Leo Trotzki

 

1917
Die Lehren des Oktobers


Die Aprilkonferenz


Lenins Rede auf dem finnländischen Bahnhof über den sozialistischen Charakter der russischen Revolution schlug bei vielen leitenden Parteiführern wie eine Bombe ein. Die Polemik zwischen Lenin und den Anhängern der „Durchführung der demokratischen Revolution“ begann am selben Tage. Der Vorwand für eine ernste Auseinandersetzung war eine bewaffnete Demonstration, bei der die Losung gegeben wurde: „Nieder mit der provisorischen Regierung!“ Dieser Umstand gab einzelnen Vertretern des rechten Flügels Veranlassung, Lenin wegen Blanquismus anzuklagen: der Sturz der provisorischen Regierung, welche in dieser Periode von der Mehrheit der Sowjets unterstützt wurde, hätte nur unter Ausschaltung des größten Teiles der Werktätigen erreicht werden können. Formal konnte dieser Vorwurf nicht ganz ohne Berechtigung erscheinen, aber in Wirklichkeit war in Lenins Aprilpolitik auch nicht die mindeste Spur von Blanquismus. Die Frage bestand für ihn darin, in welchem Maße die Sowjets die wirkliche Stimmung des Volkes ausdrückten und ob sich nicht die Partei betröge, indem sie sich nach der Sowjetmehrheit richtete. Die Aprilmanifestation, welche mehr nach links ausschlug, als es sein sollte, diente dazu, festzustellen, wie die Stimmung der Massen tatsächlich war und ließ das Kräfteverhältnis zwischen den Massen und der Sowjetmehrheit erkennen. Die Sondierung führte zu der Erkenntnis, daß eine lange Vorbereitungsarbeit notwendig sei. Wir erlebten, wie barsch Lenin die Kronstädter Delegation ablehnte, als sie ihm ihren Beschluß, die provisorische Regierung nicht anzuerkennen, mitteilte.

Ganz anders traten an diese Frage die Gegner des Kampfes um die Macht heran. Auf der Parteikonferenz im April klagte der Genosse Kamenew:

„In Nr.19 der Prawda ist vom Genossen [gemeint offenbar Lenin. – L.T.] eine Resolution vorgelegt worden, die eine Absetzung der provisorischen Regierung forderte. Diese Resolution ist vor der letzten Krisis gedruckt worden; dann ist diese Losung als desorganisierend abgelehnt und als abenteuerlich bezeichnet worden. Dies bedeutet, daß unsere Genossen aus der Krisis etwas gelernt haben. Die vorliegende Resolution [das heißt die Resolution, die Lenin der Konferenz vorlegte. – L.T.] wiederholt diesen Fehler.“ ...

Diese Stellungnahme ist im höchsten Grade bezeichnend: Lenin hat, nachdem er die Situation ausgekundschaftet, die Forderung einer sofortigen Absetzung der provisorischen Regierung, zurückgezogen, aber nur für Wochen oder Monate. Er wollte zunächst sehen, in welchem Grade die Unzufriedenheit der Massen mit den Opportunisten wuchs. Die Opposition sah jedoch diese Losung an und für sich als einen Fehler an. In dem zeitweiligen Rückzug Lenins war auch nicht die leiseste Andeutung, daß er von der vorgezeichneten Linie abwich. Er ging nicht von dem Gedanken aus, daß die demokratische Revolution noch nicht vollendet war, sondern einzig und allein davon, daß die Masse heute noch nicht fähig sei, die provisorische Regierung zu stürzen und daß man deshalb alles tun müsse, um die arbeitende Klasse in die Lage zu bringen, die provisorische Regierung morgen stürzen zu können.

Die ganze Aprilkonferenz der Partei galt ausschließlich dieser grundlegenden Frage: gehen wir zur Eroberung der Macht im Namen eines sozialistischen Umsturzes oder helfen wir (irgend jemand), die demokratische Revolution durchzuführen. Es ist bedauerlich, daß der Bericht dieser Aprilkonferenz bis jetzt noch nicht gedruckt ist; denn in der Geschichte unserer Partei haben kaum Konferenzen stattgefunden, die von so entscheidender und unmittelbarer Bedeutung für das Schicksal der Revolution waren, wie diese Aprilkonferenz vom Jahre 1917.

Lenins Stellung war: unentwegter Kampf mit der Vaterlandsverteidigung und mit den Vaterlandsverteidigern, Erringung der Mehrheit in den Sowjets, Sturz der provisorischen Regierung, Ergreifung der Macht durch die Sowjets, revolutionäre Friedenspolitik, sozialistischer Umsturz im Innern und internationale Revolution außen. Im Gegensatz hierzu vertrat, wie wir wissen, die Opposition den Standpunkt: Durchführung der demokratischen Revolution durch Druck auf die zeitweilige Regierung, wobei die Sowjets als "Kontrollorgane" der bürgerlichen Regierung verbleiben sollten. Hieraus erwuchs eine völlig andere, weit versöhnlichere Einstellung zur "Landesverteidigung".

Einer von den Gegnern Lenins entgegnete auf der Aprilkonferenz:

„Wir sprechen von den Arbeiter- und Soldatenräten wie von dem organisierenden Zentrum unserer Kräfte und unserer Macht ... jedoch schon der Name zeigt, daß sie einen Block der kleinbürgerlichen und proletarischen Kräfte darstellen, vor denen unvollendete bürgerlich-demokratische Aufgaben stehen. Wenn die bürgerlich-demokratische Revolution enden würde, könnte dieser Block nicht bestehen und das Proletariat würde den Kampf gegen den Block führen... Da wir aber diese Sowjets als Zentrum unserer Organisation anerkennen, ist die bürgerliche Revolution noch nicht beendet; sie hat sich noch nicht überlebt und ich glaube, wir alle müssen anerkennen, daß nach Beendigung dieser Revolution die Macht tatsächlich in die Hände des Proletariates übergehen wird“ (Rede des Genossen Kamenew).

Der hoffnungslose Schematismus dieser Argumentation ist vollständig klar: darin besteht doch das wesentliche, daß die „endgültige Beendigung dieser Revolution“ nie eintreten kann, ohne daß die Macht in andere Hände übergeht. In der angeführten Rede wird der Klassencharakter der Revolution völlig ignoriert. Danach ergeben sich die Aufgaben der Partei nicht aus der realen Gruppierung der Machtverhältnisse in den Klassen, sondern aus einer formalen Definition der Revolution als bürgerlich oder bürgerlich-demokratisch. Wir müssen im Block mit dem Kleinbürgertum zusammengehen, und die Kontrolle über die bürgerliche Regierung so lange ausüben, bis die bürgerliche Revolution endgültig durchgeführt ist. Dieses Schema ist rein menschewistisch. Nach doktrinärer Begrenzung der Aufgaben der Revolution durch derartige Namengebung („bürgerliche“ Revolution) war es unmöglich, nicht zu einer Politik der Kontrolle der zeitweiligen Regierung mit der Forderung eines Friedens ohne Annektionen usw. zu gelangen. Unter der Durchführung der demokratischen Revolution verstand man eine Reihe Reformen, die auf dem Wege über die gesetzgebenden Körperschaften eingeführt werden sollten, wobei den Bolschewisten die Rolle des linken Flügels zugedacht war. Die Parole „alle Macht den Räten“ verlor hierbei jeden realen Inhalt. Niemand hat dies so konsequent und durchdacht zum Ausdruck gebracht wie der verstorbene Nogin, welcher ebenfalls zur Opposition gehörte und es folgendermaßen auf der Aprilkonferenz darstellte:

„Im Laufe der Entwicklung verlieren die Sowjets alle wichtigsten Funktionen. Eine ganze Reihe administrativer Funktionen werden den städtischen und den Semstwo-Organisationen usw. übergeben. Wenn wir die weitere Entwicklung des staatlichen Aufbaues betrachten, können wir nicht verneinen, daß es zur Schaffung einer gesetzgebenden Körperschaft und weiter zu einem Parlament kommen muß. Folglich sterben die wichtigsten Funktionen der Sowjets ab, womit aber nicht gesagt sein soll, daß diese in Schande verenden. Sie übergeben lediglich ihre Funktionen. Die Verwirklichung der republikanischen Kommune ist bei diesen Sowjets nicht zu erwarten.“

Der dritte Opponent endlich vertrat den Standpunkt, daß Rußland für den Sozialismus noch nicht reif sei.

„Können wir auf die Unterstützung der Massen rechnen, wenn wir die Parole ‚Proletarische Revolution‘ herausgeben? Rußland ist das kleinbürgerlichste Land in Europa. Wir können daher nicht annehmen, daß die Masse der sozialistischen Revolution Verständnis entgegenbringen werde. Folglich kann man sagen, je mehr die Partei den sozialistischen Standpunkt vertritt, um so mehr verwandelt sie sich in einen propagandistischen Klub. Den Anstoß zur sozialistischen Revolution kann nur der Westen geben.“

Und weiter:

„Wo geht die Sonne des sozialistischen Umsturzes auf? Ich denke, daß auf Grund unseres kleinbürgerlichen Niveaus die Initiative der sozialistischen Revolution nicht von uns ausgehen darf, wir haben nicht die Kräfte und nicht die objektiven Bedingungen hierzu. Im Westen dagegen wird diese Frage ähnlich lauten, wie bei uns die Frage des Sturzes des Zarismus.“

Nicht alle Gegner der Lenin’schen Auffassung kamen auf der Aprilkonferenz zu demselben Ergebnis wie Nogin; aber alle mußten durch die Logik der Tatsachen diese Erkenntnis wenige Monate später, und zwar am Vorabend der Oktoberrevolution sich zu eigen machen. Entweder Führung der Massen in der proletarischen Revolution oder aber die Rolle der Opposition in einem bürgerlichen Parlament, so hieß die Frage, die sich im Innern unserer Partei erhob. Es ist klar, daß die zweite Position in Wirklichkeit eine menschewistische war oder richtiger gesagt, die Position, die die Menschewisten nach der Februarrevolution räumen mußten. Tatsächlich hatten die menschewistischen Grünschnäbel im Laufe vieler Jahre gepredigt, daß die nächste Revolution eine bürgerliche sein werde, daß die bürgerliche Regierung der Revolution nur bürgerliche Aufgaben erfüllen, daß die Sozialdemokratie die Aufgaben der bürgerlichen Demokratie nicht übernehmen werde können, sondern – die „Bourgeoisie nach links drängend“ – in der Lage der Opposition wird verbleiben müssen. Mit einem besonders ermüdenden Tiefsinn hat dieses Thema Martynow entwickelt. Beim Ausbruch der bürgerlichen Revolution im Jahre 1917 befanden sich die Menschewisten sehr bald in der Regierung. Von ihrer ganzen „grundsätzlichen“ Position blieb nur jene politische Erkenntnis übrig, daß das Proletariat sich an die Macht nicht heranwagen darf. Nun aber ist es ganz klar, daß diejenigen Bolschewisten, welche die Menschewisten des Ministerialismus beschuldigten, gleichzeitig aber gegen die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat auftraten, in Wirklichkeit sich dem vorrevolutionären Standpunkte der Menschewisten näherten.

Die Revolution rief politische Verschiebungen in zwei Richtungen hervor: die Rechten wurden Kadetten [2], die Kadetten gezwungenermaßen Republikaner in formaler Bewegung nach links; die Sozialrevolutionäre und Menschewisten wurden die herrschende bürgerliche Partei, eine Bewegung nach rechts. Auf dieser Weise versuchte die bürgerliche Gesellschaft, sich eine neue Machtposition der Beständigkeit und Ordnung zu schaffen. Gleichzeitig mit dem Übertritt der Menschewisten von der formal-sozialistischen Position zur vulgär-demokratischen geht der rechte Flügel der Bolschewisten zur formal-sozialistischen, d.h. zur bisherigen menschewistischen Stellung über. Dieselbe Umstellung hat sich auch in der Frage des Krieges vollzogen. Die Bourgeoisie, mit Ausnahme einiger Doktrinären, trat bis zur Ermüdung für die Formel ein: ein Frieden ohne Annektionen und Kontributionen. Sie konnte das um so leichter, als die Aussichten auf Annektionen sehr gering waren. Die Menschewisten und Sozialrevolutionäre Zimmerwalder Richtung, die die französischen Sozialisten wegen ihrer Verteidigung des kapitalistisch-republikanischen Vaterlandes verurteilt hatten, wurden selbst zu Landesverteidigern, kaum, daß sie sich in einer bürgerlichen Republik fühlten: sie schoben sich vom passiv-internationalistischen Standpunkte zum aktiv-patriotischen hinüber. Gleichzeitig damit nahm der rechte Flügel der bolschewistischen Partei den passiv-internationalistischen Standpunkt: "Druck" auf die zeitweilige Regierung mit dem Ziele: demokratischer Frieden „ohne Annektionen und Kontributionen“ ein.

So zerfiel auf der Aprilkonferenz die Formel der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern. Theoretisch und politisch ergaben sich zwei feindliche Anschauungen: die demokratische, welche von sozialistischen Schlagworten bemäntelt wurde und die sozial-revolutionäre oder die eigentlich bolschewistische, die Lenin’sche.

Fußnote

2. Kadetten lautet die Abkürzung für Konstitutionelle Demokraten, eine Partei in der russischen Duma, die, unter Miljukows Führung, für die konstitutionelle Monarchie eintrat.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008