Victor Serge

 

Der stalinistische Imperialismus

(1944)


Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.36-41.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Der Determinismus der sowjetischen Politik

Ich werde in diesem Artikel versuchen, kurz die Motive für Stalins Kriegspolitik zu analysieren, die vielen Beobachtern so obskur erschien, aber in Wirklichkeit völlig offensichtlich ist. Seit die Sowjetrepublik in den Jahren 1927-30 ein totalitärer Staat geworden ist, versetzte eine große Folge politischer Fehler, die auf eben dieser Veränderung beruhten, den neuen Absolutismus ständig in Lebensgefahr. Der erste Fünfjahresplan der Industrialisierung wurde plötzlich dadurch verfälscht, daß die Bürokratie vor die Notwendigkeit gestellt war, entweder abzudanken und die Macht den oppositionellen Gruppen (die mehr oder weniger demokratische Tendenzen aufwiesen) zu übergeben oder den Bauern den ökonomischen Krieg zu erklären. Der Wille, die Macht zu behalten, veranlaßte die führende Gruppe zur zweiten Lösung; sie ließ Millionen von Bauern deportieren, verurteilte viele werktätige (Bauern, Arbeiter, Techniker) zum Tode, ordnete die totale Kollektivierung der Landwirtschaft und dann die Entchristianisierung an, um den Bauern ihren letzten Halt, die religiöse Organisation zu nehmen und stürzte das Land in eine schreckliche Hungersnot. Gerade in den Jahren 1930-34 fürchtete die erschöpfte, ausgehungerte und sozial gespaltene UdSSR Angriffe von Seiten des Auslands: in Deutschland stieg der Nazismus auf und in Japan die militärische Kaste. Der Industrialisierungsplan, der innerhalb von 5 Jahren ein Ansteigen der Reallöhne und der Konsumrate um 72% vorsah, wurde in allgemeiner Armut mit den niedrigsten Löhnen in Europa erfüllt und wurde zu einem Plan der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung.

Die Führer der totalen Bürokratie, primitive Marxisten, denen es völlig an Idealismus und Skrupeln fehlte – und gerade darin übten sie den größten Verrat am rationalen Humanismus von Marx – teilten niemals die Illusionen eines Chamberlain. Sie sahen ein, daß die Krise des europäischen Kapitalismus unausweichlich zum Weltkrieg führte, und da es ihnen ihre Situation als Regierende, die gezwungen waren, ständig Terror gegen die Arbeiter auszuüben und ihnen die geringste Meinungsfreiheit zu verweigern, unmöglich machte, auf die Unterstützung der Mehrheit der Arbeiterklasse zu zählen und sie zu Furcht – und Verachtung – gegenüber den sozialistischen Bewegungen veranlaßte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als eine Ausgleichspolitik mit den Großmächten zu praktizieren, indem sie versuchten, sich angesichts des kommenden Konflikts auf die Seite des stärksten zu stellen. Solange das III. Reich schwach war, beteiligte sich die UdSSR an der Politik des Völkerbundes und der demokratischen Bündnisse. Von dem Augenblick an, wo die Achse Berlin-Rom mit dem deutsch-italienischen Sieg in Spanien unter dem Banner Francos bewies, daß sie die strategische Übermacht in Europa hatte, eröffnete Stalin vertrauliche Verhandlungen mit Hitler, die etwa zur Zeit des Zusammenbruchs Barcelonas – oder schon vorher – einsetzten. [1]

Der Pakt Ribbentrop-Molotov (Moskau 1939), der anläßlich der Teilung Polens geschlossen wurde, war das Ergebnis dieser neuen Orientierung, die ohne Illusionen eingeschlagen worden war. Stalin stellte sich auf die Seite des Stärksten, den er unendlich fürchtete, um wenigstens Zeit zu gewinnen, um sich das kapitalistische Europa im Krieg verausgaben zu lassen und, wenn es nötig sein würde, später umso mehr mit dem Sieger zusammenzuarbeiten.

Aber seine Vorsichtsmaßnahmen traf er in den Baltischen Ländern. Hitler war es, der den Pakt aus gründen, die wir hier nicht untersuchen werden, brach. Die schwachsinnige Verachtung für den „Bolschewismus“ und die Slawen veranlaßte den Führer an jenem Tag, einen Fehler zu begehen, der einem Selbstmord gleichkam.

Das stalinistische Regime war nur in einer Hinsicht auf den Krieg vorbereitet; durch den weitreichenden, blutigen Staatsstreich der Säuberungsaktion und die Schauprozesse hatte es alle politischen Ersatzmannschaften, alle Menschen, die fähig gewesen wären, die Frage nach der Verantwortlichkeit zu stellen, alle Menschen, die fähig gewesen wären, die konfusen demokratischen und sozialistischen Bestrebungen des Landes zu verteidigen, ausgeschaltet. In diesem Sinne hat Joseph E. Davies recht: dank der fast vollständigen Ermordung der alten bolschewistischen Generation konnte sich der Totalitarismus in Rußland selbst unter dem Schock einer Invasion, wie Rußland sie seit Dschingis-Khan nicht mehr erlebt hatte, halten. (Es ist bekannt, daß am Vorabend der Schlacht von Moskau, Ende 1941, einige hohe Funktionäre die Kapitulation vorgeschlagen haben, um das Regime zu retten; Stalin ließ sie erschießen – nach einem Augenblick des Zögerns (in London veröffentlicht). Der großartige Widerstand der Roten Armee und der Partisanen zeigt jedoch erstens welche unendlichen Energiereserven das russische Volk, das sein Land und sein Leben verteidigte, besitzt; zweitens welche hervorragenden Kampffähigkeit der totalitäre Apparat besitzt. Entgegen den Vorhersagen aller informierter Beobachter hat sich das totalitäre Regime trotz der Invasion und der unvorstellbaren Leiden, denen die Massen ausgesetzt waren, trotz seiner eigenen katastrophalen Fehler gehalten, und zwar ohne den sowjetischen Völkern das geringste ökonomische oder politische Zugeständnis zu machen. Nur in einem Punkt hat es nachgegeben: die Wiedereinführung der religiösen Freiheit. Die kürzlich erfolgte Proklamation der diplomatischen „Autonomie“ der föderativen Republiken der UdSSR bescheinigt, daß die Kommunistische Einheitspartei die nationalen Regierungen des Kaukasus und Zentralasiens so gut in der Hand hat, daß sie glaubt, sie auch auf diese unamtliche Art und Weise nach ihrem Willen lenken zu können.

Wir wissen sehr wenig über das tägliche Leben in der UdSSR, aber das wenige, was wir wissen, zeigt ein starres, auf seinem gewohnten weg beharrendes System. Für das Sinken der Reallöhne, die ungleiche Rationierung und die durch die Kriegsindustrie verursachte Überlastung fand man keine anderen Lösungen als die Hierarchisierung der Lohnabhängigen, Disziplin, Repression und Propaganda. Die Todesstrafe wird weiterhin nach geheimen Verurteilungen ausgeführt. Millionen von Deportierten, die von der GPU kontrolliert werden, bevölkern die abgelegenen Gebiete. Die Kolchosen stehen weiterhin unter der Führung der Zentralbüros ... Der schlechte Zustand des Transportwesens hätte, so scheint es, die Rückkehr zu einer gewissen lokalen Autonomie erleichtern müssen; kein Anzeichen bestätigt uns in dieser Ansicht. Die absolutistische Macht hat nur im ideologischen Bereich große Veränderungen vorgenommen. Die offizielle Presse – eine andere gibt es nicht – ist erstaunlich leblos: keine Ideen, keine wirkliche Information, aber Listen von dekorierten Helden und Schmeicheleien für den „genialen Chef“ (immerhin weniger als in Friedenszeiten ...). Ich habe hier Veröffentlichungen aus Moskau vor mir, in denen man die Wörter Proletariat, Revolution, Kommunismus, Sozialismus, Internationalismus, Solidarität vergeblich suchen würde; diese Wörter gehören einem Vokabular aus vergangenen Zeiten an. Die gegenwärtige Ideologie ist die Ideologie eines nationalen Krieges, der mit der Weiterentwicklung des Panslawismus zu einem „Rassenkrieg“ wird, sowie die Ideologie eines Krieges, der nicht der sozialen Transformation, sondern der sozialen Konservation dient, wie es vor 2 Jahren in einer offiziellen Agitationsschrift hieß: es geht darum, das Erzielte zu verteidigen und zu erhalten und nicht darum, weiterzukommen ... Die Tatsache, daß von der europäischen Zivilisation ohne eine tiefgreifende soziale Veränderung nichts wirklich gerettet werken kann, widerstrebt einem Regime, dessen Innen- und Außenpolitik allein vom Erhaltungstrieb bestimmt ist.

Wir werden sehen, wohin die Überlebensangst die Politik dieses totalitären Staates treibt.

 

 

Es geht um die soziale Ordnung Europas

Im inneren trat der „geniale Chef“ seit dem ende der großen Hungersnot (1936) als „Organisator des glücklichen Lebens“ auf. 1937 „rettete er die UdSSR vor den Anschlägen des Weltimperialismus“, indem er Lenins Kameraden im Namen des wahren Leninismus erschießen ließ. Zu Beginn des Krieges, als er de facto mit Hitler verbündet war, war er der Mann der „Friedenspolitik“ ... Vom „glücklichen Leben“ bleibt nichts als Schweiß, Blut und Tränen übrig; die Verwüstung und die Invasion haben gezeigt, wie sehr die UdSSR sich selbst geschwächt hatte, indem sie ihre militärischen, politischen, intellektuellen und kulturellen Kader am Vorabend des Weltbrandes vernichtete. Von der „Friedenspolitik“ redet man besser erst gar nicht ... Für den Leser amerikanischer Zeitungen mag Stalin, der Sieger von Stalingrad, ein großer General und Staatsmann sein; für den Sowjetbürger lastet eine Bürde apokalyptischer Verantwortungen auf dem Chef, der sich durch seine außergewöhnliche Fähigkeit, Katastrophen herbeizuführen und sie zu überleben, auszeichnet ... (Etwa 20 Millionen Sowjetbürger haben die gegenwärtige Katastrophe nicht überlebt ...). Die wichtigste Tatsache dabei ist, daß aus dem höllischen Schmelztiegel des Krieges eine starke Generation neuer Männer, neuer Kader hervorgegangen ist, die fähig sind, Ersatzmannschaften für die Regierung und sogar für eine Änderung des Regimes zu bilden. Fähige Generäle, Partisanenführer, Industriekader, Bauern, die ihren Boden hartnäckig verteidigen und fruchtbar machen, haben sich zu Tausenden gebildet, sie stellen eine neue Elite dar, die die zwischen 1936 und 38 vernichtete revolutionäre Elite ablöste. Und diese neue Elite kann man nicht zerstören; es ist wahrscheinlich, daß sich die jungen Generäle, die im Feuer gestählt wurden und die Säuberungen überlebten (mehrere waren selbst in Konzentrationslagern und sind der Exekution gerade noch entkommen) nicht widerstandslos erschießen lassen würden wie damals die ergebenen, alternden und überraschten Tuchatschewskis und Mratschkowskis. Gegen Ende des Krieges oder schon vorher wird das Politbüro tief verelendeten – im materiellen Sinn des Wortes – abgekämpften und von einer energischen Elite angefeuerten Massen gegenüberstehen. Das allgemeine Elend wird zu groß sein, als daß die Spaltung der Bevölkerung in Privilegierte und Benachteiligte eine Lösung sein könnte. Das Regime wird nur überdauern können, indem es eine Politik der Erleichterung und das Ende des Belagerungszustandes betreibt. Hierfür muß es versuchen unmittelbare materielle Verbesserungen zu verwirklichen und für eine genügende Spannung in der Außenpolitik sorgen, um den Begriff der nationalen Gefahr ausnutzen zu können. Was die revolutionären Umstürze betrifft, die auf dem ganzen europäischen Kontinent fast mit Sicherheit eintreten werden, so muß sich das Regime gegen deren Einflüsse wappnen, die in der UdSSR einen günstigen Boden vorfinden würden. Von daher ist es notwendig, um die UdSSR eine Zone sozialer Sicherheit zu errichten und die betroffenen Staaten zu kontrollieren (Finnland, Polen, Tschechoslowakei, Balkanländer). Der Wiederaufbau der UdSSR kann den Bevölkerungen nur dann unmittelbare und sofortige Erleichterung verschaffen, wenn er mit der Unterstützung der ausländischen Industrien vorgenommen wird, sich dabei aber weitgehend der Kontrolle dieser Industrien entzieht, die versuchen könnten, ihre Bedingungen zu stellen. Allein die Existenz dieses totalitären Regimes schließt offensichtlich die wünschenswerteste Hypothese aus, nämlich den allgemeinen und geplanten Wiederaufbau ganz Europas durch verbündete Arbeiterdemokratien. (Die polnischen Sozialisten haben bisher als einzige daran gedacht, und man weiß, wie die totalitären Kommunisten ihnen gegenüber verhalten.) Nur die Beherrschung der Industrien in Mitteleuropa, d.h. in den germanischen Ländern und in der Tschechoslowakei wurde es dem Regime ermöglichen, die Bevölkerungen unter großer Spannung und großer Kontrolle zu halten und ihnen gleichzeitig kurzfristige materielle Vorteile zu verschaffen. Genau dieses ziel wird unaufhörlich verfolgt. Eine Beherrschung durch Mittelspersonen, mit scheinbar „demokratischen“, „Volks-“ und gar „sozialistischen“ Republiken ist leicht vorstellbar ... In allen Fällen müssen drei Klippen überwunden werden, und man ist bereits damit beschäftigt: Der anglo-amerikanische Einfluß muß sowohl in seinen konvervativen als auch in seinen befreienden Eigenschaften bekämpft werden; der traditionelle Kapitalismus kann weder erhalten noch wiederhergestellt werden; die sozialistische Revolution muß unterbunden oder kanalisiert und als solche unkenntlich gemacht werden. Die Arbeit, die diese vielfältigen Notwendigkeiten erfordern, ist schwierig und impliziert scheinbar widersprüchliche Aktionen. Es geht darum, die demokratischen Bestrebungen auszunutzen, indem man die Demokratie verfälscht; einen gewissen organisierten Kapitalismus zu erhalten, indem man ihn sich unterordnet; den Massen viel zu versprechen, indem man ihnen Hoffnungen macht, um sie von unabhängigen Aktionen und revolutionären Initiativen abzuhalten.

Im Hinblick auf die europäische Wirtschaft scheint diese Gesamtkonzeption in tragischer Weise einfach zu sein. Das totalitäre stalinistische System ist nicht mit den verschiedenen sozialen Organisationen, die ihm nahestehen würden und in denen der Mensch über größeren materiellen Wohlstand und über mehr Freiheit verfügen würde, vereinbar. Diese explosive Nachbarschaft muß um jeden Preis verhindert werden. Man sieht, daß bei all dem die „Verwirklichung der jahrhundertealten Bestrebungen des Zarenreiches“ sehr wenig zählt. Es geht aus anderen gründen, die ebenfalls sehr tief liegen, um die soziale Ordnung im Europa von morgen. Ich habe die Probleme Asiens in diesen kurzen Aufsätzen nicht berührt. Sie sind äußerst komplex und werden uns noch große Überraschungen bereiten. Die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten politischer Veränderungen in der UdSSR selbst habe ich ebenfalls nicht berücksichtigt, obwohl das eine Frage von kapitaler Bedeutung ist. Ich habe mich darauf beschränkt, die Tatsachen und Kraftlinien, die heute herrschen, zu betrachten.

1944

 

Anmerkung

1. Zur Politik Stalins in Spanien vgl. v.a.: Broué/Témime: Krieg und Revolution in Spanien, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1968. S.81-85; 228-239; 284-295; 327-393; 459-489.

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003