick so befremdlich aussah, so fremd unserer bisherigen Taktik, gutgeheißen und den andern kommunistischen Parteien zur Nachahmung empfohlen.

Im Oktober hat die Exekutive der Kommunistischen Internationale darüber beraten, wie diese einheitliche Front international zu erstreben sei. Die erweiterte Sitzung der Exekutive, die eigentlich ein gekürzter vierter Kongress war, hat endgültige Beschlüsse in dieser Frage angenommen. Und die Genua-Konferenz, die ein Kampffeld darstellt nicht nur für die Interessen der russischen, sondern der internationalen Arbeiterklasse, hat diese Entscheidungen beschleunigt, denn sie hat die Frage aufgeworfen: Soll das internationale Proletariat dem neuen Versailles ebenso ohnmächtig gegenüberstehen, wie es ohnmächtig den Verhandlungen über den Schandfrieden von Versailles im Jahre 1919 gegenüberstand? Manche unserer Gegner sagen: Die Losung der Einheitsfront ist ein neues Manöver der Sowjet-Diplomatie, die Hilfe sucht für Genua. Die knappen Tatsachen, die ich über die Geschichte dieser Frage mitteilte, strafen diese Behauptungen Lüge. Die anderen Gegner sagen: Es ist ein tückisches Manöver der Moskowiter, um im trüben Wasser zu fischen, um neue Spaltungen in der europäischen Arbeiterbewegung durchzuführen. Manche unserer Freunde fürchten umgekehrt, die Losung der Einheitsfront sei der erste Schritt zur Wiedervereinigung mit der verräterischen Sozialdemokratie, mit der 2. Internationale und den schwankenden Gestalten der 2½. Genossen, es handelt sich hier um einen neuen Abschnitt unserer Geschichte, es handelt sich hier um große Dinge, bei denen die kleine Schlauheit versagt; die man mit vollkommener Offenheit historisch beleuchten muss, die man sich in ihrer ganzen Tragweite zum Bewusstsein bringen muss, wenn man selbst nicht betrogen sein will. Ich will sie darum in der Perspektive der Entwicklung der Weltrevolution und der Kommunistischen Internationale geschichtlich mit vollkommener Offenheit vor Euch aufrollen, wie es die Größe der Frage verlangt.

Die Einheitsfront des Proletariats

Die russische Revolution war die erste Welle der Weltrevolution. Sie war die Antwort des Weltproletariats auf den Krieg, auf das Weltkapital, von dem Lande gegeben, wo die kapitalistische Organisation am schwächsten war und wo das Proletariat auf die Hilfe des nach Brot und Frieden lechzenden Bauerntums rechnen konnte. Die russische Revolution war die erste Bresche, die das Proletariat in die Fronten des Weltkrieges geschlagen hat. Ein Jahr später brach der deutsch-französische Teil dieser Front zusammen. Auf diesen Zusammenbruch erfolgte die Revolution in Deutschland und in Österreich, und es schien eine Zeitlang, dass diese Revolution die Bresche in dem kapitalistischen System ausbreiten und ausweiten würde, die die russische Revolution geschlagen hat. Aber leider war die deutsche und österreichische Revolution in viel geringerem Maße ein Resultat des Aufbäumens des Proletariats als des Zusammenbruches der besitzenden und herrschenden Klasse. Auch fehlte es dem deutschen und österreichischen Proletariat an jedem Verbündeten im Lager der Bourgeoisie. Umgekehrt, die Bourgeoisie hatte in seinem Lager, in dem Lager des Proletariats, mächtige Verbündete in den Führern der Gewerkschaften, in den Führern der sozialdemokratischen Parteien. Und so konnte und so musste es kommen, dass das deutsche Proletariat, nachdem es für einen Augenblick die Macht ergriffen hatte, sie wankelmütig und schmählich der Bourgeoisie zurückgab und ruhig zusah, wie diese sich zu befestigen begann. Nur eine Minderheit des deutschen und österreichischen Proletariats kämpfte dagegen. Und trotzdem war die Lage der internationalen Bourgeoisie zur Zeit des Abschlusses des Versailler Friedens mehr als unterminiert. Es war eine Situation auf einem Vulkan. Das empfanden die Führer der Bourgeoisie, die sich in Versailles versammelt hatten, ausgezeichnet. Meynard Keynes, der Teilnehmer dieser Konferenz, schrieb in seinem Buche über den Versailler Frieden über die Atmosphäre, in der diese Konferenz stattfand:

„Paris war wie ein böser Traum, und jeder Mensch dort war ein Kranker. Eine Ahnung von dem bevorstehenden Zusammenbruche hing über der leichten Bühne. Die Wertlosigkeit und Kleinheit des Menschen vor den großen Ereignissen, die Mischung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit in den Entscheidungen, Leichtsinn, Blindheit und Unverschämtheit, wirres Geschrei von draußen, alle Elemente der antiken Tragödie waren da. In der Tat, wenn man unter den theatralischen Dekorationen der französischen Staatszimmer saß, konnte man fragen, ob die außerordentlichen Gesichter Wilsons und Clemenceaus mit ihrer gefrorenen Farbe und ihrem unveränderlichen Ausdruck überhaupt Menschengesichter waren und nicht die tragikomischen Masken irgend eines seltsamen Dramas oder Puppenspiels.

So stehen wir in Europa vor dem Schauspiel einer außerordentlichen Schwäche der großen Kapitalistenklasse, die aus dem industriellen Triumph des 19. Jahrhunderts hervorging und noch vor wenigen Jahren unser allmächtiger Beherrscher schien. Die Angst und der persönliche Kleinmut der Angehörigen dieser Klasse ist augenblicklich so groß, ihr Vertrauen auf ihre Stellung in der Gesellschaft und auf ihre Notwendigkeit für deren Gefüge so gesunken, dass sie leicht zum Opfer jedes Einschüchterungsversuches werden. Vor fünfundzwanzig Jahren war es in England nicht so, ebenso wenig wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Damals glaubten die Kapitalisten noch an sich, an ihre Bedeutung für ihre Gesellschaft, an die Zweckmäßigkeit der Fortdauer ihres Daseins im Vollgenuss ihrer Reichtümer und des unbeschränkten Gebrauches ihrer Macht. Jetzt zittern sie vor jedem Angriff.“

Und ein konservativer englischer Journalist, Dillon, der die Versailler Verhandlungen sehenden Auges in Paris verfolgt hat, schreibt in seinem Buche über die Versailler Konferenz:

„Die Soldaten, die vom Kriege zurückgekehrt waren, glaubten, dass sie wie Helden empfangen würden.

Und sie fanden eine Lage, als wären sie Mitglieder eines besiegten Volkes. Das Essen, das der Soldat fünf Jahre lang an der Front gekriegt hatte, war seit dem Waffenstillstand das Privileg der Kapitalisten und Kriegsprofitler ... Gleichzeitig standen Gegenstände des ungezähmten Luxus und Beispiele einer unerhörten Verschwendung tagtäglich vor den Augen der verarmten Massen, die die Nation gerettet haben und die forderten, dass sie es anerkenne. Feste, Prachtfrühstücke, Bälle, die kein Ende nahmen, alles das zeigte die Stimmung und die Lage der Bourgeoisie und stach in die Augen der Soldaten. Wie kann es eine Gerechtigkeit in der Welt geben, fragten sie, wenn man so schnell die heroischen Taten vergisst ... Die Soldaten murrten. Vom Ausbruch des Krieges an sind sie einer großen geistigen Umwälzung unterlegen.

Im Hexenkessel der gewaltigen Weltkrise haben sie das Gefühl der Zufriedenheit mit der bestehenden Ordnung verloren und mit der Stellung, die ihre Klasse einnahm in der Welt. Sie haben dem Tode ins Antlitz geschaut, und sie fühlten in sich ein versengendes Feuer. Die Entsagung hat dem Gefühl der Rebellion Platz gemacht. Der demobilisierte Soldat hat seinen kriegerischen Geist bewahrt. Er lebte in der Atmosphäre des Schützengrabens. Er hat das Gefühl der Angst und der Achtung vor den andern verloren ... Er war überzeugt von der Bedeutung seiner Klasse, in der er den Atlas sah, der die Republik und ihre Weltbedeutung auf seinem Rücken trug. Und mit diesem seinen eigenen Wert, der durch unerhörte Verdienste bewiesen wurde, verglich er den niedrigen Preis, den ihm die beimaßen, die bisher den Staat darstellten. Die sattgefressenen, faulen, egoistischen Gelderoberer, die jetzt die Erfolge seiner Arbeit einheimsten ... Wir haben die Nation gerettet, wir können auch unsere Klasse retten. Wir haben dazu die Kraft. Warum sollen wir sie nicht anwenden? Die Ziele der sozialen Schicht, aus der die demobilisierten Soldaten stammten, wurden immer klarer, je mehr das Bewusstsein ihrer Gesamtkraft wuchs ... Die Zeit des Waffenstillstandes auf dem Kontinent war die Zeit, in der die gefährlichste soziale Krankheit der zivilisierten Staaten reifte.“

Die Lage in allen Ländern war außerordentlich revolutionär. Millionen und Abermillionen sind aus dem Kriege zurückgekehrt, und sie fanden dort die alte Unterjochung und sie haben dort die alte Knechtschaft gefunden. Und sie zerrten an den Ketten und sie zerrten an den Gittern. Der Kapitalismus erlebte eine ungeheure Krise. Seine herrschenden Klassen waren desorganisiert, nicht angepasst an die neuen Bedingungen, aus der Bahn gebracht. Die beherrschten Massen waren aus dem alten Geleise ihrer Abhängigkeit herausgeworfen. Es war eine große Frage, ob es gelingen würde, sie in die alte Knechtschaft zurückzudrängen. Wer behauptet, dass es eine Utopie war, zu versuchen, diese große Krisis des Kapitalismus auszunützen, um ihn über den Haufen zu werfen, der sucht nur zu verhüllen, dass er den Aufgaben, vor die die Geschichte die Arbeiterklasse gestellt hat, nicht gewachsen war. Dass die Krise des Jahres 1919 vorüberging, ohne dass es gelang, in einer Reihe von Ländern die Arbeiterklasse zum siegreichen Sturm gegen die Bourgeoisie zu führen, das ist in erster Linie ein Resultat der Politik der sozialdemokratischen Parteien und der Führer der großen Gewerkschaftsverbände. Ihnen verdankt das Weltkapital in erster Linie, dass es im Jahre 1919 gerettet worden ist. In der Arbeiterklasse gärte es, aber es fehlte ihr die Zielsicherheit, es fehlte ihr die leitende Organisation, es fehlte ihr der Elan, der nur entsteht, wenn sie die Empfindung hat, geschlossen, zusammengefasst und geführt zu sein. Und dass dies alles fehlte, das war in erster Linie das Werk der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbürokratie. Sie suchten den Arbeitern zu beweisen, dass der Gedanke an den Sieg eine Utopie ist, sie suchten der Arbeiterklasse zu beweisen, dass nicht die Zertrümmerung des Kapitalismus, sondern dass seine Reform, seine Demokratisierung die Aufgabe des historischen Augenblickes ist. Sie redeten den Arbeitern ein, dass es möglich sei, unter der Herrschaft der Bourgeoisie eine vollkommene Demokratie durchzuführen, und dass unter den Fittichen dieser Demokratie die Arbeiterklasse zwar langsam, aber dauernd ihre Lage verbessern könne. Sie stellten die Kommunisten als Abenteurer, Verbrecher oder Phantasten hin, sie suchten sie mit allen Mitteln von den Arbeitermassen abzusondern. Sogar der heroische Kampf des russischen Proletariats ward ein Objekt der Angriffe seitens der Führer der sozialdemokratischen Partei. Sie brachten es so weit, dass die großen Massen der Arbeiterklasse, die im Kriege die Bedeutung der Organisation gelernt hatten, jetzt natürlicherweise große Angst empfanden, sich von dieser Organisation abzuwenden, sie zu zertrümmern. Umgekehrt, sie strömten in Millionen den Organisationen zu, um aus ihnen ihre Kampfeswaffe zu machen, aber diese Organisationen banden ihre Energie, diese Organisationen hatten nur eine Sorge, die Arbeitermassen von jedem Kampfe zurückzuhalten. Ja, im Namen dieser Organisationen schlossen die Gewerkschaftsführer die Abkommen mit den Unternehmern, deren Hauptzweck es war, jeden Kampf der Arbeiterklasse unmöglich zu machen.

In dieser Situation hatte die Kommunistische Internationale zwei Aufgaben: die kleinen proletarischen Minderheiten zurückzuhalten von dem aussichtslosen Sturm und gleichzeitig aus diesen kleinen, noch wirren, noch nicht des Umfanges ihrer Macht bewussten Minderheiten eine kampffähige Avantgarde des Proletariats zu schaffen. Die Kommunistische Internationale musste in allen proletarischen Parteien versuchen, die zu ihr gehörenden Elemente an sich zu ziehen und zusammenzufassen, sie musste diese Elemente aussondern aus den sozialistischen Parteien, aus ihnen geschlossene kommunistische Parteien formen. Diese Aufgabe gelang der Kommunistischen Internationale. Sie hat in dreijähriger unermüdlicher Arbeit die revolutionären Elemente der sozialdemokratischen Parteien an sich gezogen, zu separaten kommunistischen Parteien ausgebildet. Sie hat aus ihren Reihen alle abgestoßen, die unfähig waren, eine realistische Politik zu treiben, die unfähig waren, zu verstehen, dass angesichts des Verrates der sozialdemokratischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokratie, dass angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse diesen Parteien folgt, der Augenblick des Kampfes um die Macht noch nicht gekommen ist. Die Gegner wüteten über unsere Spaltungstaktik, und sie verhöhnten den Klärungsprozess in den Reihen der kommunistischen Parteien als einen Wirrwarr, als einen Zersetzungsprozess. Das Geschrei und der Hohn berührten uns nicht. Wir wissen, dass der Feind schreit, wenn ihm Abbruch getan wird, und dass er höhnt, um zu verwirren. Wir gingen unseren Weg und wussten, dass er der richtige ist. Wenn man in den Kampf ziehen will, muss man ein Ziel, eine Armee und Waffen haben. Das Ziel hatten wir, es war uns gegeben durch die ganze Sachlage, durch den unentrinnbaren Zerfall des Kapitalismus. Die Waffen hat die Masse in dem Moment, wo sie sich wirklich in Bewegung setzt, ihre Waffe ist ihre Masse und ihre Rolle in der Produktion. Aber damit diese Masse zu einer kämpfenden Armee wird, muss sie gegliedert, organisiert und vom Geist erfüllt sein. Für alle diese Zwecke war es notwendig, Kader zu bilden, um die sich die Masse gruppiert, die in dieser fluktuierenden Masse das zusammenhaltende Gebälk bilden: kommunistische Parteien. Was die Gegner Spaltung der Arbeiterklasse nannten, war die Aussonderung des harten eisernen Metalls aus ihr. Was sie Zersetzung nannten, war die Verwandlung des Eisens in Stahl, in Stahl für Kämpfe. Und bald sollte es den breitesten Massen klar werden, dass sie ohne Kämpfe nicht auskommen können.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbonzen haben der Bourgeoisie geholfen, ihre Herrschaft zu retten. Sie ging deshalb, als nun der Krieg zu Ende war, mit voller Energie an die Ausnützung ihres Sieges, an die kapitalistische Arbeit. Der Krieg, während dessen Dauer nur für die Bedürfnisse des Militarismus gearbeitet worden war, bat einen Heißhunger nach Waren erzeugt. Die Kapitalisten konnten ihre Waren absetzen, welche Preise sie auch forderten. Bei den Arbeitermassen hatten sich Ersparnisse aus den hohen Kriegslöhnen gesammelt, bei den Bauern lagen in den Truhen Berge von Papiergeld, das sie zusammengewuchert hatten im Schieberhandel mit Lebensmitteln und Produkten. Es setzte eine Scheinkonjunktur ein, die es vergessen bzw. vorübergehen ließ, dass die Welt durch den Krieg verarmt und verwüstet war und dass der Friede von Versailles sie noch mehr desorganisierte. Bis zur Mitte des Jahres 1920 dauerte diese Hochkonjunktur, die neue Illusionen bei der Arbeiterklasse erweckte, als ließe es sich trotz alledem und alledem irgendwie leben in der baufälligen Bude des Kapitalismus, als ließe sich diese Bude noch ausbessern und in ein wohnliches Haus verwandeln. Aber seitdem, von Japan ausgehend, die neue Weltwirtschaftskrise begann, seitdem die Arbeitslosigkeit in den kapitalistisch entwickeltsten Ländern rapid zunahm, stand wieder die Frage: was weiter? vor den Massen. Was stellt diese Weltwirtschaftskrise dar? fragen sich die Vorderreihen dieser Massen des Proletariats. Ist eine der gewöhnlichen kapitalistischen Krisen, deren Dauer allein ihre Überwindung in sich trägt? Ist es eine Krise des an Kräften zunehmenden Kapitalismus, der an die Enge der Absatzmärkte gestoßen ist? Nein, antworten die Tatsachen. Es ist die Krise des kapitalistischen Systems, das eine halbe Welt verwüstet hat, und darum sogar auf geschmälerter Basis nicht existieren kann. „Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass das wirtschaftliche Grundproblem eines vor ihren Augen verhungernden und verfallenden Europas die einzige Frage war, für die es nicht möglich war, die Teilnahme der großen vier Führer der Versailler Konferenz zu erwecken“, – schrieb Keynes in seinem Buche über den Versailler Friedensvertrag. In der Weltwirtschaftskrise, in der wachsenden Arbeitslosigkeit wandte sich dieses verhungernde Europa an den einen Großen, der in Versailles abwesend war: an das Weltproletariat. Und es bedroht ihn mit dem Hungertode, wenn er nicht aufsteht, wenn er die Welt nicht in seine Fäuste nimmt.

Noch bedeutet die Arbeitslosigkeit für die Massen in Amerika und England nicht den letzten Hunger. Sie haben aus dem Stundenlohn, den ihnen das Weltkapital zahlte für die Hilfe im Kriege, einen Sparpfennig weggelegt, von dem sie jetzt zehren. Aber was dann, wenn diese Sparpfennige aufgezehrt sind? Noch erlaubt die Zerrüttung der Weltwirtschaft dem Kapital Deutschlands, zu wuchern, zu wuchern mit der billigen Arbeitskraft des deutschen Proletariats, Profit zu machen durch die Auspowerung und den Ausverkauf Deutschlands. Es rauchen die Fabrikschornsteine, die Maschinen summen, und der Arbeiter kriegt das Drittel, die Hälfte seines Vorkriegslohnes. Aber gleichzeitig wächst die Teuerung, es wachsen die Steuern, und die graue Sorge ist der einzige Gast im Arbeiterhause.

Die Zeit der Not der Arbeiterklasse, die Zeit der Arbeitslosigkeit, die Zeit, wo die „Hände“ zittern vor der Aussicht, keine Beschäftigung mehr zu finden, nützt das Weltkapital zu einer groß angelegten Offensive gegen die Arbeiterklasse aus.

In der ganzen Welt verkürzen die Kapitalisten die Löhne, suchen den Achtstundentag, die Haupterrungenschaft der Nachkriegszeit, aufzuheben. Im Jahre 1919 suchten die Bergarbeiter in England die Nationalisierung der Kohlengruben zu erzwingen. Die englische Regierung suchte sie damit zu beschwichtigen, dass sie die Sankey-Kommission einsetzte, die mit ihnen die Frage „diskutieren“ sollte. Jetzt „diskutieren“ die Bergarbeiter mit den Kapitalisten im siebenwöchigen Streik darüber, ob sie Hungerlöhne kriegen sollen. Die Arbeitslosigkeit und die Streiks, weißgeblutete Gewerkschaften, deren Führer im Jahre 1919 den Kapitalisten geholfen haben, die Arbeiterklasse Englands ins Joch zurückzuführen. Im Jahrbuch der Daily Mail für das Jahr 1922 schreibt der bürgerliche Abgeordnete Franc Rose in einer Übersicht über die Lage der Arbeiterklasse:

„Die unerhörte Last der Arbeitslosigkeit leerte die Kassen der größten Gewerkschaften und machte sie unfähig zum Widerstand gegen die Forderungen der Arbeitgeber, in jedem Industriezweig große Lohnkürzungen durchzuführen. Die finanziell solideste und reichste englische Gewerkschaft „The Amalgamated Engeneer Union“, hat über 34 Prozent arbeitslose Mitglieder, manche Sektionen der Weber in Lancashire haben über 80 Prozent Arbeitslose. Die Stahl- und Eisengewerkschaft hatte dank dem vollkommenen Ausblasen der Öfen in verschiedenen Distrikten überhaupt keine beschäftigten Mitglieder.

Darum gibt es fast keinen Widerstand gegen die Herabsetzung der Löhne.“

Von der Niederlage und über die Niederlage der Triple-Allianz im Kohlenstreik sagt derselbe Verfasser, dass diese einen moralischen Bankrott erlitt. Und dasselbe sagen die englischen Arbeiter. Und wie ist die Lage in Deutschland? Womit endete der letzte Eisenbahnerstreik? Er endete mit der materiellen Niederlage der Eisenbahner und mit der größten moralischen Niederlage der Gewerkschaften, die auf der Seite des kapitalistischen Staates gegen die Arbeiter kämpfen. Was steht bei diesen Niederlagen auf dem Spiele? Warum werden die Arbeiter diese Niederlagen nicht dulden? Das ist eine Frage, die beantwortet werden muss, eine Frage, über deren Beantwortung die Arbeiterklasse immer mehr einig wird.

Das Weltkapital hat den Krieg verloren, denn der Krieg, geführt zwecks Bereicherung des Kapitalismus, hat diesen außerordentlich geschwächt, in seinen Grundfesten erschüttert; nicht nur die besiegten Länder, sondern auch die siegreichen sind aus ihm viel ärmer herausgekommen. Alle kämpfen mit den größten inneren und äußeren Schwierigkeiten. Die Gegensätze der kapitalistischen Welt sind nicht gemildert, sondern verschärft, und immer klarer wird es, dass die kapitalistische Welt weder aus noch ein weiß. Sie steht vor der Frage, wie die erschütterte, aus den Fugen geratene Weltwirtschaft einzurenken ist. Die kapitalistischen Gruppen der Siegerländer glaubten anfangs, dass sie sich auf Kosten der Besiegten wiederherstellen werden. Das hat sich als eine große Illusion herausgestellt. Die besiegten Länder sind bankrott und könnten die Mittel zur Wiederherstellung der siegreichen nicht hergeben. Da bleibt der Bourgeoisie nur ein Ausweg übrig: international zu versuchen, sich auf Kosten der Arbeiterklasse zu retten. Es gilt jetzt, die Ausbeutung der Arbeiter in allen Ländern so zu steigern, dass aus ihren Knochen nicht nur die normalen kapitalistischen Profite herausgeschunden werden, sondern auch die Extraprofite, die notwendig sind für den Wiederaufbau der kapitalistischen Welt. Die Versuche der Lohnkürzung, der Verlängerung der Arbeitszeit in allen Ländern, sie bilden den Weg, auf dem das Weltkapital aus seiner Krise herauszukommen gedenkt. Die Offensive des Weltkapitals, die in allen Ländern begonnen hat und sich immer mehr entwickelt, bedroht die internationale Arbeiterklasse. Sie stellt sie vor die Frage, ob sie sich zurückwerfen lassen will, weit hinter ihre Lebenshaltung der Vorkriegszeit. Das ist, was auf dem Spiele steht, und diese kapitale Tatsache ist die Grundlage der geänderten Taktik der Kommunistischen Internationale. Die Arbeiterklasse ist noch heute getrennt durch tiefe Meinungsverschiedenheiten in der Frage Diktatur oder Demokratie, in der Frage, auf welchem Wege sie ihre endgültigen Ziele verwirklichen kann.

Aber in der Frage, ob sie verzichten soll auf das Stückchen Brot, auf eine menschliche Wohnung, ist die Arbeiterklasse nicht gespalten; in dieser Frage bildet sich allmählich eine geeinigte Front der Proletarier heraus. Dieselben Proletarier, die ruhig zuschauten, wie das Kapital wieder seine Herrschaft aufrichtete, dieselben Proletarier, die von der Erstarkung des Kapitalismus sogar eine Besserung ihrer Lage erhofften, sie sehen die wachsende Welle der Not, und sie wollen sich ihr entgegensetzen. Sie hoffen nur noch, den Abwehrkampf im Rahmen des Kapitalismus siegreich ausfechten zu können. Sie hoffen noch, der Notwendigkeit, revolutionär zu kämpfen, entrinnen zu können. Aber sie wollen das bisschen Milch ihrer Kinder verteidigen.

Sie wollen den Achtstundentag verteidigen. Sie wollen nicht, dass ihr Blut den Wundersaft darstelle, der den Kapitalismus wieder jung machen soll. In den Wirtschaftskämpfen, die über die kapitalistische Welt hinwegfluten, beginnt sich langsam die Einheitsfront des Proletariats zu bilden. Die Kommunistische Internationale, die Partei des proletarischen Interesses, sie kann diesen Tatsachen nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Die Kommunistische Internationale ist die Vorhut des Proletariats. Sie kämpft um ihr Programm, um ihre Ideale als Minderheit der Arbeiterklasse. Sie kann diese Ideale nur verwirklichen, indem sie die große Mehrheit der Arbeiterklasse erobert. Sie kann diese Mehrheit nicht erobern durch bloße Propaganda ihrer Ideen. Nur indem sie versteht, sich zur Führerin der Arbeiterklasse in ihren Tageskämpfen zu machen, kann sie die Arbeiterklasse für ihre Ideen gewinnen.

Das entscheidende Element in diesem Kampfe um die Geister der Mehrheit der Arbeiterklasse bilden eben die Tageskämpfe des Proletariats; denn nur sie können die Arbeiterklasse lehren, die Notwendigkeit des Kampfes um die Diktatur zu begreifen. Nur in ihrem praktischen Kampf und nur durch ihn wird die große Mehrheit der Arbeiterklasse sich überzeugen, dass der Kapitalismus nicht imstande ist, auch die dürftigsten Bedürfnisse des Proletarierlebens zu befriedigen. Nur in diesen Kämpfen wird die Arbeiterklasse sich überzeugen, dass der Kampf um ihre Interessen die Eroberung der politischen Macht, die Aufrichtung der proletarischen Diktatur erfordert. Die Teilnahme der Kommunisten an dem Kampf der Arbeiterklasse gegen die Not des Tages bedeutet kein Hinuntersteigen von den Höhen des revolutionären Kampfes in die Niederungen der opportunistischen Politik, sondern bedeutet das Hinaufführen des Proletariats zu den Höhen des revolutionären Kampfes. Entweder ist es wahr, was wir behaupten, dass der sich zersetzende Kapitalismus nicht imstande ist, auch die bescheidensten Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu befriedigen – und es ist wahr –, dann trägt der Kampf um diese Bedürfnisse in sich die Gewähr großer revolutionärer Kämpfe und dann wird die kommunistische Partei als die einzige konsequente Führerin in diesem Kampfe zur ausschlaggebenden Macht in der Arbeiterklasse; indem sie sich ruhig und entschlossen diesen Kämpfen widmet, wird sie vor eine Reihe neuer Fragen gestellt, die äußerlich befremdend aussehen und den Eindruck erwecken, als ob die neue Taktik die Partei ihrem historischen Wesen entfremden könnte, als ob sie imstande wäre, ihre Aussöhnung mit denen herbeizuführen, die von der Kommunistischen Internationale bisher als gefährliche Gegner des Proletariats angesehen worden sind. Es gilt, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, damit unser Kampf einheitlich, konsequent und mit voller Energie geführt werde.

Der Abwehrkampf des Proletariats muss geführt werden durch die großen Massen der Arbeiter. Diese Massen sind in Westeuropa organisiert in Gewerkschaften, und sie gehören zum Teil den alten sozialdemokratischen Parteien an. Die erste Frage, die wir uns zu stellen haben, ist: Können wir diese Massen erobern im Gegensatz zu ihren Führern, der Gewerkschaftsbürokratie und der Bürokratie der sozialdemokratischen Parteien, oder ist unser Beginnen hoffnungslos, wenn sich ihm die alten Führer entgegensetzen? Diese Frage muss dahin beantwortet werden: Auf die Länge hin wird der revolutionäre Gedanke in der Arbeiterklasse siegen, auch wenn sich ihm die sozialdemokratischen Organisationen und die Arbeiterbürokratie entgegensetzen. Ja, die Überwindung der sozialdemokratischen Ideologie ist eine Vorbedingung des internationalen Sieges des Proletariats. Aber damit ist nicht gesagt, auf welchem Wege diese Überwindung stattfindet. Wenn es sich um die Feststellung dieses Weges handelt, so muss man vorerst sich die Frage stellen: Wie gelangen wir am leichtesten an die nicht-kommunistischen Arbeitermassen? Tun wir das am leichtesten, indem wir uns mit der Demaskierung der sozialdemokratischen Führer auf dem Wege der Propaganda begnügen, indem wir uns von jeder Berührung mit ihnen fernhalten? Es ist klar, dass dieser Weg der schlechteste wäre. Er würde den Verzicht auf den Versuch der Zusammenfassung der Arbeitermassen zum Kampfe bedeuten. Er würde bedeuten, dass wir handeln müssten, nur auf die Arbeiterschichten gestützt, die schon kommunistisch sind. Er würde bedeuten, dass wir die Arbeiterschaft zum Kampfe aufzufordern hätten, und falls sie nicht so konsequent von vornherein kämpfen würde, wie wir es wünschen, dass wir dann kritisierend beiseite zu stehen hätten. Die Arbeiterschaft würde dann in uns die Spalter ihres Kampfes sehen, Eigenbrötler, die, eingesponnen in ihre Theorien, nicht imstande sind, mit ihr zusammen die Notwendigkeit der Zusammenfassung aller Kräfte gegen die Offensive des Kapitals zu erfassen. Ganz anders ist es, wenn wir an die Arbeiterschaft herantreten, so wie sie ist, mit allen ihren Illusionen, mit all ihrer Unentschlossenheit, mit all ihrer Anhänglichkeit an die alten Führer und an die alten Ideen. Wenn wir sie zu erfassen suchen in dem Rahmen ihrer alten Organisationen. Wir haben diesen Weg in den Gewerkschaften seit jeher betreten.

Wir haben gekämpft nicht um die Zertrümmerung der Gewerkschaften, sondern wir haben versucht, die Gewerkschaften zu nötigen, den Kampf des Proletariats zu führen. Um dies zu erreichen, haben wir uns keinen Augenblick geweigert, uns an einen Tisch mit den reformistischen Führern der Gewerkschaften zu setzen, obwohl wir immer den Massen sagten, dass diese Gewerkschaftsführer, mögen sie persönlich sein, wie sie wollen, objektiv ihre Interessen auf Schritt und Tritt preisgeben, und wir können getrost sagen, diese unsere Politik hat überall die besten Erfolge gezeitigt. Dank dieser Politik haben wir in einer Reihe von Ländern große Teile der Arbeiterschaft, die bisher unserer Weltanschauung, unseren Kampfeszielen fremd gegenüberstanden, für uns erobert, und nichts erstrebt die Gewerkschaftsbürokratie energischer, als uns die Arbeit in den Gewerkschaften unmöglich zu machen; denn sie versteht es ausgezeichnet, dass, da sich die Lage der Arbeiterschaft immer mehr verschlechtert, da sich ihre Kämpfe verschärfen müssen, in diesen Kämpfen diejenigen Oberhand gewinnen, die energisch und mutig kämpfen wollen, über die, die jedem Kampfe ausweichen. Nun, die Kämpfe des Proletariats wachsen hinaus über den Rahmen der Einzelkämpfe der Gewerkschaften, über den Rahmen der Lohnbewegung. Sie werden immer mehr zu kämpfen haben gegen den kapitalistischen Staat auf dem Gebiete des Steuerwesens, auf dem Gebiete der Weltpolitik, die jetzt zum Kampfe um die wirtschaftliche Neuordnung der Welt wurde. Die Taktik, die wir in den Gewerkschaften führen, muss auf das Gebiet der Politik übertragen werden mit den Änderungen, die sich aus dem Wesensunterschiede der Gewerkschaften und der politischen Parteien ergeben. Die Gewerkschaften fassen die Arbeiterschaft ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit zusammen. Darum brauchten wir die Gewerkschaften nicht zu spalten, sondern wir suchten in ihrem Rahmen die Politik der Einheitsfront durchzuführen, indem wir sie durch unseren Druck von innen zu den Kämpfen um die Lebensnotwendigkeiten der Arbeiterschaft zu treiben suchten. Die politischen Parteien sind Kampfeseinheiten von Gesinnungsgenossen. Wenn wir unsere Gesinnungsgenossen zusammenfassen wollten, wenn wir sie zur wirklichen Gesinnungsgenossenschaft ausbilden wollten, so müssten wir die alten Parteien der Arbeiterklasse sprengen und die revolutionären Arbeiter in kommunistischen Parteien zusammenfassen. Wollen wir jetzt diese revolutionären Arbeiter in die gemeinsamen Kämpfe mit den anderen Proletariern führen, die im wachsenden Maße genötigt sein werden, ihre Illusionen aufzugeben, so stehen zwei Wege offen. Der erste Weg wäre die Verschmelzung der kommunistischen Parteien mit den sozialdemokratischen. Wir brauchen nicht erst auszuführen, dass dieser Weg ungangbar ist angesichts der tiefen Gegensätze, die uns von den sozialdemokratischen Parteien trennen. Solange das Proletariat nicht einen Willen und eine Erkenntnis von dem zu beschreitenden Weg in seinen Kämpfen sich erarbeiten wird, solange kann die parteipolitische Spaltung des Proletariats nicht verschwinden. Wer irgendwelche Illusionen darüber hat, schafft Verwirrung in den Reihen des Proletariats. Und wer Befürchtungen hat, dass die Kommunistische Internationale bei der jetzigen Spaltung der Geister eine Politik der Einigung der proletarischen Parteien für möglich halten könnte, der beweist, dass er niemals das Wesen der Kommunistischen Internationale in all seiner Tiefe erfasst hat. Der beweist, dass er die Tiefe der Krise nicht erfasst hat, die die Arbeiterbewegung seit dem Kriege erschüttert. Der zweite Weg, der übrig bleibt, ist der Weg der politischen Blocks der Parteien, die sich auf das Proletariat stützen, zum Zwecke der Erreichung der Einheit für die nächsten unaufschiebbaren Kämpfe. Diesen Weg hat die Kommunistische Internationale beschritten, und sie wird an ihm für absehbare Zeit festhalten. Das Ziel der Politik der Einheitsfront ist die Zusammenfassung des Proletariats für seine nächsten Abwehrkämpfe gegen die wachsende Teuerung, gegen die wachsende Arbeitslosigkeit, gegen die wachsende Belastung, die das Weltkapital dem Proletariat und den arbeitenden Massen der Welt überhaupt aufzuerlegen sucht.

Die deutsche Reparationsfrage, die Anerkennung Sowjetrusslands sind wie die Kämpfe gegen die Arbeitslosigkeit und Teuerung Teile ein- und desselben Problems, Teile des proletarischen Abwehrkampfes gegen die wachsende Versklavung und Verelendung. Die Narren, die da sagen, Sowjetrussland brauche die Einheitsfront, die Losung der Einheitsfront sei ein neues diplomatisches Manöver Sowjetrusslands, sind ebenso klug wie jene, die sagen, die Einheitsfront sei ein deutsches Manöver, denn Deutschland brauche eine moralische Unterstützung in seinem Kampfe gegen die Last der Reparationen. Und die einen wie die anderen Conan Doyles vergessen dabei nur eins, dass die Ruinen Deutschlands und die Ruinen Russlands nichts anderes bedeuten als die Steigerung der Arbeitslosigkeit, als die Steigerung der Not des internationalen Proletariats. Nun, sind die sozialdemokratischen Parteien fähig, zusammen mit uns eine Kampffront aufzurichten? Sind die sozialdemokratischen Führer, die Henderson, die Renaudel, die Scheidemann, fähig, Arm in Arm mit uns wenigstens um die nacktesten Lebensbedürfnisse des Proletariats zu kämpfen? Werden sie uns nicht abspeisen mit Versprechungen, wie sie tausendmal zu kämpfen versprochen haben, und werden sie dann nicht wieder verraten? Diese Fragen sind mehr als berechtigt. Wir haben nur geringe Hoffnungen darauf, dass die in Sünden ergrauten reformistischen Führer der Sozialdemokratie, selbst wenn sie tausend Hannibalschwüre leisten, ihr Wort halten, dass sie kämpfen werden auch nur um die einfachsten Notwendigkeiten der Arbeiterklasse. Aber es handelt sich nicht darum, zu spintisieren, was die sozialdemokratischen Führer wollen, sondern was sie tun müssen. Sie befinden sich unter dem steigenden Druck ihrer Arbeitermassen. Mögen sie noch so sehr den Kampf fürchten, mögen sie ihm tausendmal ausweichen wollen und ausweichen, immer mehr wird der Druck der hinter ihnen stehenden Arbeiter wachsen, immer klarer werden die Streitfragen, immer deutlicher kommt es den Arbeitermassen zum Bewusstsein, dass es nicht um Theorien geht, sondern dass es sich darum handelt, ob sie verhungern sollen, ob sie ausgeliefert werden sollen der wildesten Ausbeutung ohne einen Versuch, sich zu wehren.

Angesichts dieser Sachlage können die sozialdemokratischen Führer nicht ohne weiteres klipp und klar einfach die Bestrebungen nach der Einheitsfront des Proletariats ablehnen mit Schimpfkanonaden gegen die Kommunisten.

Mögen sie sogar unseren jetzigen Vorschlag nach der Einberufung einer internationalen Arbeiterkonferenz ablehnen.

Sie werden national genötigt sein, immer wieder Antwort darauf zu geben, wollen sie mit uns für die nächsten Interessen des Proletariats kämpfen, oder wollen sie bei der einfachen Frage nach einem Stückchen Brot mitkämpfen.

Die sozialdemokratischen Führer werden genötigt sein, eine Zickzackpolitik zu treiben, sie werden heute versuchen, die Einheitsfront durch Enthüllungen gegen die Kommunisten zu sabotieren, und sie werden morgen genötigt sein, mit den Zähnen knirschend sich an einen Tisch mit uns zu setzen. Sie werden übermorgen von diesem Tisch weggehen, der Arbeiterklasse in den Rücken fallen, um dann wieder, geängstigt durch die Folgen ihrer Politik, genötigt zu sein, wieder mit uns ein Stück Weges zusammenzugehen. Ob sie der proletarischen Einheitsfront zustimmen, ob sie als Lakaien der Bourgeoisie diese Einheitsfront verraten werden, jeder ihrer Schritte wird bei einer klaren unzweideutigen Haltung der kommunistischen Parteien, bei ihrem ehrlichen Kampfe um die Einheitsfront zu unseren Gunsten ausschlagen. In diesem Hin und Wider der sozialdemokratischen Parteien und ihrer Führer werden die hinter ihnen stehenden Arbeiter immer klarer ihre Politik verstehen lernen, und sie werden immer entschiedener genötigt sein, einzusehen, dass nur der Kommunismus der Leitstern ihres Kampfes sein kann. Das Herantreten an die Führer der sozialdemokratischen Parteien mit dem Vorschlag des gemeinsamen Kampfes um die gemeinsamen Interessen des Proletariats bedeutet nicht nur kein Zurückweichen, sondern umgekehrt, er bereitet dem Wachstum des Kommunismus, der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse für seine Ideen den Weg.

Die Führer der sozialdemokratischen Parteien beantworten solche eindeutigen Erklärungen unsererseits mit der Behauptung: Für die Kommunisten ist die Forderung der Einheitsfront ein rein taktisches Manöver. Sie wollen keinesfalls eine Einheitsfront. Sie sind nur bestrebt, Parteiinteressen zu schinden. Wir antworten darauf ruhig: Nun, durchkreuzt doch unsere Manöver, kämpft doch ehrlich um die Interessen der Arbeiterklasse! Wenn ihr mit der Vergangenheit brecht, wenn ihr ehrlich um die Interessen der Arbeiterklasse kämpft, dann werdet nicht nur Ihr als Partei durch unsere Manöver nichts verlieren, sondern dann wird der Weg gebahnt zur zukünftigen Einigung des Proletariats. Die das Proletariat spaltenden Meinungsunterschiede, sie sind nichts anderes als das Resultat des Verzichtes der sozialdemokratischen Parteien auf jeden Kampf um die Interessen des Proletariats. Wenn das Proletariat sich im Kampfe gegen die Bourgeoisie einigt, so wird es sich auch eine einheitliche Auffassung des Weges bilden, die die Grundlage seiner zukünftigen Einigung sein wird. Es hängt von den sozialdemokratischen Parteien und ihren Führern ab, ob sie in der Einheitsfront des Proletariats untergehen oder ob sie in sie eingehen werden als ihr wesentlicher Bestandteil.

Die Kommunistische Internationale hat der Initiative der 2½ Internationale nach Einberufung einer internationalen Arbeiterkonferenz zugestimmt und vorgeschlagen, diese Konferenz während der Genua-Konferenz mit Vertretern aller Staaten stattfinden zu lassen. Die Parteien der Zweiten Internationale suchen diese Konferenz zu sprengen, indem sie als Gegenleistung für die Teilnahme an der Konferenz von der Sowjetregierung fordern, sie solle auf den Kampf gegen die angeblich sozialistischen Parteien der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre verzichten, die sie zu stürzen suchen. Die Kommunistische Internationale wird verstehen, den Proletariern den Unterschied klar zu machen zwischen der Einigung zum Zwecke des Kampfes gegen das internationale Kapital mit Zugeständnissen an jene, die in Russland die Losung der Einigung ausnützen wollen, um für sich Freiheit zu erlangen zwecks Schwächung der einzigen revolutionären staatlichen Macht, die in Europa den Kampf gegen den Kapitalismus führt. Wenn es ihnen gelingt, die Konferenz zu sabotieren, so werden sie dadurch dem internationalen Proletariat einen großen Schaden zufügen, aber sie werden nicht imstande sein, sein Bestreben nach der Aufrichtung der Einheitsfront zu lähmen. Dieses Bestreben wird sich dann offen und klar von vornherein gegen sie wenden, und sie werden als Leichname aus dem Wege des kämpfenden Proletariats geräumt werden.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008