Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Das heutige Bürgertum

Im heutigen Bürgertum durchschnittlichen Schlages ist das Interesse für religiöse Fragen wie für Religion überhaupt erkaltet, vielfach ganz auf den Nullpunkt gesunken. Das Geschäftsleben absorbiert mehr als je sein Handeln und Denken, und zum Ausfüllen der Muße mit allerlei weltlichen Beschäftigungen, Zerstreuungen und Sport gibt die moderne Entwicklung reichlich Gelegenheit, indes die Religion auf dem breiten Strom der Literatur haltlos dahintreibt. Um ihr aber entschlossen den Scheidebrief zu geben, dazu fehlt dem Bürgertum sowohl das Wissen wie die Kraft und der Mut. Inkonsequent schwankend zwischen Religion und Geistesfreiheit, unterhält der Bourgeois noch mancherlei Beziehungen zu ihr und bezeugt ihr seinen Respekt, namentlich soweit in höheren Gesellschaftskreisen und speziell an den Höfen die Kirchlichkeit noch zum guten Ton gehört. Er billigt oder duldet die Erziehung und den Unterricht der Jugend auch in Lehren, die er selbst als veraltet und abergläubisch abgestreift hat, in vermeintlich pädagogischem Interesse und darauf rechnend, daß sie im reiferen Alter dieselben gleichfalls abstreifen wird. Hauptsächlich aber wünscht er die Erhaltung der Religion für das Volk, zu dessen Zügelung und Eindämmung seiner Emanzipationsbestrebungen, und schätzt das Priestertum als Zuchtmeister und geistigen Gendarmen für die unteren Klassen, als Bändiger revolutionärer Instinkte.

Einen kleineren Teil des Bürgertums bilden jene Freidenker, die der Arbeiterbewegung meist gleichgültig oder feindlich gegenüberstehen, aber die Religion mitsamt dem Gottglauben ohne historisch-psychologisches Verständnis leidenschaftlich bekämpfen, als Wurzel der Hauptübel in Staat und Gesellschaft und im bornierten Geiste jener „Fanatiker des Unglaubens“, von denen Heine schrieb, sie hätten gern für Voltaire einen Scheiterhaufen errichtet, weil er im Herzen ein verstockter Theist geblieben.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008