Leo Trotzki

 

Aussichten der Weltentwicklung


III. Faschismus, Demokratismus, Kerenskiade

Um den vor sich gegangenen Wechsel zu entziffern, muss man sich fragen, was dieser Faschismus und dieser pazifistische Reformismus, den man bei uns, der Kürze halber, oft Kerenskiade nennt, eigentlich vorstellen. Ich habe eine Definition dieser gangbaren Stichworte bereits gegeben, aber ich wiederhole sie hier wieder, denn das Erfassen der politischen Perspektive wird ohne das richtige Verständnis des Faschismus und Neureformismus ganz unmöglich sein. Der Faschismus kann in verschiedenen Ländern sehr verschieden aussehen, er kann sozial verschieden zusammengesetzt sein, d.h. aus verschiedenen Gruppen bestehen. Aber seinem Wesen nach ist der Faschismus jene aktive Kräftegruppierung, die die bedrohte bürgerliche Gesellschaft bildet, um den Angriff des Proletariats im Bürgerkriege zurückzuschlagen. Wenn der demokratisch-parlamentarische Staatsapparat sich in den eigenen inneren Widersprüchen verstrickt, wenn die bürgerliche Legalität die Bourgeoisie selbst bindet, dann macht das Bürgertum die aktivsten Elemente mobil, über die sie verfügt, befreit sie von den Fesseln der Legalität, verpflichtet sie, alle Maßnahmen und alle Mittel zu gebrauchen. Das ist der Faschismus. Er ist also eine Formation der Bourgeoisie zur Zeit des Bürgerkrieges, ebenso wie wir in der Epoche des Bürgerkrieges über eine Gruppierung von Kräften und Organisationen für den bewaffneten Kampf des Proletariats verfügen. Wir sagen damit dass der Faschismus kein „normaler“ Zustand der bürgerlichen Gesellschaft sein kann, ebenso wenig wie der bewaffnete Aufstand kein ständiger normaler Zustand des Proletariats ist. Entweder endet es mit einem Sieg des Faschismus und mit einer Niederlage des Proletariats, und dann stellt die Bourgeoisie allmählich ihren „normalen“ Staatsapparat wieder her, oder es siegt das Proletariat, und dann verschwindet der Faschismus ebenfalls, aber aus anderen Gründen. Das siegreiche Proletariat besitzt – unsere reiche Erfahrung hat es erwiesen – gewisse Mittel, die dem Faschismus die Möglichkeit nehmen, zu existieren oder gar sich zu entwickeln. Die Tatsache, dass an die Stelle des faschistischen Regimes die normale bürgerliche „Ordnung“ getreten ist war dadurch bedingt, dass die Attacken des Proletariats – sowohl die erste (1918-1921) als auch die zweite (1923) – zurückgeschlagen waren. Die bürgerliche Gesellschaft hat ihr Gleichgewicht, und damit eine gewisse Zuversicht wiedergewonnen Die Bourgeoisie ist heute in Europa unmittelbar nicht genügend bedroht, um die Faschisten mobil zu machen und in Aktion zu setzen. Aber sie fühlt sich auch nicht gefestigt genug, um in eigener Person zu regieren. Aus diesem Grunde wird zwischen die zwei Akte des historischen Dramas – um die Pause auszufüllen – der Menschewismus eingeschoben. Die englische Bourgeoisie braucht ihren Macdonald, noch mehr braucht die französische den links-sozialistischen Block.

Ist es indes zulässig, die Regierung der Arbeiterpartei in England und den Linksblock in Frankreich als ein Kerenski-Regime anzusehen? Diese Bezeichnung haben wir vor etwa drei Jahren nicht ohne Vorbehalt dem von uns erwarteten Reformismus gegeben, wobei wir annahmen, dass der von uns erwartete parlamentarische Schub nach links in Frankreich und England mit revolutionären Veränderungen in Deutschland zusammentreffen wird. Dieses Zusammentreffen ist infolge der Niederlage der deutschen Revolution im Herbst 1923 ausgeblieben. Wenn also der Begriff „Kerenskiade“ auch jetzt noch zuweilen auf den linken Block in Frankreich oder auf Macdonald in England angewandt wird, so zeugt das von Nichtverstehen der Lage oder von Missbrauch des bequemen Wortes.

Was ist Kerenskiade? Das ist ein Regime, bei dem die Bourgeoisie nicht mehr oder noch nicht hofft, in offenem Bürgerkriege zu siegen, daher die äußersten und riskantesten Zugeständnisse macht und die Macht an die „radikalsten“ Elemente der bürgerlichen Demokratie abtritt. Es ist ein Regime, bei dem der Unterdrückungsapparat den Händen der Bourgeoisie de facto entgleitet oder schon entglitten ist. Es ist einleuchtend, dass das Kerenski-Regime kein anhaltender Zustand der Gesellschaft sein kann. Es muss entweder in den Sieg der Kornilowleute (in Europa – der Faschisten), oder in den Sieg der KommunistInnen einmünden. Die Kerenskiade ist der unmittelbare Auftakt zum Oktober, obwohl dieser Oktober natürlich keineswegs immer aus der Kerenskiade herauswachsen muss. Können wir also sagen, dass das Regime Macdonalds oder des linken Blocks in Frankreich ein Kerenski-Regime sei? Nein, keineswegs. Die Lage in England ist eine ganz andere. Die Kräfte der englischen Kommunistischen Partei sind nicht so beschaffen, dass man in absehbarer Zeit von Machteroberung sprechen kann. Wenn das aber richtig ist, dann ist auch der Faschismus unmöglich. Es ist zu vermuten, dass MacDonald dieses Mal noch seine Position den Konservativen auf parlamentarische Weise einräumen wird. Auch in Frankreich ist weder der Zustand des Staatsapparats, noch der Kommunistischen Partei derart, dass eine unmittelbare und schnelle Entwicklung des Linksregimes zur proletarischen Revolution zu erwarten ist. Der Begriff „Kerenski-Regime“ passt hier also nicht. Es müssen ernste Ereignisse eintreten, um ihn zu rechtfertigen. Es taucht jetzt eine Frage auf, die augenblicklich im Mittelpunkt steht: Was ist das für eine Reformismusperiode; auf welchen Grundlagen ist sie aufgebaut; kann sich dieses reformistische Regime festigen; kann es für eine Reihe von Jahren zu einem „normalen“ Zustand werden – in welchem Fall die proletarische Revolution natürlich entsprechend hinausgeschoben wäre? Das ist die zentrale Frage unserer Zeit. Wie schon gesagt, diese Frage kann nicht allein auf der subjektiven Ebene, d.h. auf der Ebene unserer Wünsche und unserer Bereitschaft, die Situation zu ändern, gelöst werden. Wie immer, ist auch hier die objektive Analyse, die Berücksichtigung dessen was ist und was eine Veränderung erfährt, unerlässlich; sie muss zur Voraussetzung unserer Handlungen werden. Versuchen wir also von dieser Seite aus an die Frage heranzutreten.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004