Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 13

Aus der Rede
Über die Entwicklungstendenzen der Weltwirtschaft

(Gehalten am 18. Januar 1926)


Veröffentlicht in Die Planwirtschaft, Nr.1, 1926.


... Es ist mir nicht klar, wie Professor Kondratjew beweisen will, dass die amerikanischen Produktivkräfte sich jetzt von Amerika nach Europa verschieben. Das ist mir absolut unverständlich. In welchem Umfange, in welchen Grenzen vollzieht sich dieser Prozess? Welche Bedeutung ist ihm beizumessen? Das muss man sich klarmachen, denn mir scheint, dass es das Grundlegende ist. Was bedeuten derartige Teilverschiebungen? Wenn man jene anerkannte Tatsache in Betracht zieht, dass Amerika die absolute Vorherrschaft auf dem Weltmarkt besitzt, so kann man hinsichtlich der europäischen Entwicklung keinerlei Prognosen aufstellen, ohne die wachsende Machtstellung der Vereinigten Staaten zu berücksichtigen. Das hieße die Rechnung ohne den Wirt machen. Ich meine, dass dies jetzt eine allgemein anerkannte Tatsache ist, über die nicht mehr diskutiert zu werden braucht.

Wenn man also Amerika so betrachtet und im Auge behält, dass Amerika Europa braucht, ein Europa, das stark genug ist, um ihm die Zinsen zu bezahlen und jene Waren abzukaufen, die Amerika andernorts nicht verkaufen kann, das gleichzeitig schwach genug ist, um Amerika auf dem Außenmarkt nicht zu gefährden und seiner Expansion keine Hindernisse in den Weg zu legen – ich spreche nicht von Kriegsgefahren, von Seekrieg oder Landkrieg -‚ so wird es klar, dass Amerika eine ganz bestimmte Verhaltungslinie Europa gegenüber einnimmt, dass es Europa einen ganz bestimmten Platz angewiesen hat, auf dem es Europa halten will.

Das ist seine Politik. Das macht Amerika zu einem pazifistischen Würger Englands. Es verfährt ungefähr ebenso wie etwa ein kluger Bankier, der einige miteinander konkurrierende Trusts finanziert. Er will von jedem seinen Profit haben. Die Trusts konkurrieren miteinander. Sie können unter Umständen einander ruinieren. Das bringt Verluste, das muss unter allen Umständen vermieden werden. Die ganze Politik eines solchen Bankiers würde darin bestehen, vor allem natürlich die Profite zu sichern, ohne die Konkurrenz zwischen den Trusts aufzuheben; denn sonst könnten sie sich vereinigen und in einem Grade emanzipieren, der der Selbstherrschaft des Bankiers bedrohlich werden könnte. Andererseits darf man nicht gestatten, dass sie sich gegenseitig vernichten, denn das würde Verluste bringen. Das ist ein grober Vergleich, der aber um so richtiger ist, als Amerika tatsächlich vom industriellen Kapitalismus zum finanzindustriellen Kapitalismus höchsten Wuchergrades übergeht. Das ist das Verhältnis zwischen Amerika und Europa.


Wenn Amerika in den nächsten 15 Jahren aufsteigen wird, so wird das auf Kosten Europas geschehen. Und was bedeutet das für Europa? Das bringt Europa revolutionäre Aussichten. Und was bedeuten Hemmungen auf dem Wege der ökonomischen Entwicklung Amerikas? Das bedeutet ein wildes Wachsen des amerikanischen Militarismus; denn die zunehmende ökonomische Dampfspannung wird sich diesen Ausweg verschaffen. Es ist klar, was das Kapital und die Schwerindustrie von dem Präsidenten, von der Regierung und von dem Senat fordern werden: Baut neue Schiffe, erweitert die Rüstungsprogramme!

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008