Hermann Teistler

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Das Parlament als Herrschaftseinrichtung

Die "Berliner Volks-Tribüne" veröffentlichte einen Aufsatz, der den Parlamentarismus zu verteidigen und die von uns dagegen vorgebrachten Argumente zu widerlegen sucht. Nachdem der Verfasser das Parlament in seiner Weise rehabilitiert hat, kommt er ganz konsequent zu dem Schluss, dass es für die Arbeiterklasse durchaus notwendig und nützlich sei, in dieser Einrichtung vertreten zu sein.

Um die parlamentarische Beteiligung des Proletariats rechtfertigen zu können, greift der Artikelschreiber zunächst die Grundlage unserer Beweisführung an. Er behauptet, wir hätten eine ganz falsche Auffassung vom Wesen des Parlamentarismus. Insbesondere sei es verkehrt und unvernünftig, das Parlament als eine Einrichtung zu betrachten, die ihrer Natur nach im Dienste der herrschenden Klasse steht. Tatsächlich berührt der Verfasser damit den Kernpunkt der Sache. Maßgebend in der ganzen Diskussion ist auch für uns die Beantwortung der Frage, ob das Parlament als eine Herrschaftsinstitution aufgefasst werden muss oder nicht. Wäre das Parlament seinem Wesen nach keine Einrichtung, die der jeweilig machthabenden Gesellschaftsklasse als Herrschaftsmittel dient, dann würde die Beteiligung auch für das Proletariat unbedingt geboten sein. Ist aber das Parlament nichts als ein Herrschaftsinstrument der besitzenden Klasse, so wäre es für die Arbeiter mindestens zwecklos, an der Einrichtung teilzunehmen.

Im Gegensatze zu dem Artikel der "Volks-Tribüne" halten wir nun daran fest, dass das Parlament seiner Natur nach tatsächlich eine Institution ist, durch welche die zu Zeiten machthabende Klasse ihre Herrschaft über die Besitzlosen ausübt. Alles, was von dem Verfasser vorgebracht wurde, hat unseren Standpunkt nicht zu erschüttern vermocht. Vollständig überflüssig und nutzlos war des Artikelschreibers Kampf gegen Schlussfolgerungen, die wir weder ausgesprochen, noch angedeutet haben und die sich auch keineswegs logisch aus unserer Grundauffassung ergeben. Er selbst scheint sich derlei Konsequenzen willkürlich konstruiert zu haben, um für seine Polemik geeignete Angriffspunkte zu schaffen.

Nie und nirgends haben wir das Parlament selbst als Macht betrachtet, die vom allgemeinen Willen ganz unabhängig sei. Am allerwenigsten erscheint es uns als ein Faktor, der sich durch irgendeine Schicksalsfügung außer der Norm gebildet hat und über der Gesellschaft steht. Im Gegenteil: gerade wir behaupten, dass das Parlament in jeder Beziehung vom sozialen Leben abhängig ist und stets dem jeweiligen Charakter der Gesellschaft entspricht. Es wurzelt direkt in den Besitz- und Machtverhältnissen, die sich zu dieser oder jener Zeit innerhalb der sozialen Organisation entwickelt haben. Das alles hindert uns aber keineswegs das Parlament als Herrschaftsinstrument der besitzenden Klasse anzusehen. Vielmehr beweisen die angeführten Grundlagen des Parlamentarismus gerade, dass wir es in der Tat mit einem Herrschaftsmittel zu tun haben.

Wie bereits angedeutet, liegt die Macht selbst allerdings nicht ursächlich in der parlamentarischen Einrichtung, sondern in der Gesellschaft begründet. Das Parlament ist eben nur ein Werkzeug, mit dessen Hilfe die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in der Gesetzgebung und Verwaltung zum Ausdruck kommen. Mehr braucht es nicht zu sein und wird es niemals sein. Und weil dies so ist, darum wird das Parlament immer und überall Herrschaftszwecken dienen. Nun wird aber der Artikelschreiber zugeben, dass dieHerrschaft von einer zerklüfteten Gesellschaft nicht gemeinsam ausgeübt werden kann. Er wird einräumen, dass sich die Macht nie auf alle Gesellschaftsschichten gleichmäßig verteilt, sondern immer auf eine einzelnen Klasse beschränkt. Und endlich wird er wissen, dass aufgrund dieser ungleichen Machtverteilung die eine Klasse die andere beherrscht. Macht und Herrschaft aber stützen sich auf den Besitz, oder richtiger: sie entspringen demselben. Solange es also eine Gesellschaft gibt, in der sich eine besitzende und eine besitzlose Klasse gegenüberstehen, ebenso lange werden die Besitzenden die Macht in den Händen haben und über die Besitzlosen herrschen. Aufgrund ihrer Macht hat die begüterte Klase natürlich auf alle sozialen und staatlichen Einrichtungen entscheidenden Einfluss: sie kann dieselben nach Belieben ihren Zwecken dienstbar machen, Wenn nun eine Gesellschaftsklasse die Macht besitzt, so ist es doch selbstverständlich, dass sie diese Macht im Parlament zur Geltung bringt und zu ihren Gunsten anwendet. Dies umso mehr, als ja das Parlament für die bürgerliche Gesellschaft der wichtigste Ort zur Vertretung ihrer Interessen ist. Hier konzentrieren sich all' ihre Angelegenheiten, mögen dieselben nun politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Natur sein. Von hier aus erfolgt deren Leitung und Regelung. Und was die Hauptsache ist: hier haben die Besitzenden Gelegenheit, selbst über ihr Wohl und Wehe zu bestimmen.

Es ist somit klar, dass die parlamentarische Einrichtung tatsächlich nur im Dienste der jeweilig machthabenden Klasse steht und demgemäß als Herrschaftsinstrument funktioniert. Wir können dies bemerken, wenn wir die Parteiverhältnisse in den legislativen Körperschaften betrachten. Überall setzt sich die Mehrheit aus Vertretern der besitzenden Klasse zusammen. Da im modernen Staate die Bourgeoisie den Ausschlag gibt, so bildet sie auch die parlamentarische Majorität. Es bestreitet wohl Niemand, dass diese das Parlament benutzt, um ihrer kapitalistischen Interessen zu wahren, ihren Besitzstand zu verteidigen, ihre soziale Stellung zu sichern und die Ausbeutung der Arbeiterklasse aufrecht zu erhalten. Wir sind vollauf berechtigt, der hinsichtlich der kapitalistischen Gesellschaft zu sagen: "das Parlament ist eine Institution, durch welche die Bourgeoisie ihre Herrschaft über das Proletariat ausübt." So wird es auch bleiben, bis die bürgerliche Gesellschaft mitsamt dem Parlamentarismus verschwindet.

Inzwischen wird die parlamentarische Institution immer mehr den Zwecken der Reaktion zu dienen haben. Natürlich wirkt das Parlament nicht darum schon reaktionär, weil es ein Parlament ist. Vielmehr wird es erst zum Organ der Reaktion, weil die in ihm zum Ausdruck kommende Klassenherrschaft gegenüber den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats notwendig reaktionär auftreten muss. Der Verfasser des bekämpften Artikels würde sagen: weil die Reaktion der Charakter des sozialen Körpers ist. Da nun die Klassengegensätze immer klaffender werden und die soziale Bewegung immer stärker anschwillt, so wird die Bourgeoisie das Parlament ausnützen. In einer Einrichtung, die derartigen Zwecken dient, kann die Arbeiterklasse begreiflicherweise nichts erzielen. Sie bleibt ihr am besten fern.

Ob das Parlament als solches, d.h. seiner Natur nach eine Institution der Herrschaft ist oder ob es nur von der zur Zeit machthabenden Klasse als Werkzeug benutzt wird - das ist für die praktische Bedeutung des Parlamentarismus gleichgültig. In dem einen wie dem anderen Fall wirkt es als Herrschaftsmittel. Und zwar solange, wie es in der Gesellschaft eine herrschende und eine unterdrückte Klasse gibt. Für den Geknechteten wird es zu jeder Zeit bedeutungslos sein, ob die im Parlament zum Ausdruck kommende Macht von diesem selbst oder von der Gesellschaft ausgeht. Es wird eben die auf ihn wirkende Macht als Herrschaft empfinden und nach deren Beseitigung streben. In diesem Streben freilich ist es wichtig, sich über die Quelle der Macht klar zu sein. Da gilt es, dem Proletariat zu sagen, dass es nicht mit dem Sturze des Parlamentarismus, sondern erst mit der Überwindung des Bürgertums von der Herrschaft befreit wird.

Die Bourgeoisie könnte allerdings auf das Parlament als Herrschaftsinstrument verzichten, ohne dadurch ihre Existenz in Frage zu stellen. Sie würde ebenso gut im Stande sein, mit einem anderen Mittel ihre Macht zur Geltung zu bringen. Selbst bei direkter Gesetzgebung durch Volksbeschluss, wie in der Schweiz, könnte das Bürgertum seine Herrschaft sehr wohl aufrecht erhalten, solange es in der Gesellschaft die Macht besitzt. Aber trotz alledem entspricht das Parlament doch mehr, als jede Einrichtung, dem Charakter der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist in seiner modernen Form mit der Bourgeoisie entstanden und wird auch mit ihr zu Grunde gehen.

Das geschichtlich bezeugte Vorhandensein revolutionärer Parlament beweist nichts gegen unsere Behauptung, dass die Institution im Dienste der jeweilig herrschenden Klasse stehe. Vielmehr bestätigen selbst derartige Fälle die Richtigkeit unsere Auffassung. In dem Artikel der "Volks-Tribüne" wird zunächst auf den französischen Nationalkonvent Bezug genommen, der in der großen französischen Revolution tätig war. Gewiss trug dieses Parlament einen außerordentlich revolutionären Charakter. Aber woher kam dies? Die revolutionierende Bourgeoisie hatte eben als soziale Klasse die Herrschaft erlangt und rückte daher auch dem Nationalkonvent diesen Charakter auf! Nicht anders verhält es sich mit der Pariser Kommune, die der Verfasser als Haupttrumpf gegen unsere Argumente ausspielt. Hier hatte das Proletariat als Klasse die Macht über das Bürgertum erlangt, wenn auch nur vorübergehend. Darum erhielt das Parlament einen revolutionär-sozialistischen Charakter. Zu Herrschaftszwecken dienten aber all' diese Revolutionsparlamente. Durch sie herrschte eben die jeweilig zur Macht gelangte Gesellschaftsklasse. Wäre die Kommune von Bestand gewesen, so würde deren parlamentarische Einrichtung als Herrschaftsmittel freilich bald verschwunden sein. Dies schon darum, weil die definitive Konstituierung der Kommune das Ende der Klassenherrschaft bedeutet haben würde. Für künftige Erhebungen des Proletariats ist natürlich das Beispiel des Kommuneparlaments keineswegs maßgebend. Wir glauben vielmehr, dass sich die allgemeine soziale Revolution ohne parlamentarische Einrichtungen abwickeln wird.

Wenn sich innerhalb der Gesellschaft die Machtverhältnisse verschieben, so wird sich diese Wandlung auch im Parlament bemerkbar machen. Hierauf beruft sich insbesondere die sozialdemokratische Partei, wenn es gilt ihre parlamentarische Beteiligung zu rechtfertigen. Man vergisst dabei nur eins. Solange die Sozialdemokratie noch nicht die Mehrheit der Abgeordneten bildet, kann sie in den gesetzgebenden Körperschaften nichts ausrichten. Und wenn sie zur Majorität gelangt, so müsste die Gesellschaft bereits derartig zersetzt sein, dass die Bourgeoisie nur noch eine Minderheit zu Stande bringen könnte. In diesem Falle aber wäre die parlamentarische Aktion überhaupt nicht mehr nötig; das Proletariat würde die Parlamentseinrichtung in das Altertumsmuseum packen und die Expropriation viel besser direkt vollziehen.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007