Victor Serge

 

Zum Tode Iwan Nikitsch Smirnows

(1936)


Zuerst veröffentlicht in La Wallonie, 29. August 1936.
Nachgedruckt in Victor Serge, Seize fusillés à Moscou: Où va la révolution russe, Paris 1936.
Victor Serge, Die sechzehn Erschossenen, Frankfurt/M. 1977, S.57-60.
Übersetzung: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich unendlich bedrückt – als wäre mein Herz von schweren Stiefeln willkürlich zertrampelt worden – angesichts des frischen Grabes, in dem die sechzehn durchlöcherten Köpfe liegen: ein Trio von Polizeispitzeln und eine ganze Mannschaft alter Revolutionäre, Lenins Freunde und Kameraden. Mehrere der Erschossenen von Moskau kannte ich ziemlich gut. Eines Tages wird man die Hintergründe ihrer Exekution durchschauen, und die Menschen werden darüber entsetzt sein, daß man so weit gehen konnte, so tief hinabsinken konnte aus Angst und Haß gegen politische Gegner, die kurz zuvor noch Genossen waren. Unter diesen Männern ist einer, der aufgrund seiner uneingeschränkten Bescheidenheit im Westen kaum bekannt ist, der aber für die Generation der Oktoberrevolution zugleich ein Symbol und ein Vorbild war. Mit seinem ruhigen Heldenmut ging er in die Geschichte ein, er war ein Feind großer Worte und hatte nur ein Ziel: der Arbeiterklasse zu dienen: Iwan Nikitsch Smirnow.

Groß, mager, blond, mit eher kleinem Kopf, feinen, fast unscheinbaren Zügen, nachlässigem Schnurrbart, kurzen, weichen Haaren, schiefsitzendem Kneifer; ein lächelnder Blick aus grauen Augen, der sehr bald das alte, voller Illusionen über das Leben steckende Kind in diesem alternden Mann erkennen läßt; er war stets gut gelaunt, eine Art trauriger Fröhlichkeit überfiel ihn in schlimmen Augenblicken, wenn er seine langen Hände über den Knien zusammenfaltete und ins Leere starrte. Sein Gesicht alterte in solchen Momenten schlagartig. Aber Iwan Nikitsch schüttelte die Traurigkeit ab, richtete die Schultern ein wenig auf, schaute dir mit seinem klaren, sanften Blick in die Augen und überzeugte dich mit einem unwiderlegbaren Argument, „daß die Revolution von oben und von unten gemacht wird, ganz sicher; die Hauptsache dabei ist durchzuhalten; wir halten schon recht lange durch, nicht wahr?“ Durchhalten hieß für ihn: dienen, sich ganz und völlig selbstlos geben.

 

 

Einer der Gründer der Bolschewistischen Partei

Ich weiß nicht genau, welchen Weg dieser ehemalige Arbeiter und Mitbegründer der bolschewistischen Partei in den Gefängnissen des Ancien-Régime ging. Als im Jahre 1918 unvorbereitet eine Rote Armee gebildet werden mußte, um den Bürgerkrieg zu machen und Widerstand gegen die tschechische Intervention zu leisten, zog Iwan Nikitsch, der noch nie in seinem Leben eine Waffe getragen hatte, die schwarze Lederjacke an, befestigte einen Nagan-Revolver an seinem Gürtel und bestieg mit Trotzki den Zug nach Kasan. Die Weißen hatten gerade die Stadt eingenommen, die Front war durchbrochen, die ersten roten Truppen wurden von den unerschrockenen Offizierskorps in die Flucht geschlagen, Panik und Durcheinander wurden immer größer, es fehlte an allem, die Republik schien dem Tode geweiht.

Moskau füllte diese Lücke, diese tödliche Seitenwunde der Revolution mit einem Zug Freiwilliger auf, unter denen sich die besten Kämpfer befanden. Sie kamen gerade während der Flucht an, ließen sich den Rückzug abschneiden, um zu zeigen, daß sie nicht zurückweichen würden, und auf dem kleinen Bahnhof von Swiajsk in der Nähe von Kasan, lieferten sie dem Stoßtrupp von Kapelle eine Schlacht. Der Stab der Roten Armee stand mitsamt seinen Sekretärinnen, Ordonanzen, Köchen und dem ganzen nicht-kämpfenden Personal 24 Stunden lang unter Beschuß. Trotzki hatte die Lokomotive des Zuges zurückgeschickt: wir werden nicht umkehren, darüber darf kein Zweifel bestehen. Larissa Reissner, die auch mitkämpfte und vor Anmut und Leidenschaft glühte, hat uns einige schöne Zeilen über diesen Zwischenfall hinterlassen. „Iwan Nikitsch Smirnow“, so schreibt sie, „war das kommunistische Gewissen Swiajsk. Selbst die parteilosen Soldaten und die Jungen erkannten ihn aufgrund seiner absoluten Korrektheit und Rechtschaffenheit sofort an ...

Er wußte sicher nicht, wie gefürchtet er war, wie sehr man fürchtete, feige und schwach vor ihm zu stehen, ausgerechnet vor ihm, diesem Mann, der niemals die Stimme erhob, der sich darauf beschränkte, er selbst zu sein. Ruhig und tapfer ...“ – „Man spürte, daß er in den schlimmsten Augenblicken nicht schwach werden würde. Neben einem Smirnow würde man im schmutzigen Keller eines Gefängnisses an die Mauer stehend, beim Verhör durch die Weißen selber ruhig sein, klar denken. Mit leiser Stimme sagten wir uns das, als wir in diesen zusammengekauert lagen ...“ Swiajsk bleibt ein bedeutsames Datum in der Geschichte der Räterepublik: dort wurde die Revolution im Jahre 1918 von einer Handvoll Männer gerettet, zu deren Führern Iwan Nikitsch gehörte.

 

 

Der Friedensstifter Sibiriens

Als die sibirischen Bauern, die Partisanenkommandos gebildet hatten, die Situation für den Admiral Koltschak im Jahre 1918 untragbar machten, wurde Iwan Nikitsch auf Empfehlung Lenins die Aufgabe anvertraut, Sibirien zu sowjetisieren und dort den Frieden wiederherzustellen. Smirnow wurde Vorsitzender des Revolutionskomitees Sibiriens, Smirnow gründete die Republik des Fernen Ostens, einen provisorischen Pufferstaat, der es den Sowjets ermöglichte, einen Krieg mit Japan zu verhindern. Ihm ist es zu verdanken, daß die Sowjetisierung Nordasisens, wo die Weißen oft eine abscheuliche Grausamkeit zeigten, nahezu ohne Repressalien vor sich ging.

Seit 1923 gehört Iwan Nikitsch der Opposition an, die auf Parteiebene Meinungs- und Redefreiheit für die Revolutionäre, auf Landesebene die Einführung einer Arbeiterdemokratie und den Kampf gegen die zunehmende und immer willkürlicher werdende Macht der Bürokratie fordert. Zu der Zeit, als er aus der Partei ausgestoßen wird, 1927, ist er Volkskommissar für Post und Telegraphenwesen. Nach seinem Parteiausschluß überläßt Smirnow sein Ministerportefeuille dem von der Partei ernannten Nachfolger; er besitzt keinen Pfennig mehr. Ein Angestellter des Moskauer Arbeitsamtes, der Registrierstelle für Arbeitslose, sieht vor seinem Schalter einen alten Mann stehen, mit einem Kneifer auf der Nase, der sich als guter Feinmechaniker vorstellt und in einer der Fabriken Arbeit sucht, in denen, wie er aus sicherer Quelle weiß, Mangel an qualifizierten Kräften besteht. Der Angestellte füllt ein Formular aus. „Letzte ausgeführte Tätigkeit?“ fragt er den Arbeitslosen. „Volkskommissar für Post und Telegraphenwesen ...“

Das Zentralkomitee verweigert Iwan Nikitsch die Stelle in der Fabrik. Er wird nach Sibirien deportiert, jenes Sibirien, an dessen Eroberung für die Revolution er maßgebend beteiligt war. Die Deportation bedeutete für ihn mehr als Gefangenschaft, nämlich Untätigkeit. Um wieder nützlich zu werden und arbeiten zu können, kapitulierte Iwan Nikitsch – wie man es ausdrückt – leistete öffentlich vor Stalin Abbitte, leugnete – verächtlich, wie sonst? – seine Überzeugung als Oppositioneller, bat zu dienen. „Unsere Meinungsverschiedenheiten“, sagte er einmal unter Freunden, „sind schwerwiegend und tief reichend; aber das wichtigste ist, neue Fabriken zu bauen und funktionsfähig zu machen ...“ Man übergab ihm die Leitung neuer Automobilfabriken in Nischnij-Nowgorod. Dort wurde er im Dezember 1932 wegen „Verdacht“ der Ketzerei verhaftet. Gewiß, er dachte, sah, urteilte; gewiß, sein Schweigen bedeutete nicht Zustimmung. Das Gewissen läßt sich nicht verleugnen (man hat manches Mal vergeblich Gewalt gegen ihn angewendet ...). Um ihn erschließen zu können, wollte man ihm ich weiß nicht welche Verantwortung an der Ermordung Kirows aufbürden. Aber an dem Tag, als Kirow starb, lebte Nikitsch schon seit zwei Jahren in einer Zelle des Gefängnisses von Susdal!

Während in Spanien ein General Franco mit aller Macht versucht, den spanischen Arbeiterstaat niederzuschlagen, fließt das Blut jener Männer in Strömen, das Blut der Gründer der UdSSR, welche seltsame, welche entsetzliche Verirrung!

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003