Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Vorwort

Anlaß zu diesem Buch gab Kautskys gelehrte Schmähschrift desselben Titels [1]). Die vorliegende Schrift ist in dem Zeitabschnitt der erbittertsten Kämpfe gegen Denikin und Judenitsch begonnen und zu wiederholten Malen durch die Ereignisse an der Front unterbrochen worden. In jenen schweren Tagen, als die ersten Kapitel geschrieben wurden, war die ganze Aufmerksamkeit Sowjetrußlands auf die rein militärischen Aufgaben gerichtet. Vor allem mußte die Möglichkeit des sozialistischen wirtschaftlichen Schaffens selbst verteidigt werden. Mit industriellen Arbeiten konnten wir uns nicht viel mehr beschäftigen, als zur Befriedigung der Fronten nötig war. Die wirtschaftliche Verleumdung Kautskys waren wir gezwungen, hauptsächlich mit Bezug auf seine politische Verleumdung zu entlarven. Die ungeheuerlichen Behauptungen Kautskys, als seien die russischen Arbeiter zur Arbeitsdisziplin und zur wirtschaftlichen Selbstbeschränkung nicht fähig, konnten wir bei Beginn dieser Arbeit – vor beinahe einem Jahr – zunächst durch Hinweise auf die hohe Diszipliniertheit und den Heldenmut der russischen Arbeiter an den Fronten des Bürgerkrieges widerlegen. Diese Erfahrung war mehr als ausreichend zur Widerlegung der kleinbürgerlichen Verleumdungen. Jetzt aber, nach einigen Monaten, können wir uns den Tatsachen und Beweisgründen zuwenden, die unmittelbar aus dem Wirtschaftsleben Sowjetrußlands geschöpft sind.

Sobald der militärische Druck nachgelassen hatte – nach der Zerschmetterung von Koltschak und Judenitsch und nach den entscheidenden Schlägen, die wir Denikin beigebracht hatten, nach dem Friedensschluß mit Estland und dem Beginn der Verhandlungen mit Litauen und Polen, vollzog sich im ganzen Lande ein wirtschaftlicher Umschwung. Die schnelle und konzentrierte Uebertragung der Aufmerksamkeit und Energie von den früheren Aufgaben auf Aufgaben gänzlich anderer Art, die aber nicht geringere Opfer erforderten, ist ein unwiderlegbares Zeugnis der machtvollen Lebensfähigkeit des Sowjetregimes. Trotz aller politischen Prüfungen, körperlichen Leiden und Schrecken sind die werktätigen Massen unendlich weit entfernt von politischer Auflösung, moralischem Verfall oder Gleichgültigkeit. Gerade durch das Regime, das ihnen zwar einerseits große Lasten aufgebürdet, andererseits aber ihrem Leben einen Sinn und ein hohes Ziel gegeben hat, bewahren sie sich eine hohe moralische Elastizität und eine in der Geschichte beispiellose Fähigkeit, die Aufmerksamkeit und den Willen auf Gesamtaufgaben, zu konzentrieren. Gegenwärtig wird in allen Industriezweigen ein energischer Kampf um die Festsetzung einer strengen Arbeitsdisziplin und um die Erhöhung der Produktivität der Arbeit geführt. Die Organisationen der Partei, die Gewerkschaftsverbände, die Fabrikleitungen wetteifern auf diesem Gebiet, unterstützt durch die gesamte öffentliche Meinung. Eine Fabrik nach der andern verlängert freiwillig durch Beschluß ihrer Generalversammlungen den Arbeitstag. Petersburg und Moskau gehen mit gutem Beispiel voran, und die Provinz richtet sich nach Petersburg. „Samstage“ und „Sonntage“, d. h. freiwillige und unbezahlte Arbeit in den Stunden, die eigentlich zur Erholung bestimmt sind, finden immer größere Verbreitung und ziehen Hunderttausende und Aberhunderttausende in ihren Kreis. Die Intensität und Produktivität der Arbeit am „Samstag“ und „Sonntag“ zeichnen sich, nach der Aussage von Fachleuten und dem Zeugnis der Zahlen, durch staunenswerte Höhe aus.

Die freiwilligen Mobilisationen für Arbeitsaufgaben werden in der Partei und im Jugendverband mit derselben Begeisterung durchgeführt, wie früher die Mobilisationen für Kampf auf gaben. Die freiwillige Arbeit ergänzt und beseelt die Arbeitspflicht. Die unlängst geschaffenen Komitees für Arbeitspflicht umfassen mit ihrem Netz das ganze Land. Die Heranziehung der Bevölkerung zu Massenarbeiten (Reinigen der Wege von Schnee, Reparatur der Eisenbahngeleise, Holzfällen, Holzbeschaffung und Transport, einfache Bauarbeiten, Gewinnung von Schiefer und Torf) nimmt immer breiteren und planmäßigeren Charakter an. Die immer ausgedehntere Heranziehung der Truppenteile zur Arbeit wäre ohne diese große Arbeitsbegeisterung ganz undurchführbar.

Es ist wahr, wir leben in Verhältnissen eines schweren wirtschaftlichen Verfalls, der Erschöpfung, der Arbeit, des Hungers. Das ist aber kein Beweisgrund gegen das Sowjetregime. Alle Uebergangszeiten waren durch ähnliche tragische Züge gekennzeichnet. Keine Klassengesellschaft (ob Sklaventum, ob feudale, ob kapitalistische Gesellschaft) verschwindet einfach vom Schauplatz, nachdem sie sich erschöpft hat, sondern sie wird durch angestrengten inneren Kampf gewaltsam hinweggefegt. Der Kampf legt den Beteiligten oft Entbehrungen und Leiden auf, die größer sind als die, gegen die sie sich erhoben hatten.

Der Uebergang von der Feudalwirtschaft zur bürgerlichen Wirtschaft – ein Umschwung von gewaltiger fortschrittlicher Bedeutung – stellt eine ungeheuere Leidensgeschichte dar. Wie sehr auch die Leibeigenen unter dem Feudalismus litten, wie schwer es auch das Proletariat unter der Herrschaft des Kapitalismus hatte und hat, niemals haben die Leiden der Werktätigen eine solche Schärfe erreicht, wie in dem Zeitabschnitt, wo das alte Feudalsystem gewaltsam zerbrochen wurde und dem neuen Regime Platz machte. Die französische Revolution des 18. Jahrhunderts, die ihren gigantischen Schwung dem Ansturm der gequälten Massen verdankte, vertiefte und verschärfte deren Leiden für längere Zeit außerordentlich.

Palastrevolutionen, die nur zu einem Personenwechsel an der Spitze führen, können in kurzer Zeit vollzogen werden, fast ohne sich im Wirtschaftsleben des Landes widerzuspiegeln. Anders die Revolutionen, die ganze Millionen Werktätiger in ihren Wirbel ziehen. Welche Form auch eine Gesellschaft haben mag, sie beruht auf der Arbeit. Dadurch, daß die Revolution die Volksmassen der Arbeit entzieht, sie für längere Zeit in den Kampf wirft und infolgedessen ihre Produktionsbeziehungen stört, bringt sie der Wirtschaft Schläge bei und drückt sie selbst unter den Zustand herab, den sie bei Beginn der Revolution erreicht hatte. Je tiefgehender die soziale Umwälzung ist, je größere Massen sie berührt, je länger sie dauert, desto mehr zerstört sie den Produktionsapparat, desto mehr verheert sie die Vorräte. Hieraus folgt der Schluß, der keines Beweises bedarf, daß der Bürgerkrieg die Wirtschaft schädigt. Aber die Schuld hieran dem Sowjetwirtschaftssystem aufbürden zu wollen, ist dasselbe, wie ein neues menschliches Wesen für die Geburtswehen der Mutter verantwortlich zu machen, die es zur Welt gebracht hat. Die Aufgabe besteht darin, den Bürgerkrieg zu verkürzen. Das jedoch wird nur durch Entschlossenheit des Handelns erreicht. Aber gerade gegen die revolutionäre Entschlossenheit ist das ganze Buch Kautskys gerichtet.

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Seit dem Erscheinen des Buches, das wir besprechen, haben sich nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt und vor allem in Europa die größten Ereignisse zugetragen oder haben sich bedeutende Prozesse, die die letzten Stützen des Kautskyanismus untergraben, weiter entwickelt.

In Deutschland hat der Bürgerkrieg einen immer erbitterteren Charakter angenommen. Die äußere organisatorische Macht der alten Partei- und Gewerkschaftsbürokratie der Arbeiterklasse hat nicht nur nicht die Bedingungen für einen friedlicheren und humaneren Uebergang zum Sozialismus geschaffen, wie die jetzige Theorie Kautskys es hinstellt, sondern sie ist im Gegenteil zu einer der Hauptursachen für den langwierigen Charakter des Kampfes und seine ständig wachsende Erbitterung geworden. Je konservativer die deutsche Sozialdemokratie geworden ist, desto mehr Kräfte, Leben und Blut muß das von ihr verratene deutsche Proletariat in den aufeinanderfolgenden Attacken gegen die Festen der bürgerlichen Gesellschaft verausgaben, um sich im Prozeß des Kampfes selbst eine neue, wirklich revolutionäre Organisation zu schaffen, die fähig ist, es zum endgültigen Siege zu führen. Die Verschwörung der deutschen Generale, ihre vorübergehende Machtergreifung und die darauf folgenden blutigen Ereignisse haben von neuem gezeigt, was für ein kläglicher und nichtiger Mummenschanz die sogenannte Demokratie unter den Bedingungen des Zusammenbruchs des Imperialismus und des Bürgerkrieges ist. Die Demokratie, die sich selbst überlebt hat, entscheidet nicht eine Frage, mildert nicht einen Gegensatz, heilt nicht eine Wunde, verhindert weder die Aufstände von rechts noch die von links – sie ist kraftlos, unbedeutend, verlogen und dient nur dazu, die rückständigen Schichten des Volkes, besonders das Kleinbürgertum, in Verwirrung zu bringen.

Die von Kautskv im Schlußteil seines Buches ausgedrückte Hoffnung, daß die westlichen Länder, die „alten Demokratien“ Frankreich und England, die zudem noch vom Siege gekrönt sind, uns das Bild der gesunden, normalen, friedlichen, echt kautskyanischen Entwicklung zum Sozialismus zeigen werden, ist eine der sinnlosesten Vorstellungen. Die sogenannte republikanische Demokratie des siegreichen Frankreich ist gegenwärtig die reaktionärste blutigste und verderbteste Regierung von allen, die jemals auf der Erde existiert haben. Ihre innere Politik ist in demselben Maße wie ihre auswärtige Politik auf Furcht, Gier und Vergewaltigung aufgebaut. Andererseits geht das französische Proletariat, das mehr als jemals irgend eine andere Klasse betrogen worden ist, immer mehr zur direkten Aktion über. Die kleinlichen Unterdrückungen, mit denen die Regierung der Republik die allgemeine Konföderation der Arbeit überhäuft hat, beweisen, daß sogar der syndikalistische Kautskyanismus, d. h. der heuchlerische Verständigungssozialismus, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie keinen legalen Platz finden kann. Die Revolutionierung der Massen, die Erbitterung der Besitzenden und der Zusammenbruch der Zwischengruppierungen – drei parallele Prozesse, die die Nähe des erbitterten Bürgerkrieges bedingen und verkünden – vollzogen sich vor unseren Augen während der letzten Monate in Frankreich in schnellem Tempo.

In England gehen die Ereignisse, wenn auch in der Form abweichend, denselben Hauptweg. In diesem Lande, dessen herrschende Klasse gegenwärtig mehr denn je die ganze Welt unterdrückt und beraubt, haben die demokratischen Formeln sogar als Werkzeug der parlamentarischen Taschenspielerei ihre Bedeutung verloren. Der auf diesem Gebiet tüchtigste Fachmann, Lloyd George, wendet sich jetzt nicht an die Demokratie, sondern an den Verband der konservativen und liberalen Besitzenden gegen die Arbeiterklasse. In seinen Argumenten ist auch nicht eine Spur von der demokratischen Verschwommenheit des „Marxisten“ Kautsky zu finden. Lloyd George steht auf dem Boden der Klassenrealitäten, und eben deshalb spricht er die Sprache des Bürgerkrieges. Die englische Arbeiterklasse mit dem ihr eigentümlichen schwerfälligen Empirismus nähert sich jenem Abschnitt ihres Kampfes, vor dem die heldenhaftesten Seiten der Kämpfe der Chartisten verblassen weiden, wie die Pariser Kommune verblassen wird vor dem nahen siegreichen Aufstand des französischen Proletariats.

Eben deshalb, weil die historischen Ereignisse während dieser Monate mit rauher Energie ihre revolutionäre Logik entwickeln, fragt der Verfasser des Buches sich, ob eine Veröffentlichung noch nötig sei. Ist es noch nötig, Kautsky theoretisch zu widerlegen? Besteht ein theoretisches Bedürfnis nach Rechtfertigung des revolutionären Terrorismus?

Leider – ja. Die Ideologie spielt in der sozialistischen Bewegung ihrem Wesen nach eine ungeheure Rolle. Sogar für das empirische England ist der Zeitpunkt eingetreten, wo die Arbeiterklasse ein ständig wachsendes Bedürfnis nach theoretischer Verallgemeinerung ihrer Erfahrungen und ihrer Aufgaben zeigt. Indessen hat die Psychologie, sogar die proletarische, die furchtbare Trägheit des Konservatismus, um so mehr, als es sich im gegebenen Fall um nichts anderes handelt, als um die überlieferte Ideologie der Parteien der Zweiten Internationale, die das Proletariat erweckt haben und noch unlängst so mächtig waren. Nach dem Zusammenbruch des offiziellen Sozialpatriotismus (Scheidemann, V. Adler, Renaudel, Vandervelde, Henderson, Plechanow u. a.) bildet der internationale Kautskyanismus (der Stab der deutschen Unabhängigen, Friedrich Adler, Longuet, ein beträchtlicher Teil der Italiener, Huysmans, die englischen „Unabhängigen“, die Gruppe Martow u. a.) den wichtigsten politischen Faktor, auf den sich das Gleichgewicht der kapitalistischen Gesellschaft stützt. Man kann sagen, daß der Wille der werktätigen Massen der ganzen zivilisierten Welt, der vom Gang der Ereignisse unmittelbar angetrieben wird, gegenwärtig ungleich revolutionärer ist als ihr Bewußtsein, auf dem noch die Vorurteile des Parlamentarismus und des Verständigungssozialismus lasten. Der Kampf um die Diktatur der Arbeiterklasse bedeutet für den Augenblick einen harten Kampf gegen den Kautskyanismus innerhalb der Arbeiterklasse. Die Lügen und die Vorurteile des Verständigungssozialismus, die noch die Atmosphäre, vergiften, müssen beiseite geworfen werden. Dem unversöhnlichen Kampf gegen den feigen, zur Halbheit neigenden und heuchlerischen Kautskyanismus aller Länder soll dieses Buch dienen.

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P. S. Jetzt (Mai 1920) haben sich über Sowjetrußland die Wolken wieder zusammengezogen. Das bürgerliche Polen hat durch seinen Ueberfall auf die Ukraine einen neuen Angriff des Weltimperialismus auf Sowjetrußland eröffnet. Die größten Gefahren, die von neuem die Revolution bedrohen, und die ungeheuren Opfer, die der Krieg den werktätigen Massen auferlegt, stoßen die russischen Kautskyaner wiederum auf den Weg des offenen Widerstandes gegen die Sowjetmacht, d. h. tatsächlich auf den Weg der Unterstützung der Würger des sozialistischen Rußland. Es ist das Schicksal der Kautskyaner, der proletarischen Revolution helfen zu wollen, wenn es gut um sie bestellt ist, und ihr alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen, wenn sie besonders hilfsbedürftig ist. Kautsky hat schon zu wiederholten Malen unseren Untergang vorausgesagt, der das beste Zeugnis dafür sein soll, daß er, Kautsky, theoretisch Recht habe. Dieser „Erbe Marx“ ist so tief gesunken, daß sein einziges ernstes politisches Programm die Spekulation auf den Zusammenbruch der proletarischen Diktatur ist.

Er wird auch dieses Mal fehlgehen. Die Zerschmetterung des bürgerlichen Polen durch die rote Armee, die von kommunistischen Arbeitern geführt wird, wird eine neue Manifestation der Macht der proletarischen Diktatur sein und gerade dadurch dem kleinbürgerlichen Skeptizismus (Kautskyanismus) in der Arbeiterbewegung den entscheidenden Schlag versetzen. Trotz der wahnsinnigen Wirrnis der äußeren Formen, Losungen und Farben hat unsere zeitgenössische Geschichte den Grundinhalt ihres Prozesses außerordentlich vereinfacht und läßt ihn auf den Kampf des Imperialismus gegen den Kommunismus hinauslaufen. Pilsudski kämpft nicht nur um die Länder der polnischen Magnaten in der Ukraine und in Weißrußland, nicht nur um den kapitalistischen Besitz und die katholische Kirche, sondern auch um die parlamentarische Demokratie, um den demokratischen Sozialismus, um die Zweite Internationale, um das Recht Kautskys, der kritische Schmarotzer der Bourgeoisie zu bleiben. Wir kämpfen um die Kommunistische Internationale und die internationale Revolution des Proletariats. Der Einsatz auf beiden Seiten ist hoch. Der Kampf wird hartnäckig und schwer sein. Wir hoffen auf den Sieg, denn mit uns ist das historische Recht.

Moskau, den 29. Mai 1920

L. Trotzki

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Anmerkung

1. Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte (!) der Revolution von Karl Kautsky, Berlin 1919.


Zuletzt aktualisiert am 8. Februar 2020