Leo Trotzki

 

Ergebnisse und Perspektiven



3. 1789 – 1848 – 1905 ...

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wie oft man auch die russische Revolution mit der Großen Französischen Revolution vergleichen mag, die eine wird dadurch noch lange nicht eine bloße Wiederholung der zweiten. Das 19. Jahrhundert ist nicht umsonst vergangen.

Schon das Jahr 1848 stellt einen riesigen Unterschied gegenüber 1789 dar. Im Vergleich zur Großen Revolution überraschten die preußische oder österreichische durch ihre Schwunglosigkeit. Sie kamen einerseits zu früh, andererseits zu spät. Die gigantische Kraftanstrengung, die die bürgerliche Gesellschaft braucht, um radikal mit den Herren der Vergangenheit abzurechnen, kann nur entweder durch die machtvolle Einheit der ganzen Nation, die sich gegen den feudalen Despotismus erhebt, oder durch eine mächtige Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb dieser sich emanzipierenden Nation erreicht werden. Im ersten Fall, der zwischen 1789 und 1793 gegeben war, wird die durch den schrecklichen Widerstand der alten Ordnung konzentrierte nationale Energie im Kampf gegen die Reaktion völlig verbraucht. Im zweiten Fall, der bisher in der Geschichte noch nicht dagewesen ist und den wir lediglich als Möglichkeit erwägen, wird das Maß an Energie, das zum Sieg über die dunklen Mächte der Vergangenheit notwendig ist, innerhalb der bürgerlichen Nation durch einen „strittigen“ Klassenkampf erzeugt. Die harten inneren Konflikte, die einen Großteil der Energie verschlingen und der Bourgeoisie die Möglichkeit rauben, die Hauptrolle zu spielen, stoßen ihren Antagonisten vorwärts, geben ihm in einem Monat die Erfahrungen von Jahrzehnten, stellen ihn an die vorderste Front und händigen ihm die straffgezogenen Zügel aus. Entschieden, keine Zweifel kennend, verleiht er den Ereignissen einen mächtigen Schwung.

Entweder eine Nation, die sich wie ein zum Sprung ansetzender Löwe zu einem Ganzen zusammenzieht, oder eine Nation, die sich im Prozeß des Kampfes endgültig gespalten hat, um ihren besten Teil für die Erfüllung der Aufgabe freizumachen, für die das Ganze nicht mehr Kraft genug hat. Dies sind zwei entgegengesetzte Typen, die sich in ihrer reinen Form natürlich nur theoretisch gegenüberstellen lassen.

Ein Mittelweg ist hier wie in so vielen anderen Fällen, das allerschlimmste; auf diesem Mittelweg befand sich das Jahr 1848.

In der heroischen Periode der französischen Geschichte sehen wir eine aufgeklärte, aktive Bourgeoisie vor uns, die noch nicht die Widersprüche ihrer Position entdeckt hatte. Die Geschichte hatte ihr die Aufgabe der Führung im Kampf um die neue Ordnung der Verhältnisse nicht nur gegen die überholten Institutionen Frankreichs, sondern auch gegen die reaktionären Kräfte ganz Europas übertragen. Die Bourgeoisie begreift sich folglich in allen ihren Fraktionen insgesamt als der Führer der Nation, zieht die Massen in den Kampf hinein, gibt ihnen die Losungen und diktiert ihnen die Taktik des Kampfes. Die Demokratie vereint die Nation unter einer politischen Ideologie. Das Volk – Kleinbürger, Bauern und Arbeiter – wählt Bürger zu seinen Deputierten, und die Aufträge, die ihnen von der Masse erteilt werden, sind in der Sprache einer Bourgeoisie niedergeschrieben, die sich ihrer messianischen Rolle bewußt ist. Während der Revolution selbst treten Klassenantagonismen zwar auch deutlich hervor, aber der einmal erreichte Schwung des revolutionären Kampfes räumt konsequent die verknöcherten Elemente der Bourgeoisie politisch aus dem Weg. Keine Schicht löst sich ab, ohne vorher ihre Energie auf die nachfolgenden zu übertragen. Die Nation als ganze setzt dabei den Kampf für ihre Ziele mit immer schärferen und entschlosseneren Mitteln fort. Als sich die Spitzen der vermögenden Bourgeoisie von dem Kern der in Gang gekommenen nationalen Bewegung lossagen und ein Bündnis mit Ludwig XVI. eingehen, führen die demokratischen Forderungen der Nation, die bereits gegen diese Bourgeoisie gerichtet sind, zum allgemeinen Wahlrecht und zur Republik als den logisch unvermeidlichen Formen der Demokratie.

Die Große Französische Revolution ist in der Tat eine nationale Revolution. Mehr noch: hier findet im nationalen Rahmen der weltweite Kampf der bürgerlichen Gesellschaftsordnung um Herrschaft, Macht und ungeteilten Sieg seinen klassischen Ausdruck.

Jakobinismus ist heute ein Schimpfwort auf den Lippen aller liberalen Klugschwätzer. Der bürgerliche Haß auf die Revolution, auf die Massen, auf die Gewalt, auf die Macht der Geschichte, die auf der Straße gemacht wird, hat sich zu einem Schrei der Entrüstung und Angst konzentriert: Jakobinismus! Wir, die Weltarmee des Kommunismus, haben unsere historische Abrechnung mit dem Jakobinertum schon lange hinter uns. Die gesamte internationale proletarische Bewegung der Gegenwart ist entstanden und erstarkt in der Auseinandersetzung mit den Traditionen des Jakobinismus. Wir haben ihn einer theoretischen Kritik unterworfen, seine historische Beschränktheit aufgezeigt, seine gesellschaftliche Widersprüchlichkeit, seinen Utopismus, seine Phraseologie entlarvt, wir haben mit seinen Überlieferungen gebrochen, die jahrzehntelang als heiliges Erbe der Revolution gegolten hatten.

Aber gegen die Angriffe, Verleumdungen und geistlosen Beschimpfungen von Seiten des blutleeren phlegmatischen Liberalismus nehmen wir den Jakobinismus in Schutz. Das Bürgertum hat alle Traditionen seiner historischen Jugend schmählich verraten, seine gegenwärtigen Söldlinge entehren die Gräber seiner Ahnen und verlästern die Überreste seiner Ideale. Das Proletariat nimmt die Ehre der revolutionären Vergangenheit des Bürgertums in Schutz. Das Proletariat, das in seiner Praxis so radikal mit den revolutionären Traditionen des Bürgertums gebrochen hat, schützt diese als das Erbe von großen Leidenschaften, von Heroismus und Initiative, und sein Herz schlägt voller Sympathie für die Reden und Taten des jakobinischen Konvents.

Was verlieh dem Liberalismus seine Anziehungskraft wenn nicht die Traditionen der Großen Französischen Revolution! In welcher anderen Periode stieg die bürgerliche Demokratie zu solcher Höhe empor, entzündete eine solche Flamme im Herzen des Volkes wie die jakobinische, sansculottische, terroristische Demokratie Robespierres vom Jahre 1793?

War es denn nicht der Jakobinismus, der es dem bürgerlichen französischen Radikalismus verschiedener Schattierungen ermöglichte und noch immer ermöglicht, einen riesigen Teil des Volkes, selbst des Proletariats, bis auf den heutigen Tag in Bann zu halten – und dies zu einer Zeit, wo der bürgerliche Radikalismus in Deutschland und Österreich seine kurze Geschichte mit nutzlosen und kläglichen Taten ausgefüllt hat?

War es denn nicht die Anziehungskraft des Jakobinismus, seiner abstrakten politischen Ideologie, seines Kultes der Heiligen Republik, seiner feierlichen Deklamationen, von dem sich selbst heute noch die französische Radikalen und Radikalsozialisten wie Clemenceau, Millerand, Briand, Bourgeois und all die Politiker ernähren, die die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft nicht schlechter zu bewahren verstehen als die von Gottes Gnaden stumpfsinnigen Junker Wilhelms II., die von der bürgerlichen Demokratie anderer Länder so hoffnungslos beneidet werden, während sie zur gleichen Zeit die Quelle ihrer politischen Vorzugsstellung – den heroischen Jakobinismus – mit Verleumdungen überschütten? Selbst nachdem viele Hoffnungen zerstört waren, lebte er im Bewußtsein des Volkes als Überlieferung weiter; noch lange sprach das Proletariat von seiner Zukunft in der Sprache der Vergangenheit. Im Jahre 1840, fast ein halbes Jahrhundert nach der Regierung der „Bergpartei“, acht Jahre vor den Junitagen des Jahres 48, besuchte Heine mehrere Werkstätten in der Vorstadt Saint-Marceau und sah, was die Arbeiter, „der kräftigste Teil der unteren Klasse“, lasen. „Dort fand ich nämlich“, so berichtet er an eine deutsche Zeitung, „mehrere neue Ausgaben der Reden des alten Robespierre, auch von Marats Pamphleten, in Lieferungen zu zwei Sous, die Revolutionsgeschichte Cabets, Cormenins giftige Libelle, Babeufs Lehre und Verschwörung von Buonarotti – alles Schriften, die wie nach Blut rochen; „... Als eine Frucht dieser Saat“, prophezeit der Dichter, „droht aus Frankreichs Boden früher oder später die Republik hervorzubrechen.“ [5]

Im Jahre 1848 war die Bourgeoisie bereits unfähig, eine vergleichbare Rolle zu spielen. Sie war weder willens noch kühn genug, die Verantwortung für die revolutionäre Beseitigung der Gesellschaftsordnung zu übernehmen, die ihrer Herrschaft im Weg stand. Wir wissen inzwischen auch warum. Ihre Aufgabe bestand darin – hierüber legte sie sich klar Rechenschaft ab – Garantien in das alte System einzubauen, die nicht für ihre politische Herrschaft, sondern lediglich für eine Teilung der Macht mit den Kräften der Vergangenheit notwendig waren. Sie hatte ein wenig gelernt durch die Erfahrung der französischen Bourgeoisie, war korrumpiert durch ihren Verrat und eingeschüchtert von ihren Fehlschlägen. Sie versäumte nicht nur, die Massen zum Sturm auf die alte Ordnung anzuführen, sondern suchte ihren Rückhalt bei der alten Ordnung, um die Masse abzuwehren, die sie vorwärtsstieß.

Die französische Bourgeoisie verstand es, ihre Revolution groß zu machen. Ihr Bewußtsein war das Bewußtsein der Gesellschaft, und nichts konnte sich in feste Institutionen verwandeln, ohne vorher von ihrem Bewußtsein als ihr Ziel, als ihre Aufgabe politischer Schöpferkraft anerkannt zu werden. Häufig griff sie zur theatralischen Pose, um die Beschränktheit ihrer eigenen bürgerlichen Welt vor sich selbst zu verbergen – aber sie marschierte vorwärts.

Die deutsche Bourgeoisie hingegen „machte“ von Anfang an die Revolution nicht, sondern sagte sich von ihr los. Ihr Bewußtsein rebellierte gegen die objektiven Bedingungen der eigenen Herrschaft. Zur Revolution konnte es nicht durch sie, sondern nur gegen sie kommen. Demokratische Institutionen stellten sich in ihrem Kopf nicht als das Ziel ihres Kampfes dar, sondern als eine Gefährdung ihres Wohlergehens.

Im Jahre 48 bedurfte es einer Klasse, die fähig gewesen wäre, die Ereignisse ohne die Bourgeoisie und im Widerspruch zu ihr in die Hand zu nehmen, die bereit gewesen wäre, sie nicht nur mit ganzer Kraft vorwärtszustoßen, sondern auch im entscheidenden Moment ihren politischen Leichnam aus dem Wege zu räumen.

Weder das Kleinbürgertum noch die Bauernschaft war hierzu fähig.

Das städtische Kleinbürgertum stand nicht nur dem Gestern, sondern auch dem Morgen feindselig gegenüber. Noch immer war es eingezwängt in mittelalterliche Verhältnisse – aber schon unfähig, sich gegenüber der „freien“ Industrie zu behaupten; noch prägte es die Züge der Städte – aber es trat bereits seinen Einfluß an die mittlere und große Bourgeoisie ab; ertränkt in seinen Vorurteilen, betäubt vom Lärm der Ereignisse, ausgebeutet und selbst ausbeutend, gierig und hilflos in seiner Gier, konnte die zurückgebliebene Kleinbourgeoisie nicht an der Spitze der Weltereignisse stehen.

Der Bauernschaft fehlte in noch größerem Maße eine selbständige politische Initiative. Seit Jahrhunderten geknechtet, verarmt, wütend, in sich alle Fäden der alten wie der neuen Ausbeutung vereinend, stellte die Bauernschaft in einem bestimmten Moment eine reiche Quelle chaotischer revolutionärer Kraft dar. Aber zersplittert, verstreut, zurückgeworfen von den Städten, den Nervenzentren von Politik und Kultur, stumpf, in ihrem Gesichtskreis auf die nächste Umgebung beschränkt, gleichgültig gegenüber allen städtischen Gedanken, konnte der Bauernschaft keine Bedeutung als führende Kraft zukommen. Sie gab Ruhe, sobald nur die Bürde der feudalen Verpflichtungen von ihr genommen war, und sie lohnte es der Stadt, die für ihre Rechte gekämpft hatte, mit krasser Undankbarkeit: die befreiten Bauern wurden zu Fanatikern der „Ordnung“.

Die demokratische Intelligenz, ohne die Macht einer Klasse, hing bald als eine Art politischer Nachhut im Schlepptau ihrer älteren Schwester, der liberalen Bourgeoisie; dann wieder trennte sie sich von ihr in kritischen Momenten, um ihre eigene Ohnmacht unter Beweis zu stellen. Sie verfing sich selbst in unlösbaren Widersprüchen und trug diese Verwirrung überall mit sich herum.

Das Proletariat war zu schwach, war ohne Organisation, ohne Erfahrung und Wissen. Die kapitalistische Entwicklung war weit genug gegangen, um die Abschaffung der alten feudalen Verhältnisse notwendig zu machen, aber nicht weit genug, um die Arbeiterklasse, das Produkt der neuen Produktionsverhältnisse, als eine entscheidende politische Kraft hervortreten zu lassen. Der Antagonismus zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie hatte sich selbst im nationalen Rahmen Deutschlands zu weit entwickelt, als daß es der Bourgeoisie noch möglich gewesen wäre, furchtlos in der Rolle eines nationalen Vorkämpfers zu figurieren, aber nicht weit genug, als daß diese Rolle vom Proletariat hätte übernommen werden können. Die inneren Reibungen der Revolution bereiteten das Proletariat zwar auf die politische Selbständigkeit vor, schwächten aber zugleich die Energie und Geschlossenheit der Aktion, ließen die Kräfte fruchtlos vergeuden und zwangen die Revolution, nach den ersten Erfolgen untätig auf der Stelle zu treten, um dann unter den Schläger der Reaktion den Rückzug anzutreten.

Österreich hat ein besonders klares und tragisches Musterbeispiel für diese Unreife und Unabgeschlossenheit politischer Verhältnisse in der Revolutionsperiode geliefert.

Das Wiener Proletariat zeigte 1848 einen erstaunlichen Heroismus und unerschöpfliche Energie. Wieder und wieder ging es in das Feuer, allein getrieben von einem dumpfen Klasseninstinkt, ohne eine allgemeine Vorstellung von den Zielen des Kampfes; es tastete sich von einer Losung zur anderen. Die Führung des Proletariats ging – erstaunlicherweise – auf die Studentenschaft über, die einzige aktive demokratische Gruppe, die dank ihrer Aktivität einen großen Einfluß auf die Massen und folglich auch auf die Ereignisse hatte. Die Studenten konnten zweifellos tapfer auf den Barrikaden kämpfen und sich ehrenvoll mit den Arbeitern verbrüdern, aber sie waren völlig unfähig, dem Fortgang der Revolution, der ihnen die „Diktatur“ der Straße übergeben hatte, die Richtung zu weisen.

Das Proletariat, zersplittert, ohne politische Erfahrung und ohne selbständige politische Führung, folgte den Studenten. In jedem kritischen Augenblick boten die Arbeiter unbeirrbar den „Herren, die mit dem Kopf arbeiten“ die Hilfe derer an, „die mit ihren Händen arbeiten“. Einmal riefen die Studenten die Arbeiter zusammen, dann wieder versperrten sie ihnen den Weg in das Stadtzentrum. Mitunter verboten sie ihnen kraft ihrer politischen Autorität, die auf den Waffen der akademischen Legion beruhte, eigene selbständige Forderungen zu erheben. Es war dies die klassisch-klare Form der wohlwollenden revolutionären Diktatur über das Proletariat.

Folgendes war das Ergebnis dieser gesellschaftlichen Umstände. Als am 26. Mai alle Arbeiter Wiens dem Ruf der Studenten folgten und sich auf die Beine machten, um gegen die Entwaffnung der Studentenschaft (der „akademischen Legion“) zu kämpfen, als die Bevölkerung der Hauptstadt, die alles mit Barrikaden übersäte, sich als erstaunlich mächtig erwies und von der ganzen Stadt Besitz ergriffen hatte, als hinter dem bewaffneten Wien Österreich stand, als die Monarchie, die sich auf der Flucht befand, jede Bedeutung verloren hatte, als auf den Druck des Volkes hin auch die letzten Truppen aus der Hauptstadt abgezogen worden waren, als die Regierungsmacht Österreichs ein herrenloses Gut war – da fand sich keine politische Kraft, das Steuer zu übernehmen.

Die liberale Bourgeoisie wollte die Macht bewußt nicht übernehmen, die auf so räuberischem Weg übernommen worden war. Sie träumte nur von der Rückkehr des Kaisers, der sich aus dem verwaisten Wien nach Tirol zurückgezogen hatte.

Die Arbeiter waren tapfer genug, die Reaktion zu zerschlagen, aber nicht organisiert und bewußt genug, um deren Erbe anzutreten. Es gab eine kraftvolle Arbeiterbewegung, aber noch keinen entwickelten Klassenkampf des Proletariats, der sich bestimmte politische Ziele gesetzt hätte. Unfähig, selbst das Ruder zu ergreifen, konnte das Proletariat zu dieser großen historischen Tat auch nicht die bürgerliche Demokratie bewegen, die sich – wie schon so oft – im entscheidenden Augenblick versteckte. Um diesen Feigling zur Erfüllung seiner Pflichten zu zwingen, hätte das Proletariat auf jeden Fall nicht weniger Kraft und Reife benötigt als für die Organisation einer eigenen provisorischen Arbeiterregierung.

Alles in allem war es eine Situation, die ein Zeitgenosse völlig zutreffend mit den Worten charakterisiert: „In Wien war tatsächlich die Republik errichtet worden, aber unglücklicherweise bemerkte dies niemand“ ... Die Republik, von niemandem zur Kenntnis genommen, verschwand für lange Zeit von der Bildfläche und gab den Habsburgern den Weg frei ... Eine einmal verpaßte Gelegenheit kehrt nicht ein zweites Mal wieder.

Aus den Erfahrungen der ungarischen und deutschen Revolution zog Lassalle den Schluß, daß sich die Revolution von nun an nur noch auf den Kassenkampf des Proletariats stützen kann.

In seinem Brief an Marx vom 24. Oktober 1849 schreibt Lassalle: „Ungarn hatte mehr als jedes andere Land die Chance, den Kampf glücklich zu vollenden. Unter anderen Gründen aber auch deswegen, weil die Parteien dort noch nicht zu der bestimmten Trennung, zu dem scharfen Gegensatz gekommen waren wie in Westeuropa, weil die Revolution dort noch wesentlich in die Form eines nationalen Unabhängigkeitskampfes eingehüllt war. Dennoch unterlag Ungarn, und zwar gerade durch den Verrat der nationalen Partei.“

„Daher“, fährt Lassalle im Zusammenhang der Geschichte Deutschlands während der Jahre 1848 und 1849 fort, „habe ich die unerschütterliche Lehre gezogen, daß kein Kampf mehr in Europa glücken kann, der nicht von vornherein ein prononziert rein sozialistischer ist; daß kein Kampf mehr glücken wird, der die sozialen Fragen bloß als dunkles Element, als an sich seienden Hintergrund in sich trägt und äußerlich in der Form einer nationalen Erhebung oder des Bourgeoisrepublikanismus auftritt.“ [6]

Wir werden uns nicht bei der Kritik dieser entscheidenden Schlußfolgerungen aufhalten. Auf jeden Fall haben sie darin unbedingt recht, daß schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die nationale Aufgabe der politischen Emanzipation nicht durch den einmütigen und homogenen Druck der ganzen Nation gelöst werden konnte. Nur die unabhängige Taktik des Proletariats, das die Kraft für den Kampf aus seiner Klassenlage und nur aus ihr schöpfte, hätte den Sieg der Revolution gewährleisten können.

Die russische Arbeiterklasse des Jahres 1906 gleicht in keiner Weise der Wiener Arbeiterklasse von 48. Und der beste Beweis dafür ist die allrussische Praxis der Sowjets der Arbeiterdeputierten. Das waren keine genau vorbereiteten Verschwörerorganisationen, die in einem Moment der Erregung die Macht über die proletarische Masse ergriffen hatten. Nein, das waren Organe, die von dieser Masse selbst planmäßig zur Koordinierung ihres revolutionären Kampfes geschaffen wurden. Und diese, von der Masse gewählten und der Masse verantwortlichen Sowjets, diese unbedingt demokratischen Einrichtungen, führen eine äußerst entscheidende Klassenpolitik im Geiste des revolutionären Sozialismus.

Die gesellschaftlichen Besonderheiten der russischen Revolution erscheinen besonders deutlich in der Frage der Bewaffnung des Volkes. Eine Miliz (Nationalgarde) war die erste Losung und die erste Errungenschaft aller Revolutionen – 1789 und 1848 – in Paris, in allen Staaten Italiens, in Wien und Berlin. Im Jahre 48 war die Nationalgarde (d. h. die Bewaffnung der Besitzenden und „Gebildeten“) eine Losung der gesamten bürgerlichen Opposition, selbst der gemäßigtsten, aber ihre Aufgabe war nicht nur, die gewonnenen oder nur „gewährten“ Freiheiten gegen die Umsturzversuche von oben zu schützen, sondern auch, das bürgerliche Eigentum gegen die Übergriffe des Proletariats abzusichern. Das Verlangen nach einer Miliz war somit eine klare Klassenforderung der Bourgeoisie. „Die Italiener wußten sehr wohl“, bemerkt der liberale englische Historiker der italienischen Einigung, „daß die Bewaffnung der zivilen Miliz ein Fortbestehen des Despotismus unmöglich machen würde. Außerdem war sie eine Garantie für die besitzenden Klassen gegen eine mögliche Anarchie und jede Art von Volksunruhen.“ [A] Und die herrschende Reaktion, die in den wichtigsten Zentren nicht über genügend Militärmacht verfügte, um es mit der „Anarchie“, d. h. mit der revolutionären Masse aufnehmen zu können, bewaffnete die Bourgeoisie. Der Absolutismus überließ es zunächst den Bürgern, die Arbeiter zu unterdrücken und zu befrieden, und dann entwaffnete und befriedete er die Bürger selbst.

Bei uns findet die Forderung nach einer Miliz nicht die geringste Unterstützung bei den bürgerlichen Parteien. Eigentlich können die Liberalen nicht umhin, die Bedeutung der Bewaffnung zu verstehen: der Absolutismus hat ihnen in dieser Hinsicht einige anschauliche Lektionen erteilt. Aber sie verstehen auch, daß es bei uns absolut unmöglich ist, eine Miliz ohne oder gegen das Proletariat aufzustellen. Die russischen Arbeiter haben wenig Ähnlichkeit mit den Arbeitern von 48, die ihre Taschen mit Steinen vollstopften und Brecheisen zur Hand nahmen, während die Händler, Studenten und Advokaten königliche Musketen geschultert und Säbel an der Seite hatten.

Die Revolution zu bewaffnen, bedeutet bei uns vor allem die Bewaffnung der Arbeiter. Da die Liberalen dies wissen und fürchten, haben sie überhaupt auf die Miliz verzichtet. Kampflos überlassen sie dem Absolutismus diese Positionen geradeso wie der Bourgeois Thiers Paris und Frankreich Bismarck überließ, um nur nicht die Arbeiter zu bewaffnen.

In der Aufsatzsammlung Der konstitutionelle Staat, dem Manifest der liberal-demokratischen Koalition, sagt Herr Dschiwelegow in seiner Erörterung der Möglichkeit eines Staatsstreiches ganz richtig, daß „die Gesellschaft im entscheidenden Augenblick selbst die Bereitschaft zeigen muß, sich zum Schutz ihrer Verfassung zu erheben“. Da sich aber daraus ganz von selbst die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes ergibt, hält der liberale Philosoph es hier für „notwendig hinzuzufügen“, daß es für die Abwehr von Staatsstreichen „nicht im geringsten notwendig ist, daß jedermann die Waffen bereithalten müßte“. [B] Notwendig sei nur, daß die Gesellschaft selbst zum Widerstand bereit sei. Auf welchem Wege, das bleibt unbekannt. Wenn aus diesen Ausreden überhaupt etwas folgt, dann nur, daß in den Herzen unserer Demokraten die Furcht vor dem bewaffneten Proletariat die Furcht vor der Soldateska der Autokratie besiegt hat.

So fällt die Aufgabe, die Revolution zu bewaffnen, in ihrer ganzen Last dem Proletariat zu. Und die zivile Miliz, die Klassenforderung der Bourgeoisie von 48, tritt bei uns von Anfang an als die Forderung nach der Bewaffnung des Volkes und vor allem des Proletariats auf. In dieser Frage enthüllt sich das ganze Schicksal der russischen Revolution.

Fußnoten von Trotzki

A. Bol’ton King, Istorija obedinenija Italii [Geschichte der Einigung Italiens], Moskau, Bd. 1, S. 220.

B. Konstituzionnoje gosudarstwo, sbornik statej [Der konstitutionelle Staat, Aufsatzsammlung], 1. Aufl., S. 49.



Anmerkungen

5. Lutetia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, Brief vom 30. April 1840, in: H. Heine, Werke und Briefe, Berlin 1962, Bd. 6, S. 268.

6. vgl. Ferdinand Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, Dritter Band, ed. G. Mayer, Stuttgart-Berlin 1922, S. 14


Zuletzt aktualiziert am 5.9.2011