August Thalheimer

 

Was versteht man unter Faschismus?

(Juni 1929)


Junger Kämpfer, Organ des Kommunistischen Jugendverbandes (Opposition), Jahrgang 1, Nr. 3, Juni 1929.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite der Marxistischen Bibliothek
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wenn man sich an den Sprachgebrauch hält, wie er heute in der Partei üblich geworden ist, so müßte man zu dem sehr einfachen Schluß kommen: Faschismus sei jeder Akt der Gewalt, der gegen die Arbeiterklasse geübt wird.

Nimmt man versuchsweise diese höchst „einfache“ Erklärung an, so gerät man sogleich in ein Netz von Widersprüchen. Nehmen wir beispielsweise Deutschland. Wurde im kaiserlichen Deutschland von Staats wegen Gewalt gegen die Arbeiterklasse geübt? Sicherlich. Es gab da 12 Jahre (1878-1890), in denen jede sozialdemokratische Betätigung verboten, unter Ausnahmegesetz gestellt war. Die sozialdemokratische Presse war unterdrückt. Jeder Arbeiter, der sich sozialistisch betätigte, konnte von der Polizei ausgewiesen und vom Richter ins Gefängnis gesteckt werden. Es war das die Zeit des Sozialistengesetzes. Unzweifelhaft Gewalt, ja, systematische Anwendung von Gewalt gegen die Arbeiterklasse, gegen die sozialistische Bewegung.

War das Faschismus? Niemand hat das noch behauptet. Aber nach der obigen Begriffsbestimmung müßte Bismarck der erste Faschist in Deutschland gewesen sein. Weiter. Haben die Noske, Ebert, Scheidemann Gewalt gegen die Arbeiterklasse angewandt? Zwanzigtausend gefallene Arbeiter bezeugen das. War das konterrevolutionäre Gewalt gegen die Arbeiterklasse? Ja. War es Faschismus? Nein!

Daraus scheint zu folgen, daß nicht jeder Akt der Gewaltanwendung oder jedes System der Gewaltanwendung gegen die Arbeiterklasse Faschismus sein kann. Die heute in der Partei übliche Erklärung ist also falsch, sie führt auf einen Holzweg. Wie kommt man aber zu einer solchen falschen Festsetzung? Ganz einfach. Durch einen Trugschluß, wie er im täglichen Leben häufig vorkommt. Der Faschismus, so wie er in Italien, in Bulgarien usw. leibhaftig existiert, ist offene und systematische Anwendung von Gewalt gegen die Arbeiterklasse. Also folgert man: ist jede offene und systematische Anwendung von Gewalt gegen die Arbeiterklasse Faschismus. Faschismus ist, wenn Grezinsky die Maidemonstration der Partei verbietet, die Rote Fahne unterdrückt, den Roten Frontkämpferbund auflöst usw. Glücklicherweise wird die Richtigkeit von Begriffsbestimmungen nicht bestimmt von Partei-Instanzen, sondern durch die Tatsachen.

Aus den Tatsachen ergibt sich leicht die Korrektur der objektiven falschen Erklärung des Faschismus. Faschismus ist Gewalt gegen die Arbeiterklasse, aber nicht jede Gewalt gegen die Arbeiterklasse ist Faschismus. Faschismus ist eine besondere Form der Gewaltanwendung gegen die Arbeiterklasse, und zwar der staatlichen Gewaltanwendung. Worin besteht diese Besonderheit?

Um das zu finden, stellen wir die Frage: wann unterscheidet sich die staatliche Gewaltanwendung auf Grundlage der bürgerlichen Demokratie von der faschistischen?

Die stillschweigende, unbewußte Voraussetzung der oben gemachten Erklärung des Faschismus ist nämlich offenbar die, daß die bürgerliche Demokratie gegenüber der Arbeiterklasse ein sanftes, friedliebendes, die Gewalt verabscheuendes Geschöpf ist. Das stimmt aber weder mit den Tatsachen überein, noch mit den Grundlehren des Leninismus, der eine richtige Verallgemeinerung von Tatsachen ist. Um von Deutschland jetzt abzusehen: so wimmelt die Geschichte der III. französischen Republik und der Vereinigten Staaten von Nordamerika von blutigen Gewaltakten der Staatsmacht gegen die Arbeiterklasse.

Der Staat der bürgerlichen Demokratie wendet Gewalt an gegen die Arbeiterklasse auf Grund von Gesetzen und vermittels Behörden, die durch das allgemeine Wahlrecht zustande gekommen sind. Der Staat der bürgerlichen Demokratie duldet Arbeiterorganisationen und Arbeiterparteien, eine Arbeiterpresse usw.

Der Faschismus hebt das allgemeine Wahlrecht auf, er unterdrückt die Arbeiterpresse, die Arbeiterorganisationen, Arbeiterparteien. Er bindet sich in der Gewaltanwendung gegen die Arbeiterklasse an keine Gesetze. Er stellt die offene Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse dar, im Gegensatz zu der verschleierten, sich an Gesetze bindenden des Staates der bürgerlichen Demokratie.

Die häufige gesetzliche staatliche Gewaltanwendung gegen die Arbeiterklasse ist Vorarbeit, Vorübung für die ungesetzliche, diktatorische Gewaltanwendung, also für den Faschismus. Aber sie unterscheidet sich vom Faschismus, indem sie an der bürgerlich-demokratischen Verfassung festhält. Der Übergang von der einen zur anderen ist ein Übergang von einem Typus der Verfassung in einen anderen. Ein solcher Übergang erfordert selbst einen gewaltsamen Umsturz, einen Staatsstreich, der die Voraussetzungen schafft, um die Organe der bürgerlichen Demokratie durch die des Faschismus zu ersetzen (die von der faschistischen Partei ernannt werden).

Die Gefahr des Faschismus wächst in Deutschland zusehends. Die sprunghafte Zunahme der Wahlstimmen der Nationalsozialisten bei den sächsischen Landtagswahlen ist ein Beweis unter vielen anderen. Die Arbeiterklasse muß dem Faschismus, der die rücksichtsloseste Art ihrer Unterdrückung darstellt, einen Kampf auf Leben und Tod liefern.

Um aber den Faschismus niederkämpfen zu können, muß man zuvor klar erkannt haben, was er ist, wo er steht. Betrachtet man die Sozialdemokratie als einen Teil des Faschismus, so heißt das darauf verzichten, alle Kräfte, auch die der sozialdemokratischen Arbeiter (nicht die der Führung), die gegen ihn mobilisiert werden können, auch wirklich gegen ihn zu mobilisieren. Durch die Kraft der Kommunistischen Partei allein kann der Faschismus nicht geschlagen werden. Dazu gehört die Mehrheit der Arbeiterklasse, die der kommunistischen Führung folgt. Diese Mehrheit zu gewinnen, das ist also das Erste, was geleistet werden muß, wenn die Kommunistische Partei den Kampf gegen den Faschismus siegreich führen will.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008