Victor Serge

 

Tuchatschewski

(1937)


Zuerst veröffentlicht in La Wallonie, 26. Juni 1937.
Aus Victor Serge, Die sechzehn Erschossenen, Frankfurt/M. 1977, S.60-63.
Übersetzung: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Affäre Tuchatschewski hat in der Presse eine viel realere Aufregung hervorgerufen als die kürzlich erfolgten Exekutionen der alten Bolschewiken.

Die bürgerliche Meinung findet es ganz natürlich, daß die Kämpfer der Oktoberrevolution unter diesem oder jenem Vorwand erschossen werden; aber daß man das Oberkommando der Armee eines der mächtigsten Staaten angreift, beunruhigt und besorgt sie, und wir verstehen das sehr gut ...

In Wirklichkeit wird die Rote Armee mit der Exekution des Marschall Tuchatschewski und sieben weiteren Generälen der Roten Armee, die alle zu den wahren Helden des Bürgerkrieges zählen – das heißt des sozialen Befreiungskrieges des russischen Volkes – enthauptet. Es erfordert langjährige Untersuchungen, Arbeit und Auswahl der Kader, um ein Oberkommando der Armee zu bilden. Und jenes, das nun durch die Revolverschüsse anonymer Scharfrichter in den Kellern Moskaus ausgelöscht wurde, war aus den großartigen, heldenhaften Schulen von 1914-21 hervorgegangen. Nur die UdSSR verfügte über junge Generäle, die in diesen Schmelztiegeln zur Aktion ausgebildet worden waren.

Ein weiteres schwerwiegendes Faktum: Die acht erschossenen Militärchefs und ihr Kamerad Jan Gamarnik, der sich einige Tage zuvor das Leben genommen oder hatte nehmen lassen, um sich nicht der Polizei zu ergeben, hatten 15 Jahre lang tausende von Offizieren unterrichtet, ausgebildet, ausgewählt und befehligt; und da diese Offiziere zumindest in ihrem Innersten weder an die Ungeheuerlichkeit der offiziellen Anschuldigungen glauben, noch die geheimnisvolle Exekution ihrer Vorgesetzten billigen können, sind sie ebenfalls verdächtig geworden und müssen auf diese oder jene Weise von den Vertrauens- und Kommandoposten entfernt werden, auch wenn sie nur eine untergeordnete Stellung einnehmen. Wer die heutigen russischen Gewohnheiten kennt, weiß, daß der Sturz einer bedeutenden Persönlichkeit immer die Eliminierung des gesamten öffentlichen Lebens in seiner Umgebung bis hin zu den unwiditigsten Mitarbeitern nach sich zieht.

Wie soll man also die Situation des Marschall Woroschilow, Volkskommissar für Nationale Verteidigung einschätzen? Sei es, daß seine intimsten Mitarbeiter Verräter waren, oder daß er sie aus irgendwelchen obskuren politischen Gründen als Unschuldige hat opfern lassen, in keinem Fall verdient er noch das absolute Vertrauen, das sein Amt erfordert.

Die gegen Marschall Tuchatschewski und die sieben anderen Erschossenen vorgebrachte Beschuldigung des Verrats zugunsten Deutschlands hält keiner Kritik stand; das muß festgestellt werden. Alle informierten Beobachter sind sich in diesem Punkt einig. Es handelt sich um eine Schein-Anklage, mit der vor der ausländischen Offentlichkeit die Exekutionen gerechtfertigt werden sollen, die für den Chef aus ganz anderen Gründen unerläßlich geworden sind. In Wirklichkeit waren diese Generäle der Roten Armee im Kampf gegen Deutschland ausgebildet worden; ihr Denken war für alle Zeiten vom Bolschewismus der ersten Stunde geprägt, der mit keinem faschistischen System paktieren würde. Die italienische Presse bemerkte mit Recht, daß der Tod dieser Männer, der die Entwicklung des Landes in Richtung auf ein totalitäres Regime verstärkt, bald neue Beziehungen zwischen Hitler, Mussolini und Stalin, den „drei aus dem Volke hervorgegangenen und vom Volke gestützten Diktatoren“ erleichtern könnte. Die Temps vom 16. Juni druckte zu diesem Thema einen äußerst interessanten Brief aus Rom ab.

Versuchen wir nun zum besseren Verständnis die Folge der Ereignisse darzulegen. Wir werden sehen, wie das schreckliche Räderwerk in Gang gebracht wurde, das nicht aufhörte, die besten Kämpfer der Russischen Revolution zu zermalmen. Im August 1936 endete der Prozeß Sinowjew, Kamenjew, Iwan Smirnow mit der Erschießung mehrerer Kameraden Lenins. Der Diktator hat die wichtigste Reservemannschaft ausgeschaltet, die fähig gewesen wäre, gegebenenfalls eine neue sowjetische Regierung zu bilden. Aber dabei wurden alle alten Bolschewiken zu lästigen Zeugen. Man verhaftete sie zu Tausenden, und der Prozeß Pjatakow–Serebrjakow–Nuralow–Radek führt zu erneuten Exekutionen alter Mitglieder des Zentralkomitees Lenins.

Einige Monate vergehen, man erfährt von der Verhaftung des Polizeiministers Jagoda, Volkskommissar für das Innere. Er war es, der auf Anordnung des Politbüros die letzten Prozesse angestrengt hatte. Seine ganze Umgebung verschwindet mit ihm. Ich wette 100 gegen 1, daß die Untersuchungsrichtter der GPU, die die Akten für die Prozesse Sinowjew und Pjatakow vorbereitet haben, nicht mehr am Leben sind. Damit ist es unmöglich geworden, die wahren Hintergründe dieser Prozesse aufzudecken. Jagoda, der über zu große Staatsgeheimnisse informiert war, mußte verschwinden.

Aber die GPU, die er leitete, steht in enger Verbindung mit dem ideologischen Schulungsdienst der Armee, an dessen Spitze der alte weißrussische Bolschewik Jan Gamarnik stand. Unmöglich, Jagoda auszuschalten, ohne auch Gamarnik zu erfassen. Man zögert dennoch, denn Gamarnik abzusetzen (und zu verhaften und natürlich zu erschießen), bedeutet notwendigerweise, den gesamten ideologischen Schulungsdienst der Armee, diesen riesigen Polizei- und Zuchtapparat, den er seit Jahren verwaltet und der eine enorme Bedeutung hat, zu zerschlagen. Trotzdem unmöglich, es zu verhindern; denn Gamarnik durchschaut die Hintergründe der Affäre Jagoda, und der einzige potentielle Rivale des Chefs bleibt der Volkskommissar für Nationale Verteidigung, der das Ansehen der Armee und die Treue seiner Kader besitzt. Indem man seine Mitarbeiter schlägt, wird man auch ihn bezwingen. Gamarnik begeht Selbstmord (oder läßt sich während seiner Verhaftung töten, so lautet eine ernstzunehmende Version), und zwar zwei Tage, nachdem man ihm einen bedeutenden Vertrauensbeweis entgegengebracht hatte: man hatte ihn soeben ins Moskauer Parteikomitee gewählt.

Die gegen ihn unternommene Operation hat zwei Konsequenzen: Die gesamte Regierung der Weißrussischen Sowjetrepublik, die sich aus seinen alten Freunden und Kameraden zusammensetzt, muß des Hochverrats beschuldigt werden. Der Präsident dieser Republik Tcherwjakow, einer der sechs Präsidenten der UdSSR, begeht Mitte Juni Selbstmord. - Bereits vorher war das gesamte Oberkommando der Armee plötzlich umgebildet, abgesetzt und verhaftet worden. Außer den 8 Erschossenen wurden plötzlich mehrere Armeechefs wie Lewandoski und Muklewitsch abgesetzt, kurz darauf verschwinden sie.

In der gegenwärtigen Atmosphäre der UdSSR sind Verschwörungen im wahren Sinne des Wortes unmöglich. Wenn einige der Erschossenen vor mehr oder weniger langer Zeit Verbindungen zum deutschen Generalstab hatten, dann geschah dies nicht aus einer deutschfreundlichen Gesinnung heraus, sondern auf Befehl des Politbüros, also auf Befehl Stalins; ebenso wie Jagoda die Prozesse gegen die alten Bolschewiken nur auf Befehl eingeleitet hat.

Jegliche Autorität ist in den Händen des Politbüros konzentriert, dem es seit langer Zeit praktisch unmöglich geworden ist, Gehorsam zu verweigern.

Was ist also geschehen? Faktisch wahrscheinlich nichts. Aber das Oberkommando, das aus den Kämpfern der ausgelöschten Generation von 1917-21 bestand, mußte dem Chef gegenüber äußerst feindlich gesonnen sein. Das genügte, um es zu vernichten.

Es hat mit Sicherheit keinen Prozeß gegeben, auch nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Alle Nachforschungen lassen darauf schließen. Die russische Tragödie geht unerbittlich weiter ...

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003