Hermann Teistler

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Wahlbeteiligung oder nicht?

Nachdem wir die Zwecklosigkeit und die Gefahr der parlamentarischen Teilnahme eingesehen, könnte es sich fragen, ob es ratsam sei, überhaupt noch positiv in die Wahlbewegung einzutreten. Dass die Wahlbeteiligung nicht den Zweck haben dürfte, die gesetzgeberischen Körperschaften zu beschicken, das steht für uns von vornherein fest. Wäre es aber nicht trotzdem empfehlenswert, dass die Arbeiterklasse von ihrem Stimmrecht Gebrauch machte? Diese Frage soll im folgenden erörtert werden. Es wird sich zeigen, dass auch in dieser Beziehung das Resultat wieder ein negatives ist.

Für uns hatte die Wahlbeteiligung des Proletariats schon seit langem vorwiegend einen rein statistischen Wert. Wir akzeptierten jenen Standpunkt, welchen Friedrich Engels vertritt; wir erblickten in der Ausübung des allgemeinen Stimmrechts einen Gradmesser für die Reife der Arbeiterklasse. Dass die Wahlbeteiligung einen anderen Wert für das Proletariat überhaupt nicht habe, erklärt Engels ganz ausdrücklich.1 Er fügt aber mit einer gewissen Berechtigung hinzu, dass dies auch genüge. So dachten wir noch bis vor wenig Jahren. Erst die Gestaltung, welche die Sozialdemokratie in neuester Zeit erlangte, machte uns an der Richtigkeit obiger Auffassung irre. Gibt uns denn die sozialdemokratische Wahlbewegung wirklich Aufschluss über die Reife der proletarischen Massen? Und ist das allgemeine Stimmrecht überhaupt dazu angetan, uns in dieser  Hinsicht als zuverlässiges Thermometer zu dienen? Wir müssen das ganz entschieden verneinen. Allüberall haben die Tatsachen gelehrt, dass die Wahlen keinerlei statistisches Material liefern, auf das wir uns mit Sicherheit stützen könnten. Wie sollte dies auch anders sein? Man vergegenwärtige sich doch, in welcher Weise die Wahlen zu Stande kommen!

Die sozialdemokratische Agitation ist allenthalben auf die Gewinnung einer möglichst großen Masse berechnet. Es kommt ihr nur auf die bloße Zahl an. Wie die eroberte Menge aussieht, ob sie den sozialistischen Prinzipien hinlänglich vertraut und für alle Eventualfälle zuverlässig ist – das berücksichtigt man bei alledem nicht. Von solch’ reinem Zahlenstandpunkte wird auch die ganze sozialdemokratische Wahlbewegung beherrscht. Oder besser gesagt: gerade bei dieser Gelegenheit macht sich der Grundsatz, um jeden Preis eine große Masse zu erobern, in der verhängnisvollsten Weise geltend. Und es ist auch keine andere Gelegenheit so verlockend dazu, als eben diese. Hier glaubt man, seine Stärke ziffernmäßig feststellen zu können; hier kommen wenigstens die Größenverhältnisse der feindlichen Scharen zum Ausdruck. Darum geht das Streben jeder Partei dahin, soviel Stimmen als möglich, auf sich zu vereinigen. Die Mittel hierzu sind gleichgültig. In Wirklichkeit läuft also die Wahlagitation auf Stimmenfang hinaus. Und davon macht die Sozialdemokratie keine Ausnahme; im Gegenteil! Man verspricht den indifferenten Massen das Blaue vom Himmel herunter – für den Fall, dass sie sozialdemokratisch wählen. Nicht die historische Mission des Proletariats, nicht der Emanzipationskampf wird betont, sondern die gesetzgeberische Reformarbeit. Und zwar mit notwendiger Konsequenz; denn die parlamentarische Tätigkeit kann sich ja günstigsten Falles nur auf soziale Reformen erstrecken. Dadurch aber wird in der Menge die Hoffnung erweckt, dass ihr Los im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verbessert werden könnte. Die eigentlichen Ziele der Arbeiterbewegung bleiben den Leuten unbekannt; sie halten die Parlamentstätigkeit für das wesentliche der Sozialdemokratie. Teilweise bemühen sich die Wahlagitatoren sogar, die revolutionären Bestrebungen des Proletariats den Wählern absichtlich zu verbergen, damit dieselben nicht abgeschreckt werden. Dafür greift man nach echter Demagogenart solche Forderungen auf, welche die unmittelbare Existenz des Volkes berühren. Man weiß, dass die breiten Massen nur mühsam für Zukunftsgedanken zu gewinnen sind, dagegen umso leichter für alles, was ihre gegenwärtige Lage betrifft. Diese halbaufgeklärten Elemente geben dann ihre Stimme auch nur in der Vorraussetzung ab, dass der etwa Gewählte nach dem Parlament geht, um dort in possibilistischer Sozialreform zu machen. Auf diese Weise kann man wohl eine große Stimmenzahl erhalten, aber keine Masse, die zum zielbewussten Handeln fähig ist. Schon hier zeigt sich, dass das Wahlergebnis durchaus keinen Maßstab für die Reife der Arbeiterklasse bildet.

Nun steht es aber um die Qualifikation der sozialdemokratischen Wählermasse noch schlimmer. Zur Zeit der Wahlbewegung liebäugelt man bekanntlich mit anderen Gesellschaftsschichten, dass es seine Art hat. Insbesondere wird auf die kleinbürgerlichen Kreise spekuliert; Handwerker, Kleinhändler und Kleinbauern bilden das Schoßkind der Partei. Auf deren Gewinnung wird die ganze Wahlagitation zugeschnitten. Um diese Elemente nicht abzustoßen, muss man mit den sozialistischen Prinzipien womöglich noch mehr hinter dem Berge halten, als bei den indifferenten Arbeitermassen. Man benutzt die Unzufriedenheit und Notlage des Kleingewerbes, um die dem Untergange Geweihten gegen den Kapitalismus aufzuhetzen. Die Wahlreden erwecken in den bedrückten Kleinbürgern den Glauben, als könne die Sozialdemokratie für sie etwas tun. Es sei nur an die fast unglaublichen Versprechungen erinnert, welche der Reichstagsabgeordnete August Heine seinen kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Wählern in Wort und Schrift gemacht hat! In der Erwartung, dass ihre Lage verbessert werde, geben auch sie ihre Stimme für den Sozialdemokraten ab. Natürlich denken sie ebenfalls an eine Verbesserung im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung. Sind sie doch im Grunde genommen das konservative Element im Staate; sie hängen mehr denn jeder andere am Bestehenden und sind nichts weniger als revolutionär. Sie träumen davon, mit sozialdemokratischer Hilfe ihre spießbürgerliche Existenz weiterführen zu können; nur behäbiger und gesicherter, als heute. Der zünftlerische Kleinmeister erwartet im Stillen sogar von der Sozialdemokratie – o Ironie der Weltgeschichte! – einen neuen „goldenen Boden“ des Handwerks. Von einer Umgestaltung der Gesellschaft aber wissen diese Leute in der Regel sehr wenig; sie würden sich auch für eine Sozialisierung der Produktion und Konsumtion schönstens bedanken. Und wenn sie wirklich an eine soziale Umformung glauben, so schwebt ihnen ein wunderliches Zerrbild vor, das ihren kleinbürgerlichen Interessen und Meinungen von heute durchaus entspricht. Derartige Elemente und Anschauungen sind aber in der sozialdemokratischen Partei sehr zahlreich vertreten. Unter den anderthalb Millionen Wählern von 1890 bilden sie mindestens die große Mehrheit. Es wäre also total verfehlt, nach jener Zahl die revolutionären Fortschritte des Proletariats beurteilen zu wollen. Vielmehr bilden die kleinbürgerlichen Elemente, durch welche die große Zahl entstanden ist, ein Hemmnis in der Entwicklung zum Sozialismus. Hier bedeutet also die Ziffer gerade das Gegenteil eines Maßstabes für die Reife der Arbeiter; sie beweist das Dominieren der kleinbürgerlichen über die proletarischen Elemente und damit die Unreife der revolutionären Bewegung.

Außerdem gibt es zu jeder Zeit unter den bürgerlichen Klassen eine Anzahl Missvergnügte und Unzufriedene. Sie sind aus irgend einem Grunde dauernd oder vorübergehend mit der Gesellschaft zerfallen; vielleicht fühlen sie sich im Widerspruch mit einem Ereignis, mit einer politischen Handlung – vielleicht sind auch nur ihre persönlichen Interessen verletzt. Gleichviel, was immer der Grund sein möge: am Wahltage gibt mancher von ihnen seinem Grolle dadurch Ausdruck, dass er einen Stimmzettel für den Sozialdemokraten in den Kasten wirft. Er knüpft an diese Handlungsweise keinerlei Erwartungen – er lässt nur seinem Unwillen freien Lauf, ohne deshalb die Anschauungen der Sozialdemokratie zu teilen. Ein anderer Teil der Wahlberechtigten stimmt indes für den sozialdemokratischen Kandidaten, weil er sich wirklich Erfolg davon verspricht, billigt aber ebenfalls nicht die Ziele der Sozialdemokratie. Hierher gehören insbesondere die kleinen Beamten usw., welche höhere Gehälter erstreben und dies mit Hilfe der Sozialdemokraten erreichen zu können glauben; ferner Gewerbetreibende und Rentiers, die am Fallen der Zölle usw. ein Interesse haben. All’ diese Leute bauschen wohl die sozialdemokratischen Stimmen auf, verdunkeln aber nur das Bild der eigentlichen Bewegung.

Wenn man zuverlässiges Zahlenmaterial aus der Wahlbeteiligung gewinnen wollte, so müsste zunächst die Agitation durchaus prinzipiell betrieben werden. Man müsste von allen praktischen Fragen der Gegenwart absehen, auf die positive Mitarbeit im Parlament verzichten usw. Vor allen Dingen dürften aber die Gewählten nicht in den gesetzgeberischen Körperschaften erscheinen. Diejenigen Stimmen, welche unter solchen Bedingungen abgegeben würden, könnten wenigstens ein halbwegs zuverlässiges Bild vom Stande der proletarischen Emanzipationsbewegung bieten. Denn es würden jetzt nur noch Solche für den Kandidaten eintreten, die keine Augenblicksinteressen verfolgen, sondern lediglich das Prinzip im Auge haben. Aber trotzdem glauben wir nicht, dass das auf diese Weise erzielte Wahlresultat wirklich als untrüglicher Gradmesser für die Reife des Proletariats dienen könnte. Man hätte wohl ungefähr die Zahl der zielbewussten, d.h. derjenigen, welche sich über die Bestrebungen der Arbeiterklasse klar sind. Aber was böte Gewissheit, dass diese Zweckbewussten im entscheidenden Moment auch tatsächlich für ihre Ziele entstehen? Was bürgt für ihre Zuverlässigkeit? Das Abgeben eines sozialistischen Stimmzettels ist doch wohl keine hinreichende Garantie! Was hat es denn mit dieser Handlung auf sich? Riskiert etwa der Abstimmende seine Haut dabei? Um ein vielfach zusammengefaltetes Stück Papier in die Urne zu geben, dazu gehört doch wohl wahrlich nicht so viel Mut und Festigkeit – selbst angesichts der zahlreichen Verletzungen des Wahlgeheimnisses! Wenn man sich unbedingt auf diese an der Abstimmung beteiligten Arbeiter verlassen wollte, so würde man wahrscheinlich arge Enttäuschungen erleben. Eine Bewegung, welche sich die Befreiung des Proletariats zum Ziele gesteckt hat, darf nur mit jenen rechnen, die offen für ihre Sache eintreten und kein persönliches Opfer scheuen, weder Strafe, noch Maßregelung. Über Mittel und Gelegenheit zu einer derartigen proletarischen Heerschau werden wir im nächsten Aufsatze sprechen.

Allerdings kann man über die Zweckmäßigkeit der Wahlbeteiligung im statistischen Interesse verschiedener Meinung sein. Ob man sich zwecks Zahlengewinnung in die Wahlbewegung mischt oder nicht, das ist füglich keine prinzipielle Streitfrage; die Entscheidung darüber berührt nicht einmal die Taktik im allgemeinen. Eine Gefahr oder Inkonsequenz könnten wir in einer diesbezüglichen Benutzung des Stimmrechts ebenso wenig erblicken. Daher halten wir es nicht für nötig, diejenigen Genossen zu bekämpfen, welche eventuell in die Wahlbewegung eintreten wollen, um lediglich die Zahl der Gleichgesinnten festzustellen, nicht um das Parlament zu beschicken. Aber warnen möchten wir nochmals, mit dem Zahlenergebnis für alle Fälle zu rechnen. Es kommt eben, wie gesagt, nicht auf die Ziffern an, sondern auf den Geist und die Tatkraft, welche in der Bewegung zu finden sind. Und gerade hierüber gibt uns das Wahlresultat keinerlei Aufschluss. Darum können wir uns mit den statistischen Erhebungen dieser Art überhaupt nicht befreunden – selbst wenn durch sie ein sicheres Bild vom Zielbewusstsein der Arbeiterklasse zu gewinnen wäre. Aus demselben Grunde sind auch die rechnerischen Betrachtungen hinfällig, welche Friedrich Engels jüngst in einem Artikel der „Neuen Zeit“ angestellt hat.2 Statistische Ausnahmen sind auch gar nicht nötig. Wir werden ja noch sehen, dass es zuverlässigere Mittel gibt, um den inneren Zustand des Proletariats zu veranschaulichen.

Zum Schluss noch einige Bemerkungen über den agitatorischen Wert, den man der Wahlbeteiligung gewöhnlich beizulegen pflegt. Nun, wir unterschätzen die Wahlpropaganda keineswegs. Aber wir haben uns auch überzeugt, dass die Agitationsweise der heutigen Sozialdemokratie absolut nicht geeignet ist, prinzipielle Aufklärung und revolutionären Geist zu verbreiten. Wir werden die Zeit der Wahlen besser ausnutzen; bietet sie doch die sicherste Gelegenheit, um propagandistisch auf die Massen einwirken zu können. Und wir werden mit einer prinzipiell negierenden Agitation größere Erfolge erzielen und den Befreiungsbestrebungen des Proletariats einen wichtigeren Dienst erweisen, als die Sozialdemokratie mit ihrer ganzen positiven Wahlbeteiligung! Wir haben dann zwar nicht die Ehre, im Parlament aktiv vertreten zu sein, aber wir können auf eine Masse zählen, die sich bewusst ist, was sie zu tun hat.

 

Anmerkungen des Verfassers


1Vgl. Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, S. 139. [Vgl. MEW 21, S. 168, http://mlwerke.de/me/me21/me21_152.htm d. Hrsgb.]

2 Vorliegender Aufsatz kann in dieser Beziehung gleichzeitig als Widerlegung der betreffenden Ausführungen dienen. [Vgl. Engels Artikel in MEW 22, S. 245ff, insbesondere S. 250, http://mlwerke.de/me/me22/me22_245.htm d. Hrsgb.]

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007