Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Das Nationalgefühl

Wenn den Nationalen gar nichts mehr einfällt, so berufen sie sich auf das Nationalgefühl. Man beweise ihnen, daß die Gegensätze, die die Nation in verschiedene Klassen zerreißen, stärker sind als alle nationalen Gemeinsamkeiten, und sie werden sich hinter dem Nationalgefühl verschanzen. Genaueres über Inhalt und Funktion dieses Gefühls ist von ihnen allerdings nicht zu erfahren. Nach ihren Reden zu schließen ist es eine geheimnisvolle, mit dem plumpen Verstand nicht zu begreifende Kraft, die die Angehörigen einer Nation trotz allem, was sie auseinander und gegeneinander treibt, zusammenzwingt.

Das Argument vom Nationalgefühl ist allerdings schon in dem Augenblick widerlegt, in dem es notwendig wird. Muß ich mich gegenüber einem Volksgenossen, den ich für den Nationalismus gewinnen will, auf das Nationalgefühl berufen, so ist auch schon bewiesen, daß er entweder kein Nationalgefühl hat, oder daß es zu schwach ist, seine politische Haltung zu beeinflussen. Es geht mir in diesem Falle wie dem Pfaffen, der sich gegenüber dem Atheisten, dem gar kein Beweis vom Dasein Gottes imponiert, zuletzt auf die „unleugbare Tatsache“ beruft, daß jedem Menschen eine innere Stimme sagt: Es gibt einen Gott. Was gegenüber einem Menschen, der nun einmal so pervers ist, daß er nicht einmal national empfindet, der Hinweis auf das Nationalgefühl soll, ist schlechterdings nicht einzusehen. Aber nehmen wir an, daß Gefühle nach Belieben hervorgerufen und reguliert werden können, nehmen wir an, daß der Hinweis auf die Kraft des Nationalgefühls imstande ist, diese Kraft zu erzeugen, dann wäre immer noch zu beweisen, daß das Nationalgefühl eine politische Gemeinschaft herzustellen vermag.

Sehen wir uns daraufhin einmal unsere Deutschnationalen an. Wäre es wahr, daß das Nationalgefühl die breite Kluft überbrücken kann, die das Bürgertum und die Arbeiterschaft einer Nation voneinander trennt, so müßte es die verschiedenen Schichten des Bürgertums einer Nation, zwischen denen doch keine so großen Gegensätze bestehen, erst recht verbinden und zusammenhalten können. Aber das ist, wie wir wissen, nicht der Fall. Den deutschen Fabrikanten hindert sein Nationalgefühl nicht, tschechische Arbeiter ins deutsche Land zu ziehen. Die besten Deutschen verkaufen um des schnöden Mammons willen ihre Häuser an Tschechen. Wie viele gute Deutsche gibt es, die ihre Einkäufe in deutschen Geschäften besorgen, wenn die Tschechen billiger verkaufen? Der deutsche Handwerker, der keinen tschechischen Lehrbuben mag, und die deutsche Hausfrau, die ein deutsches Dienstmädchen einer „Libuschatochter“ vorzieht, können sich als Raritäten ausstellen lassen. Usw. usw. Das schwächste ökonomische Interesse vermag über den Bürgerlichen mehr als das Nationalgefühl mit all seiner unwiderstehlichen Gewalt.

Begeben wir uns vom ökonomischen auf das politische Gebiet, so zeigt sich uns dasselbe Bild. Die besten deutschen Männer können durch die lächerlichsten, kleinlichsten Bagatellen so gegeneinander aufgebracht werden, daß sie, ihr allmächtiges Nationalgefühl in der zottigen Mannsbrust verbergend, auf einander losdreschen, als hätten sie den slawischen Erbfeind vor sich. Z.B.: In der „Metropole von Deutschböhmen“, in Reichenberg, ist ein Landtagsmandat freigeworden. Als Kandidaten treten zwei Nationale auf. Politisch gleichen sie einander wie ein faules Ei dem andern, beide sind anerkanntermaßen gute Deutsche. Über Prinzipien kann also im Wahlkampf nicht gestritten werden. Unglücklicherweise hat auch keiner von den Wahlwerbern silberne Löffel gestohlen, beide sind untadelige Ehrenmänner, es kann also auch keiner die Wähler für sich gewinnen, indem er die persönliche Integrität des andern bestreitet. Nichtsdestoweniger entwickelt sich eine hitzige Wahlkampagne, denn der eine Kandidat – wohnt nicht in Reichenberg, sondern in Ruppersdorf, einem Vorort von Reichenberg. Unerhört: so ein Mensch will Reichenberg im Landtag vertreten! Ja, kann er sich denn in die Weltanschauung eines Reichenbergers hineindenken, vermag er, der, wenn er auch aus einer alten Reichenberger Familie stammt, zum Ruppersdorfer herabgesunken ist, noch zu begreifen, was in der Seele eines Reichenbergers vorgeht? Ist seine Kandidatur nicht eine Unverschämtheit? Die Reichenberger brauchen keinen Ruppersdorfer! Durch ganz Reichenberg gellt dieser Schlachtruf, und der Ruppersdorfer fällt, wie sich's gebührt, mit Schimpf und Schande durch. Und solche Geschichten haben wir nicht bloß einmal, wir haben sie hundertmal erlebt, sie wiederholen sich immer wieder. Alle Deutschen gehören zusammen, „das Vaterland muß größer sein“, aber wenn irgendwo bei einer Wahl einem einheimischen Kandidaten ein „Fremder“ (und für die Oberkrähwinkler fängt die Fremde, die Wildnis schon in Unterkrähwinkel an) gegenübertritt, dann wird auf sein Deutschtum gepfiffen, mag es auch von anerkannt vorzüglicher Qualität sein. Dann heißt es: Reichenberg den Reichenbergern! Dann kann das Vaterland nicht klein genug sein. Nicht nur die Klasseninteressen, auch die kleinlichsten Cliqueninteressen vermögen über unsere Nationalen mehr als ihr Nationalgefühl. Oder ist dieses am Ende überhaupt kein Nationalgefühl? Sind die Leute, die sich gute Deutsche nennen, am Ende nur „gute“ Reichenberger, Linzer, Grazer, Kemmelbacher? Verwechseln sie nicht vielleicht Nationalgefühl mit Bezirksmeierei und Lokalpatriotismus? Was ist denn das Nationalgefühl überhaupt?

Legt man einem Nationalen die Frage vor, woran er denn eigentlich merkt, daß er national empfindet, so bekommt man die Antwort: „Ich fühle mich unter Deutschen wohler als unter Nichtdeutschen“. In dieser Behauptung mengt sich Wahrheit und Irrtum. Der Mann müßte sagen: „In einer Umgebung, an die ich gewöhnt und angepaßt bin, fühle ich mich wohler als in einer fremden“. Er verwechselt das Gewohnte mit dem Deutschen, er übersieht, daß nicht alles, woran er sich gewöhnt hat, deutsch ist, und daß er an sehr viel Deutsches nicht gewöhnt ist. Einen Deutschnationalen, der in einem deutsch-böhmischen Städtchen aufgewachsen ist und die dort ansässige tschechische Minorität grimmig haßt, verschlägt irgendein Zufall in ein gottverlassenes Nest in der deutschen Schweiz. Wie wird sein Nationalgefühl diese Probe bestehen? Es ist sehr wahrscheinlich, daß er, trotzdem er nun unter lauter Deutschen lebt und ihm kein Tscheche mehr den Grimm weckt, gar bald Heimweh bekommen wird; daß ihm das „Schwyzer Dütsch“ viel härter ans Ohr schlagen wird, als das „Böhmakeln“, das er daheim oft verspottet hat. Wenn der gute Mann denkt, wenn er sich von dem, was er erlebt, Rechenschaft zu geben bemüht ist, so könnte er die Entdeckung machen, daß, was er für Nationalgefühl gehalten hat, Liebe zur Heimat, also etwas ganz anderes ist. Er könnte dahinterkommen, daß das Nationalgefühl ein sehr schwaches Band ist, und daß wir uns der Täuschung, es könne alle Volksgenossen miteinander verbinden, nur hingeben können, wenn wir es infolge irgendwelcher Umstände mit stärkeren Gefühlen verwechseln können, das heißt: wenn ihm irgend ein starkes wirtschaftliches oder politisches Interesse Nahrung gibt.

Immerhin: es gibt ein Nationalgefühl, und wenn es auch nicht, wie viele, wie die meisten Nationalisten glauben, dasselbe ist wie die Lust am Gewohnten, so ist es doch die Lust an einer bestimmten Art von gewohnten Dingen. Es ist also eine bestimmte Art von Denkfaulheit, von geistiger Trägheit – wie geschaffen zur Stütze einer konservativen, ja reaktionären Politik.

Eine solche Politik kann nicht die Politik der Arbeiterklasse sein. Freilich ist auch dem Proletarier das Behagen am Gewohnten nicht fremd, auch ihm fehlt das Nationalgefühl nicht ganz. Aber es ist durch die Verhältnisse, unter denen er lebt, dafür gesorgt, daß es nicht allzusehr erstarkt, daß sein Konservativismus nicht die Oberhand über seinen Revolutionarismus bekommt. Ausnahmen kommen freilich vor, auch als Massenerscheinung, aber sie können, wie wir am Separatismus sehen werden, nicht von Dauer sein; sie müssen mit den außerordentlichen Umständen, unter denen allein sie entstehen können, wieder verschwinden. Die Existenzbedingungen des Proletariats sind weniger stabil als die irgendeiner anderen Klasse. Der Arbeiter ist heute hier, morgen dort, er arbeitet im Winter am Webstuhl, im Sommer als Maurer, seine Existenz ist nie gesichert, jeder Tag kann eine radikale Änderung seiner Verhältnisse bringen. Er ist gezwungen, fortwährend umzulernen, fortwährend neue Eindrücke zu verarbeiten. Dazu kommt, daß das Gewohnte für ihn – anders als für den Bourgeois – sehr oft das Unerfreuliche ist, also ihn nicht gerade zu behaglichem Verweilen einzuladen geeignet erscheint. Kurz, alles vereinigt sich, um seinen Geist beweglicher zu machen, als den anderer Menschen, und die Freude am Gewohnten, die Beschaulichkeit in ihm nicht aufkommen zu lassen. Alles züchtet in ihm die Lust an der Veränderung. Natürlich nicht die Lust an der Veränderung schlechthin, am Abenteuern und an der Landstreicherei (der verfällt nur der entgleiste Proletarier), sondern die Lust an der rationellen, den Bedürfnissen des Proletariats entsprechenden Veränderung, an der revolutionären Betätigung. Mögen die Nationalen noch so radikal fortschrittlich tun, mögen sie noch so große Worte gebrauchen, die Politik des Nationalgefühls erscheint schon dem naiven Arbeiter kleinlich und reaktionär. Er lacht über den Nationalismus, wie man in der Zeit der nationalen Einheitsbewegungen über die Kleinstaaterei, über den Kantönligeist gelacht hat. Die Welt des Nationalismus ist dem Arbeiter von Haus aus zu eng, zu armselig. Er ist ein naturwüchsiger Internationaler, und wer gegen seinen Internationalismus das Nationalgefühl ausspielt, der ist ihm ebenso komisch wie ein Verehrer der guten alten Zeit, der heute, in der Ära der rapidesten technischen Entwicklung, den Handwebstuhl wieder zu Ehren bringen möchte.

Wie gesagt: das Nationalgefühl, wie so manches andere Gefühl, das die Bourgeoisie in der Arbeiterschaft großziehen möchte, ist dem Arbeiter nicht völlig fremd. Aber es ist verkümmert. Ebenso wie der Bourgeois seine Gefühle zu zügeln weiß, wie er z.B. nur so weit für den Fortschritt schwärmt, als es der Profitmacherei nützlich ist, hat auch der Arbeiter gelernt, jene Gefühle zu unterdrücken, die seinen Klasseninteressen widersprechen. Er mag eine überkommene Abneigung gegen Juden haben, aber der Antisemitismus erscheint ihm nichtsdestoweniger als eine Albernheit. Er mag das Deutsch des Tschechen komisch finden, dessen Temperament und Lebensgewohnheiten mögen ihn fremd anmuten, er ist doch international. Er weiß, daß Vorurteile, die unser Verstand längst überwunden hat, in unseren Gefühlen noch lebendig sein können, und er steht darum seinem Gefühlsleben kritisch gegenüber. Weil etwas für sein Gefühl fremd ist, ist es für sein Urteil noch nicht schlecht. Der Versuch der Nationalen, das Nationalgefühl des Arbeiters demagogisch auszunutzen, muß ebenso scheitern wie ihre übrigen Versuche, den Arbeitern das Märchen von der Harmonie der kapitalistischen und proletarischen Interessen in einer nationalen Verkleidung glaubhaft und sympathisch zu machen.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008