Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Anpassungsfähigkeit des Monotheismus

Das psychologische Bedürfnis nach Personifikation der Schicksalsmächte bestand in allen Stadien der ökonomischen Entwicklung fort. Wie der Ackerbauer und Viehzüchter von allerlei Faktoren sich abhängig weiß, die er nicht beherrschen kann und deshalb an einen oder mehrere Götter glaubt, die er durch Frömmigkeit beeinflussen zu können vermeint, so der Handwerker von Aufträgen und Abnehmern seiner Produkte, der Handeltreibende bis zum modernen Kapitalisten von den unberechenbaren Schwankungen des Marktes im Ein- und Verkauf, von der Konjunktur und glücklichen Spekulation, und auch der Proletarier von der unsicheren Arbeitsgelegenheit und den Schwankungen der Lohnhöhe und Lebensmittelpreise. Der Monotheismus nun entsprach und entspricht diesem Personifikationsbedürfnis aller Wirtschaftsepochen und Gruppen. „In dieser bequemen, handlichen und allen anpaßbaren Gestalt kann“, wie Engels sagt, „die Religion fortbestehen als unmittelbare, d.h. gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehen“. Er kommt dann speziell auf die gegenwärtige Epoche und fährt fort: Obgleich die bürgerliche Ökonomie eine gewisse Einsicht in den ursächlichen Zusammenhang der von der bürgerlichen Gesellschaft selbst geschaffenen Mächte gestattet, so „kann sie doch weder die Krisen im ganzen verhindern, noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott, oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heißt noch immer: der Mensch denkt und Gott (d.h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt“. Das Verständnis allein der Mächte, wovon der Mensch abhängig ist, genügt nicht, sie zu unterwerfen; dazu gehört die Tat. Wie mancher moderne Mensch ist genau mit der Wissenschaft vom Wesen und den Ursachen einer Krankheit vertraut, woran er leidet, und betet dennoch zum Herrgott um Heilung.

Bei all seiner „Handlichkeit“ aber wurde der Monotheismus nicht recht wurzelkräftig und teils von Rückfällen in den einstigen Polytheismus getrübt (vgl. z.B. Heine „Die Götter im Exil“ und Scheffel „Ekkehard“, 9. Kapitel), teils von neuen verkappt polytheistischen Ranken umsponnen. Der Verstand wollte trotz aller spitzfindigen Rechtfertigungsversuche nicht begreifen, wie der als gerecht, gütig und allmächtig geschilderte und gepriesene Gott so viel Übel und Leiden in die von ihm geschaffene Welt bringen konnte und vollends, daß sehr häufig die Guten und Rechtschaffenen in schwerer Not und Elend leben und zugrunde gehen, ausgemachte Schurken dagegen in Glück und Glanz ihre Tage vollenden (das Buch Hiob, der 73. Psalm u.a.). Es wurde ihm daher eine Art Gegengott unter allerlei Namen gegenübergestellt: der Teufel.

Der Phantasie wollte die Vorstellung eines Gottes nicht behagen, der in erhabener Einsamkeit in seinem Himmel residiert (vgl. Schillers „Götter Griechenlands“, Goethes „Braut von Korinth“), sie bevölkerten diesen daher mit einem ganzen Hofstaat von Engeln und Erzengeln, denen wiederum eine Schar Dämonen als Gegengebilde entsprachen; außerdem gab sie dem Gottvater einen Gottsohn und dann noch eine Frau, Madonna, Gottesmutter zu Seite. [1] Das Gefühl endlich konnte nicht überall ein intimes Verhältnis zu dem Eingott gewinnen, wie in vielen lyrischen Gedichten (Psalmen und Kirchenliedern); vielmehr wie in Krankheiten an den Spezialisten, wendet man sich in allerlei Anliegen an besondere Heilige, denen ein bestimmtes Ressort zugewiesen ward. Was will „der alten Götter bunt Gewimmel“ bedeuten und gar das armselige Dutzend der Olympier gegen den Gestaltenreichtum des katholischen Himmels!



Anmerkungen des Verfassers

1. Wie wenig sich übrigens die Poesie über den Monotheismus zu beklagen hat, zeigen zahlreiche Partien der alten Literatur der Hebräer von der Größe, Macht und Pracht Jahves, wie sie sich in Natur, Geschichte und Menschenschicksal offenbart, was nur deshalb so wenig bekannt ist, weil noch so gute Übersetzungen den sprachlichen Glanz, Kraft und poetischen Duft des Originals kaum ahnen zu lassen imstande sind. Es sind Stellen, welche jenen hochberühmten homerischen Versen im 1. Gesang der „Ilias“ von Zeus, der mit dem Zwinkern seiner Brauen den gewaltigen Olymp erschüttert – die von den großen römischen Dichtern Horaz, Vergil, Ovid nachgeahmt wurde und wonach Phidias das „Weltwunder“, die kolossale Zeusstatue in Olympia, aus Elfenbein und Gold bildete – nicht nachstehen. Man denke auch an das prächtige, nach dem 104. Psalm gedichtete Kirchenlied „Herr, dir ist niemand zu vergleichen“.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008