August Thalheimer

 

Eine verlorene Hauptschlacht

(6. November 1930)


Gegen den Strom, 3. Jg., Nr. 45, 6. November 1930.
Gruppe Arbeiterpolitik (Hrg.): Faschismus in Deutschland. Analysen und Berichte der KPD-Opposition 1928-1933, Bd.1, 1981, S.119-124.
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In ihrer Zeitschrift Klassenkampf trösten sich die Parlamentshelden vom „linken Flügel“ der Sozialdemokratie à la Seidewitz über ihren schmählichen Umfall am 18. Oktober damit hinweg, daß sie erklären, der 18. Oktober sei noch gar keine Entscheidung gewesen, er bedeute nur eine Verschiebung der Entscheidung über das Schicksal der Brüning-Regierung. Man habe der Fraktionsmehrheit Gelegenheit geben wollen, sich in den Ausschußverhandlungen über die Notverordnungen der Regierung selbst zu überzeugen, daß die Regierung auf ihrem Programm beharre, daß es nicht gelingen werde, den Notverordnungen die Giftzähne auszuziehen. Erst danach falle die wirkliche Entscheidung, und dann werden die linken Helden sich unwiderruflich als Helden bewähren – wenn sie nicht neue Gründe finden, ihre Heldentaten wieder „auf das nächste Mal“ zu verschieben. Sieht man näher zu, so findet man, daß in den „Gründen“ für diesen Umfall bereits die Entschuldigungen für eine unabsehbare Reihe weiterer Umfalle enthalten sind. Einer der angeführten Hauptgründe ist nämlich die Erhaltung der Einheit der Sozialdemokratie. Wenn also das nächste Mal in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sich keine Mehrheit gegen die Brüning-Regierung findet, wenn diese Mehrheit auch die Notverordnungen mit Haut und Haaren schlucken wird – und warum soll sie sich nicht finden, wenn die Theorie vom „kleineren Übel“ die Richtschnur bleibt und der Sturz der Regierung Brüning das größte aller Übel bleibt? –, so werden die „Linken“ um der „Einheit“ willen auch die Notverordnungen schlucken, und das kann so lange weitergehen, bis die Sozialdemokratie auch das Letzte für die Durchführung des Programms des Kapitalangriffs geleistet haben wird, was sie leisten kann.

Inzwischen aber hat die Entscheidung des 18. Oktober schon eine andere Entscheidung zur Folge gehabt, die von der größten und unheilvollsten Bedeutung ist für die gesamte weitere politische Entwicklung in Deutschland. Diese Entscheidung ist die Niederlage im Metallarbeiterstreik, die Niederlage infolge des blanken Verrats der reformistischen Gewerkschaftsführer. Diese Niederlage ist offenbar der Aufmerksamkeit der vom parlamentarischen Kretinismus bis in die Knochen zerfressenen „Linken“ nicht würdig, denn sie ist nur eine außerparlamentarische Tatsache, und die zählt nicht mit. Da das Parlament bis zum 3. Dezember vertagt ist, so ist inzwischen nach der fixen Idee des parlamentarischen Kretinismus auch die Weltgeschichte vertagt und muß als nicht vorhanden betrachtet werden.

Für diejenigen, die nicht vom Bazillus des parlamentarischen Kretinismus verseucht sind, liegt es auf der Hand, daß der Verrat vom 18. Oktober mit dem Verrat des Metallarbeiterstreiks eine Einheit bildet und daß die Verantwortlichen für den einen zugleich die Verantwortlichen für den anderen sind. Aber hier kommt den Betreffenden eine andere nicht minder „schöne“ Sorte von Kretinismus zu Hilfe – der bürokratische Kretinismus. Danach sind für die parlamentarischen Entscheidungen die Parlamentarier und letzten Endes die Parteiinstanzen verantwortlich, für die gewerkschaftlichen Entscheidungen aber die Gewerkschaftsinstanzen. Und so hat der Verrat des 18. Oktober nichts mit dem Verrat des Metallarbeiterstreiks zu tun. Die Gewerkschaftsinstanzen sind nicht verantwortlich für den 18. Oktober, die Parteiinstanzen sind nicht verantwortlich für den Verrat am Metallarbeiterstreik. Man erinnert sich, wie bei der bekannten Aufgabe der Betriebsbesetzung in Italien, die der Wendepunkt für die Niederlage der Arbeiterklasse und den Vormarsch des Faschismus war, die sozialdemokratischen Instanzen entdeckten, daß diese Frage zur „Kompetenz“ der Gewerkschaften gehöre und unter diesem Vorwand der stärksten revolutionären Massenaktion des italienischen Proletariats das Rückgrat brechen halfen. In Wirklichkeit war dies eine politische Entscheidung erster Ordnung – die Entscheidung, ob die italienische Arbeiterklasse den begonnenen Kampf um die Macht entschlossen zu Ende führe oder sich selbst für besiegt erkläre.

Die Niederlage im Berliner Metallarbeiterstreik ist von kaum geringerer politischer Bedeutung. Sie bedeutet eine durch die Schuld der Führung verlorene Hauptschlacht gegen den Unternehmerangriff und gegen den Faschismus. Der unter dem schärfsten Druck der Wirtschaftskrise mit überwältigender Mehrheit gefaßte Streikbeschluß, die geschlossene Durchführung des Streikes selbst, sind der Beweis dafür, daß in der Masse eine elementare, revolutionäre Kraft zum Ausbruch drängte. Der unter diesen Umständen gefaßte Streikbeschluß war weit mehr als ein gewöhnlicher gewerkschaftlicher Streikbeschluß. Er offenbarte einen hochgespannten politischen Kampfwillen der Arbeiter. Er war Ausdruck des Willens zum politischen Gegenangriff gegen den Kapitalsangriff und gegen den Faschismus. Diesem Kampfwillen freien Lauf lassen, ihn sich entfalten lassen, das bedeutete das Ingangsetzen einer mit revolutionären Konsequenzen schwangeren, dem Machtkampf zustrebenden Massenaktion. Das aber hieß nicht nur die Entscheidung des 18. Oktober aufheben, das hieß 12 Jahre sozialdemokratischer Politik im Dienste der Erhaltung, Sicherung und Befestigung der kapitalistischen Wirtschaft preisgeben, das hieß, in das für die Sozialdemokratie grauenvolle Meer der revolutionären Aktion steuern.

Darum haben die Gewerkschaftsinstanzen und hat die Sozialdemokratie nicht nur nicht das geringste Positive getan, um den Metallarbeiterkampf in einen allgemeinen politischen Kampf zu verwandeln, um die gesamte Arbeiterklasse zu seiner Unterstützung aufzurufen, um die Ziele des Kampfes zu allgemeinen politischen Zielen, zu einem Generalangriff gegen die herrschenden Klassen zu steigern, was nur bedeutet hätte, die eigene Logik dieses Kampfes zu vollziehen; sondern sie hat sich planmäßig bemüht, ihn dem Umfang und der Zielsetzung nach in den engsten möglichen Grenzen zu halten und ihn, so rasch das überhaupt ging, abzubrechen. Die sozialdemokratische Führung hat der Massenbewegung das Rückgrat gebrochen. Die Kommunistische Partei aber hat weder die politische Aufgabe gesehen, die dieser Streik stellte, noch hatte ihr Versuch außerhalb der Gewerkschaften die Bewegung gegen die Gewerkschaftsinstanzen zu führen, irgendeinen Erfolg und konnte ihn nicht haben. Aber wenn je, so war hier eine klassische Situation, um, gestützt auf den ungestümen und entschlossenen Kampfwillen der Mitglieder des Metallarbeiterverbandes, gestützt auf die Sympathien und das Verständnis der übrigen Arbeiterschaft, innerhalb des Metallarbeiterverbandes die sabotierende sozialdemokratische Führung zu überrennen und den Streik gegen sie durchzuführen und zu einer politischen Massenaktion erster Ordnung auszuweiten. Hätte man, statt zwei Jahre ultralinke RGO-Taktik zu betreiben und dadurch alle Positionen und Funktionen im Metallarbeiterverband preiszugeben, kommunistische Eroberungsarbeit im Metallarbeiterverband geleistet, so wären alle nötigen Voraussetzungen dafür vorhanden gewesen, so hätten die Kommunisten wirklich die Führung des Kampfes den Reformisten aus der Hand nehmen können. So aber lief die Kommunistische Partei ohnmächtig, aber mit eitlen Prahlereien neben der Bewegung her, und die Plakate, daß die RGO den „Streik führe“, konnten kaum diejenigen täuschen, die seit Jahren sich und anderen weismachen wollen, daß es genüge, möglichst laut zu behaupten, daß man führe, um auch wirklich zu führen. Es ist das die Methode Coué, angewandt auf die Politik, also der reine Scharlatanismus. Die Verantwortung dafür trägt nicht nur die „Führung“ der KPD, sondern auch die der Kommunistischen Internationale und der Roten Gewerkschaftsinternationale.

Eine Hauptschlacht gegen den Kapitalangriff und den Faschismus ist verloren, verloren durch den Verrat der Sozialdemokratie und durch die ultralinke Quacksalberei der offiziellen Kommunistischen Partei. Daran wird nichts geändert dadurch, daß der Schiedsspruch, der den Ausgangspunkt des Streikes bildete, nicht für verbindlich erklärt worden ist und daß vielleicht der neue Schiedsspruch, dem beide Parteien sich fügen sollen, zunächst einige Prozente Lohnkürzung weniger bringen wird – jedermann weiß, daß das nur zu bedeuten hat, daß die Unternehmer nun die Lohnherabsetzung, statt mit einem Schlag, in mehreren Etappen durchführen wollen. Das Kapital setzt jetzt an die Stelle der Niederwerfungsstrategie, die sich zunächst als undurchführbar erwies, die Ermattungsstrategie, den Schützengrabenkrieg.

Das für das Kapital Entscheidende ist, daß es ihm im Bunde mit den sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern gelungen ist, die Arbeiter zu entwaffnen und sie vom Kampfplatz zu entfernen, die Aktion der Massen zum Abbruch zu bringen. Damit ist für das Kapital alles gewonnen.

Auch hier liegt die Analogie mit der italienischen Betriebsbesetzung auf der Hand. Nachdem die Arbeiter die besetzten Betriebe aufgegeben hatten, hatten die italienischen Kapitalisten das Spiel gewonnen. Sie gestanden den Arbeitern sogar auf dem Papier die Betriebskontrolle zu; das hatte aber keinerlei Bedeutung mehr, nachdem die Arbeiter tatsächlich das Kampffeld verlassen und abgerüstet hatten. Die italienischen Kapitalisten zogen sofort und rücksichtslos die Konsequenzen aus der zu ihren Gunsten veränderten Kampflage. Sie setzten die Faschisten zum Gegenangriff ein. Jetzt begann jene zweijährige Kampagne des faschistischen Terrors gegen die Arbeiterklasse, deren Endergebnis die faschistische Machtergreifung war. Im Gefolge des verratenen und verlorenen Metallarbeiterkampfes kommt naturgemäß die Entmutigung, Verwirrung und Zersetzung der Arbeiter, denen die eigene Führung den Dolchstoß in den Rücken versetzt hat. Es kommt der kombinierte weitere Angriff der Kapitalisten und der Faschisten. Der Klassengegner macht sich an die Verfolgung, und je drohender die Kampfkraft der Arbeiter, die dieser Streik offenbarte, um so rücksichtsloser wird diese Verfolgung sein.

Die Nationalsozialisten, die aus taktisch-demagogischen Gründen, wie sie jetzt selbst vor den Unternehmern kund tun, den Streik unterstützt haben, weil sie ihn nicht hindern konnten und sonst ihre eigenen Anhänger vor den Kopf gestoßen hätten, machen jetzt eine Kehrtwendung. Sie schüren jetzt rücksichtslos die Empörung der Arbeiter gegen den Verrat der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer, um einen konterrevolutionären Schlag zu führen gegen die Existenz der Gewerkschaften selbst.

Die Führung der Kommunistischen Partei ruft jetzt auf zur Gründung eines „Roten Metallarbeiterverbandes“. Die vom 4. RGI-Kongreß eingeleitete ultralinke Gewerkschaftspolitik gelangt jetzt zu dem logischen Ende, das die kommunistische Opposition, allen offiziellen Leugnungen gegenüber, vom ersten Augenblick voraussah und voraussagte. Die Gewerkschaftsspaltung, die Gründung eigener „revolutionärer“ Gewerkschaften wird Tatsache, ist schon Tatsache in dem Augenblick, wo dieses Blatt erscheint.

Das Schicksal und die Wirkungen des „Roten Metallarbeiterverbandes“ und etwaiger anderer revolutionärer Gewerkschaften, deren Gründung sich etwa anschließen wird, läßt sich ohne besondere Prophetengabe voraussehen. Diese revolutionären Gewerkschaften werden ohnmächtige Minderheits- und Splittererorganisationen sein. Sie werden sich infolge der Hoffnungen, die sie bei ihren Anhängern erwecken, auch unter den ungünstigsten Kampfchancen in Kämpfe wagen müssen und Niederlage nach Niederlage einheimsen. Den Niederlagen werden die Maßregelungen, wird die Reinigung der Betriebe von Kommunisten folgen. An ihre Stelle wird der Unternehmer Faschisten oder Gelbe setzen. Auf der anderen Seite werden auch die Kampfchancen für die reformistischen Verbände geschwächt. Die reformistischen Gewerkschaftsführer werden jedem Kampf ausweichen können unter Hinweis auf die Gewerkschaftsspaltung. Die Enttäuschung wird schnell einsetzen in den „revolutionären“ Verbänden. Ein Teil der Mitglieder wird den Faschisten Rekruten liefern. Die Entmutigung wird auch wachsen in den reformistischen Verbänden.

Die Voraussetzungen für den Erfolg des von Kapitalisten und Faschisten geführten Generalangriffs gegen den Bestand der Gewerkschaften werden die denkbar günstigsten sein.

Was das für den weiteren Vormarsch der Faschisten und den faschistischen Machtkampf bedeutet, bedarf keiner näheren Ausführung.

Der Metallarbeiterstreik konnte der Anlauf zu den außerparlamentarischen Massenaktionen sein, die dem Faschismus Halt gebieten, den Kapitalangriff zurückwerfen und zum Machtkampf der Arbeiterklasse führen konnten. Die Niederlage in diesem Kampf setzt auf die Tagesordnung die Verschärfung und Beschleunigung des faschistischen Machtkampfes. Eine Hauptschlacht ist verloren, aber noch ist der Feldzug für die Arbeiterklasse nicht verloren. Das nächste Kettenglied, das jetzt aufgenommen werden muß, das ist die Stärkung der Opposition in den reformistischen Gewerkschaften durch die kommunistische Opposition. Die kommunistische Opposition muß jetzt in verstärktem Maße die Ausbildung einer breiten und zielbewußten Opposition in den reformistischen Gewerkschaften in die Hand nehmen, die den schärfsten Kampf gegen die reformistischen Gewerkschaftsführer führt und auf neuen Kampfeinsatz der Gewerkschaften hinsteuert.

So schwer unter den gegebenen Umständen die Erfüllung dieser Aufgabe ist, so ist sie nicht aussichtslos. Wenn der Metallarbeiterstreik die unverbesserliche Verräterei der reformistischen Führung offenbart hat, so auch den stürmischen Kampfwillen der Gewerkschaftsmitglieder. Dieser Kampfwille erhält durch den Verrat der Führung einen schweren Schlag, aber er ist gewiß noch nicht gänzlich erschöpft. Die Aufgabe besteht darin, ihn aufs neue anzufachen und durch eine starke Opposition in den Gewerkschaften die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß kommende Aktionen über verräterische Führungen hinweggehen und aus dem engen Bett des nur gewerkschaftlichen Kampfes hinübergeleitet werden in das breite Strombett des politisch-revolutionären Kampfes.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008