August Thalheimer

 

Der sogenannte Sozialfaschismus
und andere Purzelbäume der Anne-Liese [1]

(20. April 1929)


Gegen den Strom, 2. Jg., Nr.16, 20. April 1929.
Gruppe Arbeiterpolitik (Hrg.): Faschismus in Deutschland. Analysen und Berichte der KPD-Opposition 1928-1933, Bd.1, 1981, S.55-59.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite der Marxistischen Bibliothek
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Seit Wochen tobt sich das Geschrei vom „Sozialfaschismus“ in der offiziellen Parteipresse und in Parteireden aus. Zuerst konnte man es einfach für ein gedankenloses Kraftwort nehmen, das der neuen Methode entsprach, wonach die Verschärfung des Kampfes gegen den Reformismus einfach in der Prägung und Verwendung schärferer Kraftausdrücke besteht. Mit der Zeit empfand man wohl das abnorme Bedürfnis, sich bei dem Wort auch irgendwas zu denken. Und so entwickelte denn die Anne-Liese, wie die Heinz Neumann und Hermann Remmele sie verstehen, eine Theorie oder Philosophie des Sozialfaschismus –, die geradezu ein Musterbeispiel der vollkommenen Unfähigkeit unserer Nebbich-Theoretiker ist, auch nur das ABC der wirklichen Klassenverhältnisse in Deutschland und ihre Tendenzen zu verstehen.

An dem Gerede vom „Sozialfaschismus“ ist nur das Wort neu: Die Sache selbst ist die Aufwärmung des alten ultralinken Kohls von der Sozialdemokratie als dem rechten (oder linken?) Flügel des Faschismus, den der V. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale unter Sinowjews und Stalins Patronat in Umlauf setzte, und den dann Maslow und Ruth Fischer als Grundlage ihrer ultralinken Taktik aufgriffen. Die Kommunistische Partei Italiens aber, die es mit dem wirklichen Faschismus zu tun hatte, und der die handgreiflichen Tatsachen zeigten, daß es praktisch unsinnig ist, den Reformismus und den Faschismus selbst bei voll entwickeltem, herrschendem Faschismus in einen Topf zu werfen, ließ diesen Unsinn stillschweigend fallen.

Die theoretische „Vertiefung“ dieses neubenannten alten Unsinns findet man, wohl nicht zufällig, in der Nr. 12 der (deutschen) Internationale, die vom 1.April datiert ist.

Im Leitartikel dieser Aprilnummer, Herr Greszinski, wird zunächst die Sozialdemokratie eingeführt als „die die Geschäfte des Trustkapitals führende Partei“. Hier beginnt schon der Unsinn. Der unklare Ausdruck soll besagen, daß die Sozialdemokratie die führende Partei des Trustkapitals sei. Sie ist aber nur eine vom Trustkapital geführte Partei, was durchaus der allgemeinen Rolle des kleinbürgerlichen Reformismus im Verhältnis zum Tustkapital entspricht. Die Quelle dieses Unsinns ist der – parlamentarische Kretinismus, der das wirkliche, gesellschaftliche Verhältnis der Klassen und Parteien mit dem parlamentarischen Schein verwechselt. Dieser parlamentarische Schein stellt im gegebenen Fall das wirkliche Bild der Klassenverhältnisse auf den Kopf. Der Sozialdemokrat Hermann Müller ist Reichskanzler. Der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding Reichsfinanzminister. Und sie „führen“ so die „Geschäfte des Trustkapitals“. Man braucht weder „Marxist“ noch „Leninist“ zu sein, sondern einfach nicht sich von der parlamentarischen Oberfläche düpieren zu lassen, um zu verstehen, daß sie nicht die Führer, sondern die Geführten des Trustkapitals sind. Die Hermann Remmele u. Co. nehmen den Schein für bare Münze, und taufen diese höchst einfache Prozedur „marxistische Analyse“, und schon wird das ein Glaubenssatz, an dem zu zweifeln Liquidatorentum, Versöhnlertum, sozialdemokratische Rückständigkeit, jedenfalls aber ein frevelhafter Verstoß gegen die „Linie“ ist.

Dieser ganz außergewöhnliche parlamentarische Kretinismus macht es erklärlich, daß diese „Theoretiker“ unfähig sind, einen ganz einfachen politischen Tatbestand auch nur richtig aufzufassen. „Herr Stresemann“, heißt es in dem Artikel, „fordert eine einheitliche Partei, in der alle bürgerlichen Parteien von den Sozialdemokraten bis zu den Deutschnationalen aufgehen sollen, d.h. die faschistische Partei.“ Sonderbar, davon hat bisher niemand etwas gewußt. Herr Stresemann forderte bekanntlich einen liberalen Block, was ein bißchen etwas anderes ist, aber abgesehen davon, so heißt es das Wesen einer faschistischen Partei vollkommen verkennen, wenn man glaubt, sie könne aus der Verschmelzung der bisherigen parlamentarischen Parteien hervorgehen. Sie kann nur aus ihrer Unterdrückung, Zerschlagung, Vernichtung hervorgehen. Denn der Faschismus gibt sich gerade als das Gegenstück zur parlamentarischen Korruption. Mit dem Kampf gegen den Parlamentarismus und die parlamentarischen Parteien mobilisiert er scheinrevolutionär die kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Massen, aus denen er seine Organisationen bildet. Diese scheinrevolutionäre Ideologie gehört aber zum Wesen des Faschismus. Nur mit diesem revolutionären Schein lassen sich die Massen mobilisieren, die vom Parlamentarismus enttäuscht sind, zur Zerschlagung der parlamentarisch-demokratischen Maschine, oder zu ihrer Verwandlung in eine bloße Attrappe.

Die Rolle der bürgerlich-parlamentarischen Parteien, einschließlich der Sozialdemokratie, bei der Vorbereitung des Faschismus, besteht nicht darin, daß sie sich selber in Elemente der faschistischen Partei verwandeln, sondern darin, daß sie den Parlamentarismus und sich selber diskreditieren und dadurch die Entstehung einer faschistischen Partei begünstigen, die das Urteil vollstreckt, das sie über sich selber fällen, d. h. ihnen den Kragen zudreht. Man braucht nur die Darstellung von Marx im 18. Brumaire zu lesen, um diesen Mechanismus zu verstehen. Die bonapartistische oder faschistische Diktatur ist ihrem gesellschaftlichen Inhalt nach die Diktatur des Großkapitals. Ihrer politischen Erscheinung nach ist sie Diktatur auch über die Großbourgeoisie und ihre Parteien. Die Großbourgeoisie zeigt damit an, daß, wie Marx sagt, ihre politische Herrschaft nicht mehr verträglich ist mit ihrer gesellschaftlichen Herrschaft.

Unsere „offiziellen Theoretiker“ lassen also gleichzeitig die Bourgeoisie politisch abdanken und nicht abdanken. Sie stellen sich den Faschismus, den Gegenpol und die Ablösung des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus gleichzeitig – als eine Fortsetzung des bürgerlichen Parlamentarismus in etwas anderer Form vor.

Das ist der Kern dieses Unsinns. Dahinter lugen wieder die langen Eselsohren des parlamentarischen Kretinismus hervor.

Dieser Unsinn wird, Wie sichs gebührt, in der krassesten Form ausgedrückt von dem berühmten Theoretiker Hermann Remmele:

„Stresemann“, wiederholt er nach dem Leitartikler in seinem Aufsatz Tempoverlust, „fordert die Beseitigung des gesamten bürgerlichen Parteiensystems und seine Ersetzung durch die einheitliche Klassenpartei der Trustbourgeoisie, wobei er sich ganz offen mit dem faschistischen Parteiwesen solidarisierte.“

So wörtlich zu lesen, während in der profanen Wirklichkeit Herr Stresemann „offen“ die faschistische Diktatur ablehnte.

„Die Notwendigkeit des Übergangs zur faschistischen Diktatur“, fährt Hermann Remmele fort, „ist aber gerade bedingt durch die aufsteigende und immer stärker werdende neue revolutionäre Welle, mit der die bürgerliche Demokratie nicht mehr fertig wird. Diese (die Welle? – d. Red.) geht daher über in den Faschismus, dessen Aufgabe die wirksamere Niederhaltung des Proletariats ist. Was Wahlen und Abstimmungen nicht mehr schaffen, soll der Belagerungszustand Greszinskis und der § 48 in der Hand Severings vollbringen. Auf Bajonetten läßt sich aber nicht schlafen (!) und die Polizeitruppen treibt nicht weniger der Hunger als die Hochbahner. Die Bajonette werden den Vormarsch des Kommunismus in der deutschen Arbeiterklasse nicht aufhalten, sondern beschleunigen, wenn diese Bajonette von den Helden der II. Internationale kommandiert werden, und so wird letzten Endes die Diktatur des deutschen Sozialfaschismus nur eine Episode im Vormarsch des deutschen Proletariats zur proletarischen Diktatur sein.“

Was ist also, nach Hermann Remmele, der Sozialfaschismus? Die Tatsache, daß Greszinski Demonstrationen verbietet und Severing evtl. mit dem § 48 wirtschaftet? Sonderbar, daß wir dann nicht früher vom „Sozialfaschismus“ gehört haben. Die Ebert und Noske haben alle kräftig von Bajonetten gegen die Arbeiter und auch vom § 48 Gebrauch gemacht. Das war konterrevolutionär, aber es war so wenig Faschismus, wie es schon Bonapartismus war, als im Juni 1848 die französische Nationalversammlung durch Cavaignac die Pariser Arbeiter niederkartätschen ließ.

Welch eine tolle Konfusion! Das Bajonett gegen die Arbeiter in der Hand des bürgerlichen Parlamentarismus ist unzweifelhaft Vorarbeit für den Faschismus oder Bonapartismus. Aber der Faschismus beginnt erst da und dann, wo das Bajonett selbständig wird und seine Spitze sich auch gegen den bürgerlichen Parlamentarismus wendet.

Das ist aber kein allmählicher „Übergang“, wobei der Parlamentarismus sich selber in sein Gegenteil verwandelt, sondern ein Sprung, praktisch ein Staatsstreich, durch den die bisherigen Inhaber der Bajonette durch den neuen Inhaber auf den Sand gesetzt werden. Dieser neue Inhaber, woher er auch kommen mag, kann sich nicht auf die demokratisch-parlamentarische Ideologie und auf Organisationen, die darauf aufgebaut sind, stützen, er muß diese Ideologie bekämpfen und die alten politischen und wirtschaftlichen Massen-Organisationen mit einer neuen Massen-Organisation stürzen und zerschlagen.

Was ist die praktische Folge dieses Unsinns? Dieselbe wie die von der Sozialdemokratie als dem linken Flügel des Faschismus: Die Unfähigkeit, die sozialdemokratischen Arbeiter, die noch auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie stehen, gegen ihre Führer und gegen den Faschismus zu mobilisieren und ihnen die Räte als das wirklich revolutionäre Gegenstück zum bürgerlichen Parlamentarismus begreiflich zu machen. Letzten Endes also die Isolierung von den breitesten proletarischen Massen.

Von dem sonstigen Unsinn Hermann Remmeles sei nur noch erwähnt, die Phantastereien von der bereits im Gang befindlichen, von der Partei geführten „Offensivstrategie“. Phantastereien, durch die man sich das wirkliche Heranführen der wirklichen proletarischen Massen an eine wirkliche Offensive erspart und die nur mit einem Sturz derer auf den Hintern enden können, die sich an solchem Phantasieren berauschen und sich mit souveräner Überlegenheit über den wirklichen Stand der Dinge hinwegschwindeln.

Weiter ist noch symptomatisch die Kriegserklärung an die Parteigenossen, denen an dieser angeblichen Offensive gerechte Zweifel aufsteigen.

Die „Partei“, donnert Remmele,

„... muß gegen solche Strömungen ebenso entschieden kämpfen, wie gegen die traditionellen Träger des rechten Liquidatoren- und des Versöhnlertums. Die Partei kann ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie diesen rückständigen, jede revolutionäre Strategie in der Gegenwart hemmenden Elementen die Durchführung ihrer Aufgabe vertraut. Bei der Neuwahl der Organe der Partei dürfen darum nur die fortgeschrittensten Genossen, die das Wesen der offensiven Strategie erfaßt haben und sie in der Partei anwenden, zu Trägern der Parteiaufgaben gemacht werden.“

Da beginnt also ein neues Ketzergericht ...

Oder vielleicht kommt es ganz anders. – Und unser Hermann Remmele wird nach den ersten Berührungen mit dem Erdboden und nach erhaltenem Kommando von oben, mit demselben Schneid gegen die „Offensivstrategie“ losdonnern, in deren Namen er jetzt die Anne-Liese die tollsten Purzelbäume machen läßt und eine neue Ausschlußkampagne ankündigt.


Anmerkung

1. Eine Verballhornung des von KPD-Funktionären ständigen verwendeten Begriffs „Analyse“.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008