Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Karl Kautsky, seine Schule und sein Buch

Die österreichische marxistische Schule (Bauer, Renner, Hilferding, Max Adler, Friedrich Adler) wurde in früherer Zeit nicht selten der Schule Kautskys gegenübergestellt, als versteckter Opportunismus dem – echten Marxismus. Das erwies sich als völliges geschichtliches Mißverständnis, das die einen länger, die anderen weniger lange irreführte, aber letzten Endes sich mit voller Klarheit offenbarte: Kautsky ist der Begründer und der vollendetste Vertreter der österreichischen Fälschung des Marxismus. Während die wirkliche Lehre von Marx die theoretische Formel der Aktion, des Angriffes, der Entwicklung der revolutionären Energie, der vollendeten Führung des Klassenkampfes ist, verwandelte sich die österreichische Schule in die Akademie der Passivität und des Ausweichens, wurde vulgärhistorisch und konservativ, – reduzierte ihre Aufgabe darauf, die Erscheinungen zu erklären und zu rechtfertigen, statt sie auf die Aktion und auf die Niederwerfung zu richten, sie erniedrigte sich bis zur Rolle der Dienerin der laufenden Bedürfnisse des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Opportunismus, setzte an Stelle der Dialektik gaukelhafte Spitzfindigkeit und verwandelte sich letzten Endes trotz des großen Tam-Tam des vorschriftsmäßigen revolutionären Phrasenschwalles in die sicherste Stütze des kapitalistischen Staates mitsamt der sich über diesem erhebenden Throne und Altäre. Wenn die Throne in den Abgrund stürzten, so trifft die österreichische marxistische Schule keine Schuld dafür.

Was den österreichischen Marxismus auszeichnet, ist der Abscheu vor der revolutionären Aktion und die Angst vor ihr. Der österreichische Marxist ist fähig, eine Unmenge von Tiefsinn in der Erklärung des gestrigen Tages zu entfalten und einen beträchtlichen Wagemut in der Prophezeiung für den morgigen Tag zu zeigen, – aber für den heutigen hat er nie einen großen Gedanken, keine Voraussetzung zu einer großen Aktion. Der heutige Tag geht ihm unter dem Andrange von kleinen opportunistischen Sorgen verloren, die nachher als unverrückbares Glied zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgelegt werden.

Der österreichische Marxist ist unerschöpflich, wenn es sich um das Ausfindigmachen von Ursachen handelt, die die Initiative hindern und die revolutionäre Aktion erschweren. Der österreichische Marxismus ist eine gelehrte und gespreizte Theorie der Passivität und der Kapitulation. Es ist, versteht sich, kein Zufall, daß gerade in Oesterreich, in diesem durch unfruchtbare nationale Gegensätze zerrissenen Babylon, in diesem die Unmöglichkeit der Existenz und der Entwicklung verkörpernden Staate, die pseudo-marxistische Philosophie der Unmöglichkeit einer revolutionären Aktion entstanden ist und sich gekräftigt hat.

Die angesehensten Austro-Marxisten stellen, jeder in seiner Art, eine gewisse „.Individualität“ dar. In verschiedenen Fragen gingen sie nicht selten auseinander. Es gab sogar politische Differenzen unter ihnen. Im allgemeinen sind es aber die Finger ein- und derselben Hand.

Karl Renner bildet den prachtvollsten, künstlich gezogenen, in sich selbst am meisten verliebten Vertreter dieses Typus. Die Gabe der literarischen Nachahmung oder, einfacher, der stilistischen Täuschung ist ihm in hohem Maße gegeben. Seine feierlichen Maiartikel stellten eine vortrefflich stilisierte Kombination der allerersten vortrefflichsten Worte dar. Da aber sowohl die Worte, wie ihre Zusammenstellung in gewissem Umfange ihr eigenes selbständiges Leben führen, so weckten die Artikel von Renner in den Herzen vieler Arbeiter das revolutionäre Feuer, das ihr Verfasser, wie es scheint, nie gekannt hat.

Der Firlefanz der österreichisch-wienerischen Kultur, die Jagd nach der Aeußerlichkeit, nach dem Rang, nach dem Titel war Renner in höherem Maße eigen, als seinen übrigen Kommilitonen. Im Grunde blieb er stets nur k. u. k. Beamter, der sich der marxistischen Phraseologie vorzüglich zu bedienen verstand.

Die Verwandlung des Verfassers eines, durch sein revolutionäres Pathos berühmt gewordenen Jubiläumsartikels über Karl Marx in einen operettenhaften Kanzler, der den skandinavischen Monarchen seine Gefühle der Hochachtung und Dankbarkeit kundgibt, stellt eines der gesetzmäßigsten Paradoxe der Geschichte dar.

Otto Bauer ist gelehrter, prosaischer, ernster und langweiliger als Renner. Man kann ihm nicht die Fähigkeit in Abrede stellen, Bücher zu lesen, Tatsachen zu sammeln und Schlüsse zu ziehen – entsprechend den Aufgaben, die ihm die praktische Politik stellt, die von den anderen gemacht wird. Bauer hat keinen politischen Willen. Seine Hauptkunst besteht darin, in den brennendsten praktischen Fragen mit allgemeinen Redensarten davon zu kommen. Sein Denken – sein politisches Denken – führt stets mit seinem Willen ein Parallel-Dasein – sein Denken ist des Mutes bar. Seine Arbeiten sind stets nur gelehrte Kompilationen des begabten Schülers eines Universitätsseminars. Die schändlichsten Taten des österreichischen Opportunismus, die niedrigste Kriecherei der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie vor den Machthabern fanden in Bauer ihren tiefsinnigen Ausleger, der sich mitunter ehrerbietigst gegen die Form äußerte, dem Wesen aber zustimmte. Wenn es bei Bauer mal vorkam, daß er so etwas wie Temperament oder politische Energie an den Tag legte, so doch ausschließlich in dem Kampfe gegen den revolutionären Flügel – in der Anhäufung von Gründen und Tatsachen, sowie Zitaten gegen eine revolutionäre Aktion. Seine Höhe erreichte er zu jener Zeit (nach 1907), als er, noch zu jung, um Abgeordneter zu sein, die Rolle des Sekretärs der sozialdemokratischen Fraktion spielte, sie mit Material, Zahlen, Ideenersatz versorgte, sie anleitete, Konzepte verfaßte und sich selber als Triebkraft von großen Taten erschien, während er doch in Wirklichkeit bloß der Lieferant von Surrogaten und Falsifikaten für die parlamentarischen Opportunisten war.

Max Adler repräsentiert eine ziemlich komplizierte Abart des austromarxistischen Typus. Er ist ein Lyriker, ein Philosoph, ein Mystiker – der philosophische Lyriker der Passivität, wie Renner ihr Tagesschriftsteller und Rechtsgelehrter, wie Hilferding ihr Volkswirtschaftler, wie Bauer ihr Soziologe ist. Max Adler fühlt sich zu eng in der Welt der drei Dimensionen, obgleich er sich sehr komfortabel in dem Rahmen des Wiener spießerlichen Sozialismus und des habsburgischen Staates placierte. Die Vereinigung von kleinlicher advokatischer Sachlichkeit und politischer Kleinmütigkeit mit unfruchtbaren philosophischen Anstrengungen und billigen Kunstblüten des Idealismus, gewährten der durch Max Adler vertretenen Abart einen besonders faden und abstoßenden Charakter.

Rudolf Hilferding, wie auch die anderen, trat in die deutsche Sozialdemokratie fast als Rebell ein. Aber als Rebell österreichischen Schlages, – stets bereit, ohne Kampf zu kapitulieren. Hilferding hielt die äußere Beweglichkeit und Unstetigkeit der österreichischen Politik, in der er erzogen war, für revolutionäre Initiative und forderte im Laufe einer ganzen Reihe von Monaten, freilich in den bescheidensten Ausdrücken, von den Führern der deutschen Sozialdemokratie eine entschlossenere Politik. Aber die österreichisch-wienerische Unstetigkeit verfärbte sich bei ihm sehr schnell. Er unterwarf sich bald dem mechanischen Rhythmus Berlins und dem automatischen Geistesleben der deutschen Sozialdemokratie. Seine geistige Energie setzte er auf das rein theoretische Gebiet um, wo er freilich kein großes Wort gesprochen hat, – kein einziger Austro-Marxist hat auf irgend einem Gebiet ein großes Wort gesprochen – wo er aber nichtsdestoweniger ein ernstes Buch schrieb. Mit diesem Buche auf dem Rücken, wie ein Gepäckträger mit schwerer Last, trat er in die revolutionäre Epoche ein. Aber auch das gelehrteste Buch kann den Mangel an Willen, Initiative, revolutionärem Instinkt, politischer Entschlossenheit, ohne die eine Aktion unmöglich ist, nicht ersetzen ... Mediziner von Bildung, ist Hilferding zur Nüchternheit geneigt, und trotz seiner theoretischen Vorbildung ist er der primitivste Empiriker auf dem Gebiete der politischen Fragen. Die Hauptaufgabe des heutigen Tages besteht für ihn darin, nicht aus dem Gleis zu geraten, das ihm vom gestrigen Tage vermacht worden ist, und für diesen Konservatismus und diese spießbürgerliche Morschheit eine gelehrt-wissenschaftliche Rechtfertigung zu finden.

Friedrich Adler ist der sich am wenigsten gleichbleibende Vertreter des austro-marxistischen Typus. Er erbte von seinem Vater ein politisches Temperament. In dem kleinlichen Aufreiben der Kämpfe mit der Verworrenheit der österreichischen Verhältnisse erlaubte Friedrich Adler seiner ironischen Skepsis, die revolutionären Grundlagen seiner Weltanschauung endgültig zu zerstören. Das vom Vater ererbte Temperament stieß ihn in die Opposition gegen die von seinem Vater geschaffene Schule. In gewissen Momenten konnte Friedrich Adler geradezu als revolutionäre Negierung der österreichischen Schule erscheinen. In Wirklichkeit war und blieb er ihre notwendige Vollendung. Sein explosiver Revolutionarismus bedeutete scharfe Anfälle der Verzweiflung des österreichischen Opportunismus, der sich von Zeit zu Zeit vor seiner eigenen Nichtigkeit entsetzte.

Friedrich Adler ist Zweifler bis ins Mark seiner Knochen: er glaubt nicht an die Masse, an ihre Fähigkeit zur Aktion. Während Karl Liebknecht zur Zeit der höchsten Triumphe des deutschen Militarismus auf den Potsdamer Platz trat, um die unterdrückten Massen zu offenem Kampfe aufzurufen, ging Friedrich Adler in ein bürgerliches Restaurant, um dort den österreichischen Ministerpräsidenten zu ermorden. Durch seinen vereinzelten Schuß machte Friedrich Adler den erfolglosen Versuch, seinen eigenen Zweifeln ein Ende zu machen. Nach dieser hysterischen Anstrengung verfiel er in einen Zustand noch vollkommenerer Entkräftung.

Die schwarzgelbe Meute des Sozialpatriotismus (Austerlitz, Leuthner usw.) besudelte den Terroristen Adler mit dem ganzen Geifer ihres Pathos von Feiglingen. Als aber die scharfe Periode vorüber war und der verlorene Sohn aus dem Zuchthause mit dem Glorienschein des Märtyrers ins Vaterhaus zurückkehrte, zeigte er sich als doppelt und dreifach kostbar für die österreichische Sozialdemokratie. Der goldene Glorienschein des Terroristen wurde von den erfahrenen Falschmünzern der Partei in klingende Münze der Demagogie umgeprägt. Friedrich Adler wurde von den Massen zum Kronbürgen für die Taten der Austerlitz und Renner. Glücklicherweise unterscheiden die österreichischen Arbeiter die sentimentallyrische Entkräftung Friedrich Adlers immer weniger von der hochtrabenden Abgeschmacktheit Renners, der hoch- talmudischen Unfruchtbarkeit Max Adlers oder von der analytischen Selbstgefälligkeit Otto Bauers.

Die Feigheit des Denkens der Theoretiker der austro- marxistischen Schule offenbarte sich voll und ganz angesichts der großen Aufgaben der Revolutionszeit. In seinem unsterblichen Versuch, das Sowjetsystem in der Verfassung Ebert-Noskes zu verankern, gab Hilferding nicht nur seinem eigenen Geiste, sondern auch dem Geiste der gesamten austro-marxistischen Schule Ausdruck, die mit Beginn der revolutionären Epoche versuchte, sich genau um so viel mehr links von Kautsky zu stellen, als sie bis zur Revolution rechts gestanden hat.

Von diesem Gesichtspunkte aus ist die Ansicht Max Adlers über das Sowjetsystem höchst lehrreich.

Der Wiener eklektische Philosoph erkennt die Bedeutung der Sowjets an. Sein Mut geht so weit, daß er sie adoptiert. Er proklamiert sie direkt als Werkzeug der sozialen Revolution. Max Adler ist, versteht sich, für die soziale Revolution. Jedoch nicht für die stürmische, barrikadenhafte, terroristische, blutige, sondern für eine vernünftige, sparsame, ausgeglichene, juristisch-geheiligte, im philosophischen Revier approbierte.

Max Adler scheut nicht einmal davor zurück, daß die Sowjets gegen das „Prinzip“ der verfassungsmäßigen Teilung der Macht verstoßen (in der österreichischen Sozialdemokratie gibt es nicht wenig Tölpel, die in einem solchen Verstoß einen groben Mangel des Sowjetsystems sehen!), im Gegenteil sieht Max Adler, der Anwalt der Gewerkschaften und Rechtskonsulent der sozialen Revolution, in der Vereinigung der Macht sogar einen Vorzug, der den unmittelbaren Ausdruck des Willens des Proletariats gewährleistet. Max Adler ist für den unmittelbaren Ausdruck des Willens des Proletariats, jedoch nicht auf dem direkten Wege der Machtergreifung vermittelst der Sowjets. Er bringt eine sicherere Methode in Vorschlag. In einer jeden Stadt, in einem jeden Bezirk und Distrikt müssen die Arbeitersowjets die Polizisten und die sonstigen Beamten „kontrollieren“, ihnen den „Willen des Proletariats“ aufzwingen. Wie wird aber die „staatsrechtliche“ Stellung der Sowjets in der Republik der Seitz, Renner und Konsorten sein? Darauf antwortet unser Philosoph:

„Die Arbeiterräte werden letzten Endes so viel staatsrechtliche Macht erhalten, als sie sich durch ihre Tätigkeit sichern werden.“ (Arbeiter-Zeitung, Nr. 179, 1. Juli 1919)

Die proletarischen Sowjets sollen allmählich in die politische Macht des Proletariats hineinwachsen, wie früher – der Theorie des Reformismus nach – alle proletarischen Organisationen in den Sozialismus hineinwachsen sollten, was aber durch unvorhergesehene vierjährige Mißverständnisse zwischen den mitteleuropäischen Staaten und der Entente und durch alles, was daraus folgte, ein klein wenig verhindert wurde. Dem sparsamen Programm des planmäßigen Hineinwachsens in den Sozialismus ohne soziale Revolution war man zu entsagen gezwungen. Dafür eröffnete sich die Aussicht des planmäßigen Hineinwachsens der Sowjets in die soziale Revolution – des unbewaffneten Aufstandes und der Machtergreifung.

Damit die Sowjets in den Aufgaben der Bezirke und Distrikte nicht untergehen, schlägt der mutige Rechtskonsulent – die Propaganda sozialdemokratischer Ideen vor! Die politische Gewalt bleibt nach wie vor in den Händen der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer. Dafür kontrollieren aber die Sowjets in den Bezirken und Distrikten die Reviervorsteher und Oberwachtmeister. Und der Arbeiterklasse zum Trost und gleichzeitig zur Zusammenfassung ihres Denkens und Willens wird Max Adler an Sonntagen Vorträge halten über die staatsrechtliche Lage der Sowjets, wie er früher Vorträge hielt über die staatsrechtliche Lage der Gewerkschaften.

„Auf diesem Wege, – verspricht Max Adler, – wäre die staatsrechtliche Regulierung der Arbeiterräte, ihr Gewicht und ihre Bedeutung auf der ganzen Linie des staatlichen und öffentlichen Lebens gesichert und – ohne Diktatur der Räte – hätte das Rätesystem einen Einfluß gewonnen, wie es einen größeren auch in einer Räterepublik nicht haben könnte, zu gleicher Zeit hätte man diesen Einfluß nicht mit politischen Stürmen und wirtschaftlichen Zerstörungen zu bezahlen gebraucht.“ (Ebenda)

Wir sehen, Max Adler bleibt zu allem anderen auch noch im Einverständnis mit der österreichischen Ueberlieferung: die Revolution zu machen ohne mit dem Herrn Staatsanwalt in Konflikt zu geraten.

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Der Stammvater dieser Schule und ihre höchste Autorität ist Kautsky. Seinen Ruf als Hüter der marxistischen Orthodoxie, namentlich nach dem Dresdener Parteitag und der ersten russischen Revolution sorgsam behütend, schüttelte Kautsky von Zeit zu Zeit mißbilligend sein Haupt aus Anlaß der am meisten kompromittierenden Böcke seiner österreichischen Schule. Nach dem Beispiel des verstorbenen Victor Adler halten Bauer, Renner, Hilferding – alle zusammen und jeder einzeln – Kautsky für zu pedantisch, zu plump, jedoch für den sehr geehrten und ganz nützlichen Vater und Lehrer der quietistischen Kirche.

Kautsky hat seiner eigenen Schule zu ernsten Befürchtungen zur Zeit seines revolutionären Höhepunktes, zur Zeit der ersten russischen Revolution, Anlaß gegeben, als er die Machtergreifung durch die russische Sozialdemokratie für notwendig erkannte und den Versuch machte, die theoretischen Schlüsse aus den Erfahrungen des Generalstreiks in Rußland der deutschen Arbeiterklasse beizubringen. Der Zusammenbruch der ersten russischen Revolution hat den Entwicklungsgang Kautskys auf dem Wege des Radikalismus jäh abgebrochen. Je unmittelbarer die Frage der Massenaktion durch die Entwicklung in Deutschland selbst gestellt wurde, desto ausweichender wurde die Stellung Kautskys zu ihr. Er marschierte am Ort, trat zurück, verlor die Sicherheit, und die pedantisch-scholastischen Züge seines Denkens traten immer mehr in den Vordergrund. Der imperialistische Krieg, der alle Unbestimmtheit tötete und alle Grundfragen auf die Spitze trieb, entblößte den ganzen politischen Bankrott Kautskys. Er verwirrte sich sofort aussichtslos in der einfachsten Frage der Bewilligung der Kriegskredite. Alle seine Schriften darauf sind Varianten ein und desselben Themas: „Ich und meine Konfusion“. Die russische Revolution hat Kautsky endgültig getötet. Durch die gesamte vorhergehende Entwicklung ist er in eine feindselige Stellung zum Novembersiege des Proletariats gebracht worden. Das warf ihn unabwendbar ins Lager der Gegenrevolution. Er wurde der letzten Ueberreste des geschichtlichen Spürsinns verlustig. Seine weiteren Schriften verwandelten sich immer mehr in gelbe Literatur des bürgerlichen Marktes.

Dem von uns kritisierten Büchlein Kautskys haften dem Aeußeren nach alle Merkmale eines sogenannten objektiven wissenschaftlichen Werkes an. Um die Frage des roten Terrors zu untersuchen, verfährt Kautsky mit all der ihm eigenen Umständlichkeit. Er beginnt mit dem Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die große französische Revolution vorbereiteten, sowie der physiologischen und sozialen Ursachen, die der Entwicklung der Grausamkeit und der Humanität in der gesamten Ausdehnung der Geschichte des Menschengeschlechts förderlich sind. In seinem dem Bolschewismus gewidmeten Büchlein, wo die Frage auf 154 Seiten behandelt wird, erzählt Kautsky ausführlich, womit sich unser entferntester menschenähnlicher Urahne ernährt hat und spricht die Vermutung aus, daß er, vorwiegend von Pflanzennahrung lebend, diese doch hie und da durch kleinere Tiere, Raupen, Würmer, Reptilien, evtl. auch nicht flügge kleine Vögel ergänzte. (Siehe S. 85.) Mit einem Wort, nichts hätte zu der Annahme veranlaßt, daß von einem solchen höchst respektablen und scheinbar zum Vegetarismus geneigten Urahnen so blutgierige Nachkommen ihre Herkunft nehmen könnten wie die Bolschewiki. Seht, auf welch solide wissenschaftliche Basis die Frage von Kautsky gestellt ist! ...

Hier aber, wie es nicht selten mit Erzeugnissen solcher Art vorkommt, verbirgt sich hinter dem akademisch-scholastischen Gewand ein boshaftes politisches Pamphlet. Es ist eines der lügenhaftesten und gewissenlosesten Bücher. Ist es denn auf den ersten Blick nicht unerhört, daß Kautsky den abscheulichsten Klatsch über die Bolschewiki von der reichen Tafel der Havas, Reuter und W. T. B. aufliest und auf diese Weise unter einer gelehrten Kappe die Ohren des Ehrabschneiders hervorlugen läßt? Aber diese unsauberen Details sind nur ein Mosaikschmuck auf dem Grundton der soliden gelehrten Züge, gerichtet gegen die Sowjetrepublik und ihre führende Partei.

Mit keinem einzigen Wort spricht er von dem in der Geschichte – dem Umfange der Niedertracht nach – unerhörten Betragen der russischen Bourgeoisie, von ihren nationalen Verrätereien: von der Auslieferung Rigas an die Deutschen zu „pädagogischen“ Zwecken, von der Vorbereitung einer ebensolchen Auslieferung Petersburgs; davon, wie sie sich an fremde Armeen, an die tschechoslowakische, an die deutsche, an die rumänische, an die englische, an die japanische, an die französische, an die arabische und an die der Neger um Hilfe wandte, von all ihren für Ententegelder angezettelten Verschwörungen und Mordanschlägen, davon, wie sie die Blockade nicht nur zur tödlichen Erschöpfung unserer Kinder gebrauchte, sondern auch, um systematisch, unermüdlich, beharrlich die unerhörtesten Lügen und Verleumdungen in die Welt zu setzen.

Er erwähnt mit keinem einzigen Wort die gemeinsten Verunglimpfungen und Vergewaltigungen, die unserer Partei durch die Regierung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki vor dem Novemberumsturz zugefügt worden sind, von der strafrechtlichen Verfolgung einiger tausend verantwortlicher Parteigenossen, auf Grund der Anklage wegen Spionage zugunsten des Hohenzollerndeutschlands, von der Beteiligung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre an allen Verschwörungen der Bourgeoisie, von ihrer Zusammenarbeit mit den Zarengeneralen und Admiralen Koltschak, Denikin und Judenitsch, von den terroristischen Akten, die von den Sozialrevolutionären im Aufträge der Entente vollbracht worden sind, von den Aufständen, die von den Sozialrevolutionären für das Geld der auswärtigen Gesandtschaften in unserer Armee angestiftet worden sind, die im Kampfe gegen die monarchistischen Banden des Imperialismus verblutete.

Kautsky erwähnt mit keinem einzigen Wort, daß wir nicht nur zu wiederholten Malen erklärten, sondern auch in der Tat unsere Bereitschaft bewiesen, seihst um den Preis von Konzessionen und Opfern dem Lande den Frieden zu sichern; daß wir trotz alledem gezwungen sind, einen anstrengenden Krieg an allen Fronten zu führen, um die Existenz unseres Landes zu behaupten, um seine Umwandlung in eine Kolonie des englisch-französischen Imperialismus zu verhindern.

Kautsky spricht kein Wort davon, daß das russische Proletariat gezwungen ist, für diesen heroischen Kampf, in dem wir die Zukunft des Weltsozialismus verteidigen, seine Hauptenergie, die besten und die kostbarsten seiner Kräfte herzugeben, sie ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Aufbautätigkeit zu entziehen.

In seiner ganzen Broschüre erwähnt Kautsky nichts davon, daß anfangs der deutsche Militarismus mit Unterstützung seiner Scheidemänner und dank der Nichteinmischung seiner Kautskys, später der Militarismus der Alliierten mit Unterstützung der Renaudels und dank der Nichteinmischung der Longuets uns mit einer eisernen Blockade umringte, uns alle Häfen entriß, uns von aller Welt abschnitt, mit Hilfe von besoldeten, weißgardistischen Banden kolossale, an Rohprodukten reiche Gebiete besetzte, und für längere Dauer uns von dem Baku-Naphtha von der Donez-Kohle, vom Getreide des Don und Sibiriens, von der Baumwolle Turkestans abschnitt.

Kautsky erwähnt kein einziges Wort davon, daß in diesen, in ihrer Schwierigkeit noch nie dagewesenen Verhältnissen die russische Arbeiterklasse im Laufe von fast drei Jahren einen heroischen Kampf gegen ihre Feinde auf einer Front von 8.000 Kilometern geführt hat und führt, daß die russische Arbeiterklasse es verstand, anstelle des Hammers zum Schwerte zu greifen, daß sie eine mächtige Armee geschaffen hat, und für diese Armee ihre erschöpfte Industrie mobilisierte, daß sie diese trotz der Verheerung des Landes, über das die Henker der ganzen Welt die Blockade und den Bürgerkrieg verhängten, kleidet, ernährt, bewaffnet, versorgt,transportiert, – eine Millionenarmee, die zu siegen gelernt hat.

Ueber all diese Umstände schweigt sich Kautsky in seinem, dem russischen Kommunismus gewidmeten Büchlein aus. Und sein Schweigen ist die grundlegende, fundamentale Kapitallüge, freilich eine passive, aber eine verbrecherische und eine garstigere als die aktive Lüge aller Gauner der internationalen bürgerlichen Presse zusammengenommen.

Die Politik der kommunistischen Partei verleumdend, sagt Kautsky nirgends, was er eigentlich will und was er vorschlägt. Die Bolschewiki traten nicht allein auf dem Schauplatz der russischen Revolution auf. Wir sahen und sehen neben ihnen – bald an der Macht, bald in der Opposition – Sozialrevolutionäre (nicht weniger als fünf Gruppierungen und Strömungen), Menschewiki, Maximalisten, Anarchisten ... Absolut alle „Schattierungen innerhalb des Sozialismus“ (um in der Sprache Kautskys zu reden) erprobten ihre Kräfte und zeigten, was sie wollen und was sie können. Dieser „Schattierungen“ gibt es so viele, daß zwischen den benachbarten auch nur eine Messerschneide durchzustecken fast unmöglich ist. Die Entstehung dieser „Schattierungen“ ist nicht zufällig: sie stellen sozusagen die verschiedenen Varianten der Anpassung der sozialistischen Parteien und Gruppen an die Verhältnisse der größten revolutionären Epoche dar. Es scheint, daß Kautsky eine genügend vollständige politische Tastatur vor sich hat, um die Taste zu treffen, die den richtigen marxistischen Ton in der russischen Revolution gibt. Aber Kautsky schweigt. Er verwirft die bolschewistische Melodie, die sein Gehör beleidigt, aber er sucht nicht nach einer anderen. Die Lösung ist einfach: der alte Tanzmusikant weigert sich überhaupt, auf dem Instrumente der Revolution zu spielen.


Zuletzt aktualisiert am 8. Februar 2020