L. Trotzki

Von der alten zur neuen Familie

(13. Juli 1923)


Veröffentlicht: Prawda, 13. Juli 1923. [1]
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Die Beziehungen und Ereignisse innerhalb der Familie gehören wegen ihrer Eigenart zu denen, die am schwersten zu untersuchen sind und die am wenigsten statistisch zu erfassen sind. Es ist deshalb nicht leicht anzugeben, wie weit Familienbindungen heute leichter und häufiger zerbrechen als früher (natürlich in der Realität und nicht auf dem Papier). Wir müssen weitgehend nach dem Augenmaß urteilen.

Überdies besteht der Unterschied zwischen den vor-revolutionären Zeiten und heute darin, dass früher alle Sorgen und dramatischen Konflikte innerhalb der ArbeiterInnenfamilien unbeachtet von den ArbeiterInnen selbst abliefen; während heute ein größerer gehobener Teil der ArbeiterInnen verantwortungsvolle Posten innehat, ihr Leben damit viel stärker im Rampenlicht liegt und jede häusliche Tragödie Gegenstand von Kommentaren und manchmal dümmlichem Gerede wird.

Mit dieser ernsten Einschränkung gesehen lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Familienbeziehungen einschließlich der in der ArbeiterInnenklasse zerrüttet sind. Dies wurde als feste Tatsache auf der Konferenz der Moskauer Partei-PropagandistInnen festgestellt, und niemand zweifelte es an. Sie waren nur unterschiedlich von diesem Tatbestand beeindruckt – jeder auf seine Weise. Einige betrachteten ihn mit großer Befürchtung, andere mit Reserviertheit und einige schienen noch verwirrt zu sein. Jedoch war allen klar, dass hier eine große Bewegung im Gange war, der chaotisch abwechselnd morbide oder revoltierende, lächerliche oder tragische Formen annahm und welcher noch nicht Zeit genug gehabt hat, seine verborgenen Möglichkeiten zu entwickeln, nämlich eine neue und höhere Ordnung des familiären Lebens zu schaffen. Einige Informationen über die Desintegration der Familie kamen in die Presse, jedoch zufällig und in sehr vager, allgemeiner Form. In einem Artikel über diesen Gegenstand habe ich gelesen, dass die Desintegration der ArbeiterInnenfamilie auf den „bürgerlichen Einfluss auf das Proletariat“ zurückzuführen sei. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die Wurzel des Problems liegt tiefer und ist komplizierter. Der Einfluss der Bourgeoisie existierte und existiert, jedoch der entscheidende Prozess besteht in der schmerzvollen Entwickelung der ArbeiterInnenfamilie selbst, einer Evolution, die zu einer Krise führt und deren Zeugen der ersten chaotischen Entwicklungsstufen wir heute sind.

Der tiefe, zerstörerische Einfluss des Krieges auf die Familie ist gut bekannt. Um damit zu beginnen: Der Krieg löst die Familie automatisch auf, indem er die Menschen für lange voneinander trennt und andere zufällig zusammenführt. Dieser Einfluss des Krieges wurde durch die Revolution fortgesetzt und verstärkt. Die Kriegsjahre haben all das erschüttert, was nur durch die Trägheit der geschichtlichen Tradition Bestand hatte.Sie zerstörten die Macht des Zarentums, die Klassenprivilegien, die alte traditionelle Familie. Die Revolution begann damit, einen neuen Staat aufzubauen und hat dadurch ihr einfachstes und dringendstes Ziel erreicht. Der ökonomische Teil der revolutionären Probleme erwies sich dabei als viel komplizierter. Der Krieg zerrüttete die alte ökonomische Ordnung, die Revolution warf sie über Bord. Heute sind wir dabei, neue ökonomische Verhältnisse zu schaffen – die wir jedoch noch hauptsächlich aus den alten Elementen bilden müssen, indem wir sie in neuer Weise reorganisieren.

Auf dem Gebiet der Ökonomie haben wir gerade erst die zerstörerische Periode überwunden und begonnen, Fortschritte zu erzielen. Unsere Fortschritte sind immer noch sehr langsam, und die Errungenschaften einer neuen sozialistischen Form der Ökonomie sind noch weit entfernt. Aber wir sind endgültig aus der Periode der Zerstörung und des Ruins heraus. Den Tiefpunkt hatten wir in den Jahren 1920–21 erreicht.

Die erste destruktive Periode ist noch nicht im Familienleben überwunden. Der Desintegrationsprozess schreitet noch heftig voran. Diese Tatsache müssen wir berücksichtigen. Die Familie und das häusliche Leben machen noch – sozusagen – ihre 1920–21 Periode durch und haben nicht den 1923er Standard erreicht. Das häusliche Leben ist konservativer als die Ökonomie, und einer der Gründe liegt darin, dass es noch weniger bewusst ist als die Ökonomie. In der Politik und der Wirtschaft handelt die ArbeiterInnenklasse als ganze und stellt in die Frontreihen seine Avantgarde, die Kommunistische Partei, und erreicht durch sie die historischen Aufgaben des Proletariats. Im häuslichen Leben ist die ArbeiterInnenklasse in viele kleine Zellen, die Familien, geteilt. Der Wechsel der politischen Herrschaft, und sogar der Wandel der wirtschaftlichen Ordnung des Staates – die Übernahme der Fabriken in die Hände der ArbeiterInnen – haben sicherlich Einfluss auf die Familienverhältnisse, jedoch nur indirekt und äußerlich und ohne die Formen der häuslichen Tradition der Vergangenheit wirklich anzutasten.

Eine radikale Reform der Familie und allgemein der gesamten [Ordnung des häuslichen Lebens erfordert die bewusste Anstrengung auf Seiten der ganzen Massen der ArbeiterInnenklasse und setzt die Existenz einer starken molekularen Kraft innerhalb der Klasse selbst für einen Wunsch nach Kultur und Fortschritt voraus. Ein tiefgehender Pflug ist notwendig, um die schweren Erdbrocken aufzuwühlen. Die politische Gleichheit von Mann und Frau im Sowjetstaat war ein Problem, und das simpelste. Ein wesentlich schwierigeres war das nächste – die wirtschaftliche Gleichheit von Mann und Frau in den Fabriken und Gewerkschaften, welche nicht zum Nachteil der Frau ausgeführt werden darf. Aber die wirkliche Gleichheit von Mann und Frau in der Familie ist eine wesentlich schwierigere Aufgabe. Alle unsere häuslichen Gewohnheiten müssen revolutioniert werden, bevor das geschehen kann. Und dennoch ist es ganz offenkundig, dass wir nicht ernstlich von einer Gleichheit in gesellschaftlicher Arbeit und sogar in der Politik sprechen können, ohne die Gleichheit von Mann und Frau in der Familie in den gesellschaftlichen Normen wie in den Lebensbedingungen herzustellen.

Solange die Frau an die Hausarbeit gekettet ist, die Sorge für die Familie, Kochen und Nähen, sind alle Chancen auf die Teilnahme am sozialen und politischen Leben extrem abgeschnitten.

Das leichteste Problem war die Machtergreifung. Jedoch gerade dieses Problem absorbierte alle unsere Kräfte in den ersten Perioden der Revolution. Es erforderte endlose Opfer. Der Bürgerkrieg erzwang die einschneidensten Maßnahmen.

Vulgäre PhilisterInnen beklagten die Barbarisierung der Moral, über die Blutigkeit und Erniedrigung des Proletariats und so weiter.

Tatsächlich jedoch führte das Proletariat, indem es die in seine Hände gelegte revolutionäre Gewalt benutzte, einen Kampf für eine neue Kultur, für wirkliche menschliche Werte. In den ersten vier oder fünf Jahren haben wir eine Periode des schrecklichen wirtschaftlichen Zusammenbruchs durchschritten. Die Produktivität der Arbeit sank rapide und die Produkte waren von sehr schlechter Qualität, unsere sehen in dieser Situation ein Zeichen des Verfalls der Sowjetunion oder sie wollen es zumindest so sehen. In Wirklichkeit jedoch war es die unumgängliche Stufe der Zerstörung der alten wirtschaftlichen Formen und der ersten, auf sich allein gestellten Versuche zur Schaffung neuer Formen.

In Hinblick auf die Familienbeziehungen und Formen des individuellen Lebens allgemein muss es auch eine unvermeidliche Periode der Desintegration der bestehenden Verhältnisse, der Traditionen, die aus der Vergangenheit übernommen wurden,die noch nicht der Kontrolle der Vernunft unterworfen wurden, geben. Aber in dieser Domäne des häuslichen Lebens beginnt die Periode der Kritik und Destruktion später, dauert sie sehr lange und nimmt morbide und schmerzhafte Formen an, welche jedoch komplex sind und nicht immer durch oberflächliche Betrachtung erfassbar sind. Diese Merkmale des fortschreitenden kritischen Wandels in den staatlichen Bedingungen, in der Wirtschaft und im Leben allgemein müssen klar definiert werden, um nicht durch die von uns beobachteten Erscheinungen verwirrt zu werden. Wir müssen lernen, sie im richtigen Licht zu betrachten, um ihren richtigen Platz in der Entwicklung der ArbeiterInnenklasse zu verstehen und die neuen Bedingungen bewusst in die Richtung sozialistischer Lebensformen zu lenken.

Die Warnung ist notwendig, da wir schon Alarmrufe hören. Auf der Konferenz der Moskauer ParteipropagandistInnen haben einige GenossInnen mit großer und verständlicher Besorgnis von der Leichtigkeit gesprochen, mit der alte Familienbindungen zugunsten neuer gebrochen werden, die nicht weniger instabil als die alten sind. Opfer sind in allen Fällen die Mütter und die Kinder. Andererseits, wer unter uns hat noch nicht in privaten Gesprächen Beschwerden, um nicht zu sagen Lamentationen, über den „Zusammenbruch der Moral“ unter der Sowjetjugend, besonders unter dem Komsomol gehört? Nicht alles an diesen Beschwerden ist Übertreibung – es ist auch Wahrheit in ihnen. Wir müssen sicherlich und werden auch die dunklen Seiten dieser Wahrheit bekämpfen – dieser Kampf ist ein Kampf für höhere Kultur und für den Aufstieg der Menschheit. Aber um unser Werk zu beginnen, um das ABC des Problems anzupacken ohne reaktionäres Moralisieren oder sentimentale Resignation, müssen wir zunächst uns der Fakten versichern und klar sehen, was tatsächlich geschieht.

Wie wir oben sagten, haben gigantische Ereignisse auf die Familie in ihrer alten Gestalt eingewirkt, der Krieg und die Revolution. Und in deren Folge kam als unterirdische Entwicklung – kritisches Denken, die bewusste Untersuchung und Bewertung der Familienbeziehungen und der Lebensformen. Es war die mechanische Kraft großer Ereignisse zusammen mit der kritischen Kraft des, erwachten Bewusstseins, die die destruktive Periode in den Familienbeziehungen hervorriefen, deren Zeuge wir heute sind. Die russischen ArbeiterInnen müssen nun, nach der Machtergreifung,ihre ersten Schritte in Richtung auf Kultur in vielen Lebensbereichen machen. Unter dem Impuls großer Kollisionen schüttelt die Persönlichkeit erstmals alle traditionellen Lebensformen, alle häuslichen Gewohnheiten, religiösen Praktiken und Beziehungen ab. Kein Wunder, dass anfangs der Protest des Individuums, seine Revolte gegen die traditionsbehaftete Vergangenheit anarchische, oder um es schärfer zu sagen, Formen der Auflösung annimmt. Wir haben das in der Politik, in militärischen Angelegenheiten, in der Wirtschaft gesehen; hier nahm der anarchische Individualismus jede Form des Extremismus, Partisanentum, Festrednerrethorik an. Und kein Wunder, dass dieser Prozess auf die innigste Weise und damit schmerzvoll auf die Familienbeziehungen zurückwirkt. Dort verließ die erwachte Persönlichkeit die ausgetretenen Pfade, um sich in neuer Weise zu reorganisieren und nahm Zuflucht bei der „Auflösung“, „Krankheit“ und all den Sünden, die auf der Moskauer Konferenz angegriffen wurden.

Der durch seine erhöhte Mobilität aus seiner gewohnten Umwelt gerissene Ehemann verwandelte sich in einen revolutionären Bürger an der gesellschaftlichen Front. Ein schlagartiger Wandel. Sein Blick ist weiter, seine geistigen Anstrengungen sind höher und komplizierter. Er ist ein anderer Mensch. Und dann kommt er zurück und findet alles praktisch unverändert vor. Die alte Harmonie und das Verhältnis mit den Menschen zu Hause in der Familie ist verlorengegangen. Es bildet sich auch kein neues Verhältnis heraus. Die gegenseitige Verwunderung wechselt in gegenseitige Unzufriedenheit, dann in Feindseligkeit. Die Familie ist zerbrochen.

Der Ehemann ist Kommunist. Er lebt ein tätiges Leben, nimmt an gesellschaftlicher Arbeit teil, sein Bewusstsein wächst, sein persönliches Leben ist absorbiert durch seine Arbeit.

Aber seine Frau ist auch Kommunistin. Sie will an gesellschaftlicher Tätigkeit teilnehmen, öffentliche Versammlungen besuchen, im Sowjet oder der Gewerkschaft arbeiten. Häusliches Leben hört auf zu bestehen, bevor sie es eigentlich gewahr werden, oder das Vermissen der häuslichen Atmosphäre endet in ständigen Reibereien. Mann und Frau verstehen sich nicht mehr. Die Familie ist zerbrochen.

Der Ehemann ist Kommunist, die Frau nicht. Der Ehemann ist absorbiert durch seine Arbeit; die Frau kümmert sich wie zuvor nur um das Heim. Die Beziehungen sind „friedlich“, tatsächlich jedoch beruhen sie auf gewöhnlicher Entfremdung. Aber das Komitee des Ehemannes – die Kommunistische Zelle – verlangt, dass er die Ikonen in seiner Wohnung entfernen soll. Er ist bereit zu folgen, findet es ganz natürlich. Für seine Frau ist es jedoch eine Katastrophe. Gerade so ein kleines Vorkommnis zeigt die ganze Breite des Abgrundes, der das Bewusstsein des Mannes von dem seiner Frau trennt. Die Beziehungen sind zerstört. Die Familie ist zerbrochen.

Eine alte Familie. Zehn, fünfzehn Jahre gemeinsames Leben. Der Ehemann ist ein guter Arbeiter, seiner Familie verpflichtet; seine Frau lebt auch für ihr Heim, investiert dort alle Energie. Aber durch Zufall kommt sie in Kontakt mit einer kommunistischen Frauenorganisation. Vor ihren Augen öffnet sich eine neue Welt. Ihre Energie findet ein neues und weiteres Betätigungsfeld. Die Familie wird vernachlässigt. Der Ehemann ist irritiert, gereizt, wütend. Die Frau ist in ihrem neu erwachten Bewusstsein verletzt. Die Familie ist zerbrochen.

Beispiele solcher häuslicher Tragödien, die alle zum gleichen Ergebnis führen, dem Auseinanderbrechen der Familie, können endlos aufgeführt werden. Wir haben nur die typischsten Fälle gezeigt. In all unseren Beispielen lässt sich die Tragödie auf eine Kollision zwischen kommunistischen und nichtparteigebundenen Elementen zurückführen. Aber der Zerfall der Familie, genauer, des alten Familientyps, ist nicht auf die Spitze der Klasse beschränkt, die am stärksten dem Einfluss der neuen Bedingungen ausgesetzt ist. Die auflösende Bewegung in den Familienbeziehungen dringt tiefer ein. Die kommunistische Vorhut durchläuft nur früher und stärker, was früher oder später für die ganze Klasse unvermeidlich ist. Die prüfende Haltung gegenüber alten Verhältnissen, die neuen Forderungen an die Familie überschreiten weit die Grenzlinie zwischen Vorhut und der gesamten ArbeiterInnenklasse.

Die Einrichtung der Zivilehe war schon ein starker Schlag gegen die traditionelle geweihte Familie, die zum großen Teil durch Äußerlichkeiten zusammengehalten wurde.

Je weniger persönliche Bindung in den alten Ehebeziehungen lag, desto größer war die bindende Kraft äußerer Kräfte, sozialer Traditionen und besonders religiöser Riten. Der Schlag gegen die Macht der Kirche war auch ein Schlag gegen die Familie. Obwohl sie ihrer bindenden Kraft und der öffentlichen Anerkennung beraubt sind, bleiben die Riten noch in Gebrauch durch Trägheit und dienen als eine der Stützen für die wankende Familie. Aber wenn es kein inneres Band in der Familie gibt, wenn nichts als Trägheit die Familie vor dem Zusammenbruch bewahrt, dann ist wahrscheinlich, dass jeder Stoß von außen die Familie in Stücke zerbrechen wird, während es zur gleichen Zeit ein Schlag gegen das Befolgen von Kirchenriten ist. Und Stöße von außen sind in Zukunft unendlich wahrscheinlicher als zuvor. Das ist der Grund, weshalb die Familie in Auflösung begriffen ist und sich nicht wieder erholt und dann wieder taumelt. Das Leben sitzt über seine Bedingungen zu Gericht und tut dies, indem es grausam und schmerzhaft die Familie verurteilt. Die Geschichte fällt den alten Wald und die Späne fliegen im Wind.

Aber bringt das Leben Elemente eines neuen Familientyps hervor? Zweifellos. Wir müssen nur die Natur dieser Elemente klar begreifen und den Prozess ihrer Bildung. Wie in anderen Fällen auch müssen wir die physischen Bedingungen von den psychologischen trennen, das allgemeine von dem Individuellen. Psychologisch bedeutet die Herausbildung der neuen Familie, von neuen menschlichen Beziehungen im allgemeinen für uns den Fortschritt in der Kultur der ArbeiterInnenklasse, die Entwicklung des Individuums, die Erhöhung seines Standards seiner Bedürfnisse und inneren Disziplin. Aus diesem Blickwinkel bedeutete die Revolution natürlich einen riesigen Schritt nach vorn, und die schlimmsten Erscheinungen der desintegrierenden Familie bezeichnen so nur einen Ausdruck, wenn auch in seiner Form sehr schmerzhaft, des Erwachens der Klasse und des Individuums in der Klasse. All unsere Arbeit in Bezug auf die Kultur, die Arbeit, die wir machen, und die Arbeit, die wir machen sollten, wird so, von diesem Blickpunkt aus betrachtet, eine Vorbereitung für neue Beziehungen und eine neue Familie. Ohne Hebung des kulturellen Standards des einzelnen Arbeiters und der einzelnen Arbeiterin gibt es keine neuen Familien höheren Typs, denn in dieser Domäne können wir nur von innerer Disziplin und nicht von äußerem Zwang sprechen. Die Stärke dieser inneren Disziplin des Individuums in der Familie ist durch den Tenor des inneren Lebens (?!), die Blickweite und die Werte der Bindungen, die Mann und Frau vereinen, bedingt.

Die physischen Vorbereitungen für die Bedingungen des neuen Lebens und der neuen Familie wiederum können nicht grundsätzlich von der allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus getrennt werden. Der ArbeiterInnenstaat muss reicher werden, um in der Lage zu sein, ernsthaft die öffentliche Erziehung der Kinder und die Entlastung der Familie von der Last der Küche und der Wäscherei anzupacken. Vergesellschaftung der familiären Haushaltung und öffentliche Erziehung der Kinder ist undenkbar ohne einen merklichen Fortschritt in unserer Wirtschaft als ganzer. Wir brauchen mehr sozialistische Wirtschaftsformen. Nur unter diesen Bedingungen können wir die Familie von Funktionen und Aufgaben befreien, die sie heute belasten und desintegrieren. Das Waschen muss in einer öffentlichen Wäscherei geschehen, die Versorgung mit Essen in einem öffentlichen Restaurant, Nähen durch öffentliche Einrichtungen. Die Kinder müssen durch gute öffentliche Lehrer erzogen werden, die eine echte Berufung für diese Arbeit spüren. Dann wird das Band zwischen Mann und Frau von allen äußeren und zufälligen Dingen befreit und der eine würde aufhören, das Leben des anderen völlig für sich in Anspruch zu nehmen. Echte Gleichberechtigung würde schließlich erreicht.Das Band würde auf gegenseitiger Anziehung beruhen. Und in dieser Hinsicht wird sie innere Stabilität erreichen, natürlich nicht dieselbe für alle, aber als Zwang für keinen.

So ist der Weg der neuen Familie ein doppelter: a) die Hebung des Standards der Kultur und Erziehung der ArbeiterInnenklasse und der Klassenindividuen; b) eine Verbesserung der materiellen Verhältnisse der Klasse durch den Staat. Beide Prozesse sind eng miteinander verbunden.

Natürlich implizieren die eben gemachten Feststellungen nicht, dass zu einem gegebenen Moment der materiellen Besserstellung die.Familie der Zukunft sofort vollständig entstehen wird.

Es ist wahr, dass der Staat heute weder die Erziehung der Kinder noch die Einrichtung von öffentlichen Küchen leisten kann, die eine Verbesserung der Familienküche sein würde, und auch nicht die Schaffung von öffentlichen Wäschereien, wo die Kleider nicht zerrissen oder gestohlen würden. Aber dies heißt nicht, dass die initiativfreudigeren und fortschrittlicheren Familien sich nicht zusammentun könnten zu gemeinsamen Haushaltungen. Experimente dieser Art müssen natürlich gemacht werden; die technischen Einrichtungen der kollektiven Einheit müssen auf die Interessen und Erfordernisse der Gruppen selbst abgestimmt sein und sollten handfeste Fortschritte für jedes Mitglied mit sich bringen, auch wenn sie zunächst noch klein sein sollten.

“Diese Aufgaben“, schrieb vor kurzem Genosse Semaschko über die Notwendigkeit der Umgruppierung unseres Familienlebens, „wird am besten in der Praxis durchgeführt; Verordnungen und Moralisieren allein werden wenig Wirkung haben. Aber ein Beispiel, eine Illustrierung einer neuen Form werden mehr erreichen als tausende hervorragender Broschüren. Diese Propaganda der Praxis wird am besten mit den Methoden durchgeführt, die die Chirurgen in ihrem Bereich Transplantation nennen. Wenn eine große Oberfläche entweder als Ergebnis einer Verwundung oder Verbrennung ohne Haut ist und keine Hoffnung besteht, dass genügend Haut nachwächst, um sie zu bedecken, werden Hautstücke von gesunden Körperteilen abgetrennt und stückchenweise auf die bloße Oberfläche aufgetragen; diese Stücke verwachsen und werden größer, bis die gesamte Oberfläche mit Haut bedeckt ist. Dasselbe geht bei praktischer Propaganda vor sich. Wenn eine Fabrik oder ein Werk kommunistische Formen übernimmt, werden andere Fabriken folgen.“ (N. Semaschko: Das Tote lastet auf dem Lebenden, Iswestija, Nr. 81, 14. April 1923)

Die Erfahrungen solcher Familienhaushaltskollektive, die die erste, noch sehr unvollkommene Annäherung an einen kommunistischen Lebensstil darstellen, sollten sorgfältig studiert werden und ihnen große Beachtung gegeben werden. Die Kombination von Privatinitiative und staatlicher Hilfe, vor allem zwischen den lokalen Sowjets und den ökonomischen Einheiten,sollten Vorrang besitzen. Der Bau von neuen Häusern – und wir werden neue Häuser bauen! – sollte bestimmt sein durch die Erfordernisse der Familiengruppenkommunen. Der erste sichtbare und unzweifelhafte Fortschritt in dieser Richtung, wie klein und begrenzt er auch sein mag, wird unweigerlich auch in weiter entfernten Gruppen den Wunsch wecken, ihr Leben ähnlich zu organisieren. Für ein ausgeklügeltes Schema, das von oben initiiert ist, ist die Zeit noch nicht reif, sowohl was die materiellen Möglichkeiten des Staats als auch die Vorbereitung des Proletariats selbst angeht. Wir können die gegenwärtigen Schwierigkeiten nur durch die Bildung von Modellkommunen umgehen. Der Boden unter unseren Füßen kann Schritt für Schritt verstärkt werden; es darf kein zu weites Vorauseilen oder Verfallen auf bürokratische phantastische Experimente geben. Zur gegebenen Zeit wird der Staat mit Hilfe der örtlichen Sowjets, kooperativer Einheiten usw. in der Lage sein, die getane Arbeit zu vergesellschaften, sie zu erweitern und vertiefen. Auf diese Art wird die menschliche Familie, mit den Worten von Engels „aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit springen“.


Anmerkung

1. Dieser Artikel wurde in der Prawda vom 13. Juli 1923 abgedruckt. Die erste englische Übersetzung von Z. Venerova erschien 1924 in Problems of Life (Fragen des Alltagslebens, 1924).


Zuletzt aktualisiert am 3. September 2014