Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 5

Aus der Rede
Auf den Wegen der europäischen Revolution

(11. April 1924)


Aus: Westen und Osten, S.13, 14, 15, 23, 24.


Die Entwicklung Europas kann in der bevorstehenden Periode zwei Wege einschlagen, je nachdem, ob die Entente Deutschland leben lassen wird oder nicht. Nach der letztjährigen Erfahrung, als das rote Gespenst des Kommunismus in Deutschland Wirklichkeit zu werden drohte, wird die Bourgeoisie Frankreichs, Englands und U.S.-Amerikas nicht abgeneigt sein, die Lage Deutschlands etwas zu erleichtern, ihm einige Kredite zu geben und ein Moratorium zu gewähren, bei dem das wirtschaftliche Leben Deutschlands bestehen kann. Das wird zweifellos zu einem gewissen Aufschwung der deutschen Industrie und damit auch des deutschen Exportes führen. Die deutsche Industrie arbeitet jetzt annähernd mit 50% ihrer Leistungsfähigkeit, und wenn man die wirtschaftliche und finanzielle Lage Deutschlands ein wenig erleichtert, wird der deutsche Export schnell aufblühen. Die Kapazität des europäischen Marktes ist indes nur gering, so dass ein Aufblühen der deutschen Ausfuhr vielleicht schon in einem Jahre eine katastrophale Krisis der englischen und französischen Industrie herbeiführen wird. Die geringste Erleichterung der Lage Deutschlands wird automatisch eine Krise in England herbeiführen, wo es schon jetzt eine Million Arbeitslose gibt. Es ist klar, dass dieser Umstand ein mächtiger Antrieb für die Bewegung des englischen Proletariats sein wird. Macdonald, der gegenwärtige englische Premierminister, von dem noch einiges zu sagen sein wird, weiß natürlich sehr gut, dass eine Unterstützungsaktion zugunsten der deutschen Industrie der englischen einen schweren Schlag versetzen wird. Diese Einsicht wird ihn in den Stand setzen, seine Hände in Unschuld zu waschen. Er hat ja schon darauf verzichtet, die Bedingungen des Versailler Friedens einer Revision zu unterziehen. Nehmen wir nun an, dass auch die Vereinigten Staaten Deutschland nicht helfen, und dass Poincaré seine Erdrosselungspolitik Deutschland gegenüber fortsetzen wird. Unter diesen Umständen wird die deutsche Mark schon nach wenigen Wochen stürzen, und zwar in einem noch schnelleren Tempo als es früher der Fall war, die Preise werden rapid steigen, die Industrie wird zurückgehen, die Arbeitslosigkeit zunehmen, und die Revolution wird sich in einem schnelleren Tempo entwickeln als im Vorjahre.


Ja, wir könnten zusammen mit einem Arbeiter-England Europa helfen, die Last der Rüstungen zu verringern, wir würden die Entstehung der Vereinigten Arbeiter- und Bauernstaaten Europas beschleunigen, ohne die Europa der unvermeidliche ökonomische und politische Zerfall droht.


Die Vereinigten Staaten fahren fort, in ihrem ungeheuren Verdauungsapparat jene Reichtümer zu assimilieren, die sie Europa während und nach dem imperialistischen Kriege geraubt haben. Die Vereinigten Staaten sind ja auch ein demokratisches Land. Ihre Einmischung in den letzten imperialistischen Krieg geschah aus „rein idealen“ Motiven – sie wollten ja „die Demokratie gegen den Militarismus schützen“. Wir alle erinnern uns noch sehr gut daran ... Nachdem sie Europa geschwächt, beraubt, ausgesaugt hatten, wurden die Vereinigten Staaten zu einem kolossalen Babelturm der bürgerlichen Macht. Der Verdauungsprozess beschäftigt Amerika noch so sehr, dass es sich abseits von Europa hält. Aber es bereitet sich schon auf den künftigen Krieg vor. An erster Stelle stehen Luftflotte und chemische Waffen. Die Vereinigten Staaten, diese größte Fabrik der Welt, spezialisiert sich auf die Fabrikation von Giftgasen. Und diese Giftgase gelten nicht nur dem geschwächten Japan, sondern auch Europa. Die Zeitungen berichten, dass die aufgeklärten Amerikaner der Auffassung seien, dass die alten Kriegsmethoden zu barbarisch, zu veraltet und mittelalterlich seien, dass es notwendig sei, neue, verfeinerte humane Methoden anzuwenden, die nicht töten, sondern einschläfern und sogar angenehme Träume verursachen. Ihr wisst, Genossen, welche Rolle das Lachgas bei einigen Operationen spielt: soviel mir bekannt ist, benutzen es die Zahnärzte, wenn sie besonders schmerzhafte Zähne ausziehen wollen. Wenn nun das amerikanische Kapital sein „Lachgas“ bereitet, um Europa gegebenenfalls revolutionäre Zähne zu ziehen, dann müssen wir gut acht geben. Einstweilen probiert das aufgeklärte Amerika seine Gase an Verbrechern, die nicht mehr auf elektrische Stühle gesetzt – eine veraltete Methode -‚ sondern der Einwirkung der „Lachgase“ ausgesetzt werden. Das ist die letzte Errungenschaft der modernen Technik und der Quäkermoral. Die Amerikaner planen, ihre Gase an ganzen Städten, Gebieten und Ländern auszuprobieren. Man stelle sich das nur vor: Das reiche und satte Amerika schickt nach dem hungrigen revolutionären Europa seine Luftflotte und bewirft es mit seinen „Lachgasen“.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008