Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 8

Aus dem Manifest des V. Kongresses der Komintern
An das Proletariat der Welt

(6. Juli 1924)


Aus: Fünf Jahre Komintern, 2. Aufl., S.611ff.


Der gewaltigste Weltantagonismus zieht langsam aber hartnäckig jene Linie, an der die Interessen Großbritanniens mit den Interessen der Vereinigten Staaten von Nordamerika zusammenstoßen. Es konnte in den letzen Jahren scheinen, als ob zwischen diesen beiden Giganten eine dauerhafte Verständigung erzielt sei. Aber den Schein der Dauer wird diese Verständigung nur so lange haben, solange der wirtschaftliche Aufstieg der Nordamerikanischen Republik sich hauptsächlich auf der Grundlage des Binnenmarkts entfalten kann. Dieser Zustand nimmt jetzt ein Ende. Die durch den Ruin Europas herbeigeführte amerikanische Agrarkrisis ist schon ein Vorbote einer nahenden handelsindustriellen Krisis. Die Produktivkräfte Amerikas sind in steigendem Maße darauf angewiesen, einen Absatz auf dem Weltmarkt zu finden. Der Außenhandel der Vereinigten Staaten kann sich vor allem nur auf Kosten des englischen Handels entwickeln, und die amerikanische Handels- und Kriegsflotte – im Gegensatz der britischen Flotte. Auf die Periode der englisch-amerikanischen „Arbeitsgemeinschaft“ wird in zunehmendem Grade eine Periode des Kampfes folgen, die ihrerseits eine unermesslich große Kriegsgefahr in sich schließt.

Der Gegensatz zwischen Japan und den Vereinigten Staaten behält seine Spannkraft. Das japanische Erdbeben änderte das Kräfteverhältnis, milderte aber nicht die gegenseitige Feindseligkeit. Das Verbot der gelben Einwanderung nach den Vereinigten Staaten verleiht dem Kampfe dieser beiden Imperialisten des Stillen Ozeans den Charakter eines „Rassenkampfes“. Bei einem Zusammenstoß zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien wird die Rolle des japanischen Militarismus eine unvergleichlich aktivere sein, als sie es im letzten imperialistischen Kriege war.

Die unermesslichen Reichtümer der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten sind heute ein „Sprengstoff“ von unerhörter Wirkung. Die Periode der „Isolierung“ der Vereinigten Staaten, die notwendig war, um die geraubten Schätze zu verdauen, geht ihrem Ende entgegen. Das nordamerikanische Kapital will nach allen Richtungen expandieren. Eine dieser Richtungen führt nach Süden. Die Offensive gegen Mexiko wird sich verstärken, ebenso das weitere Vordringen nach Südamerika, und die völlige Unterordnung des europäischen Kapitals wird zunehmen. Der Militarismus der Vereinigten Staaten wird nicht nur zur See und im Auslande, sondern auch auf dem amerikanischen Kontinent einen aggressiveren Charakter annehmen.


Der Krieg beherrscht in latentem Zustande die Menschheit. Worin besteht die neue „Lösung“ der Frage der deutschen Zahlungen – der „Sachverständigen-(Dawes-)Plan“ –? Sie ist nichts anderes, als eine Anwendung von Kriegsmethoden bei der Lösung der grundlegenden ökonomischen Fragen: Amerika, dessen Taschen mit europäischem Golde gefüllt sind, stützt sich auf die bewaffnete Macht Frankreichs und schreibt Deutschland ein bestimmtes Wirtschaftsregime vor – zur „Strafe“ dafür, dass es besiegt wurde. Nur ausgemachte Spitzbuben können behaupten, das „Sachverständigen-Gutachten“ sei eine friedliche, demokratische, pazifistische Lösung der Frage. In Wirklichkeit hält die Entente ihren Browning Deutschland an die Schläfe und diktiert ihm ihre Auffassung. Man hält uns entgegen, dass die Wiedergeburt der europäischen Wirtschaft nur durch das „freie Spiel der kapitalistischen Kräfte“ denkbar sei; man will uns weiß machen, dass die Idee der sozialistischen Organisation der Wirtschaft in dieser Situation ganz untauglich sei. Tatsächlich aber wird die grundlegende Frage der europäischen Wirtschaft dadurch „gelöst“, dass auf Deutschland, das noch vor kurzem ein führendes kapitalistisches Land Europas war, ein ununterbrochener militärischer Druck ausgeübt wird.


Das amerikanische Kapital macht sich daran, mit Hilfe seiner Sachverständigen Europa zu „kontrollieren“, d.h. es de facto zu regieren, ebenso wie die amerikanischen Magnaten Dutzende von Trusts und Eisenbahnen kontrollieren. Außerdem hofft es, mit den europäischen Profiten die „Spitzen“ der amerikanischen Arbeiterklasse, ihre „Aristokratie“, aufzufüttern, die von dem übelsten aller Sozialverräter, Gompers, geführt wird, seine Proletariermillionen aber unbarmherzig zu unterdrücken, sie mit der Drohung einer neuen Einwanderung aus Europa niederzuhalten.

...Dieser ungeheuerliche Plan der Unterjochung der europäischen werktätigen Massen durch das angelsächsische Kapital mit Hilfe des französischen Militarismus ist von den Parteien der II. Internationale akzeptiert und gebilligt worden. Die Sozialisten der Entente nützen somit die verlogene pazifistische Maske aus, um die räuberische Politik ihrer Bourgeoisie, mit der sie Hand in Hand gehen, zu unterstützen. Die deutsche Sozialdemokratie rechnet damit, dass der Wiederaufbau einer festen kapitalistischen Ordnung ihr den Sieg über die kommunistische Gefahr geben wird. Sie verschafft sich außerdem die Möglichkeit, den Massen plausibel zu machen, dass ihre Arbeitsgemeinschaft mit der deutschen Bourgeoisie durch die Notwendigkeit des gemeinsamen Widerstandes gegen den äußeren Druck gegeben sei. Man lärmt und schreit von „kommunistischen Verschwörungen“ und einer internationalen „Tscheka“ und – inszeniert vor unseren Augen eine gigantische Verschwörung des Kapitals gegen die Werktätigen Europas und der ganzen Welt. Der Organisator dieser Verschwörung ist das Finanzkapital mit seinem Hauptquartier in New York und seiner Filiale in London. Die wichtigsten ausführenden Funktionen haben dabei die Marschälle der französischen Börse zu leisten. Die Sozialdemokraten und die Amsterdamer Gewerkschaftler treten als Advokaten, als Verteidiger dieser Verschwörung auf.

Den Sachverständigen des Kapitals eilen die Sachverständigen des Verrats zur Hilfe.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008