Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


Anhang 14

Aus dem Aufsatz
Wohin steuert England? (Tempo und Fristen)

(11. Februar 1926)


Aus: Prawda, Nr.34, 11. Februar 1926.


Das unermessliche industrielle und finanzielle Übergewicht der Vereinigten Staaten Nordamerikas über England ist eine Tatsache, deren Bedeutung mit jedem Tage wachsen wird. Es gibt nichts in der Welt, das die mörderischen Folgen mildern könnte, die sich für England aus dieser unvergleichlichen amerikanischen Überlegenheit ergeben.

Wenn die sogenannte „Befriedung“ Europas anhält, wird sie eine Wiedergeburt der deutschen Konkurrenz mit sich bringen, und wenn an Stelle dieser Befriedigung Kriegs- oder Revolutionskrisen treten werden, werden sie sich vor allem an der Wirtschaft Großbritanniens auswirken.

Auch weiterhin werden neue Erfindungen dem Stärkeren zugute kommen, d.h. nicht Großbritannien, sondern den Vereinigten Staaten. Dass die „andere Partei“, d.h. die Bourgeoisie, die Gefahr erkennen und sie mit allen Mitteln bekämpfen wird – das steht fest. Aber das ist ja gerade die wichtigste politische Voraussetzung für die Revolution. Ganz phantastisch ist schließlich die Hoffnung auf den „rettenden Arm“ Amerikas. Dass Amerika, im Falle eines Bürgerkrieges in England, versuchen wird, der englischen Bourgeoisie zu helfen, das ist mehr als wahrscheinlich; aber es bedeutet nur, dass auch das englische Proletariat sich seine Bundesgenossen außerhalb der Landesgrenzen suchen muss. Wir meinen, dass es sie finden wird. Hieraus ergibt sich, dass die englische Revolution unvermeidlich internationale Ausmaße annehmen wird. Das wollen wir ganz und gar nicht bestreiten. Aber unser Kritiker will etwas anderes sagen. Er drückt die Hoffnung aus, dass Amerika der englischen Bourgeoisie das Leben so sehr erleichtern wird, dass eine Revolution überhaupt vermieden werden wird. Etwas Verkehrteres lässt sich nicht denken. Jeder Tag bringt neue Beweise dafür, dass das amerikanische Kapital jener historische Mauerbrecher ist, der der internationalen Lage und inneren Stabilität Englands bewusst und unbewusst die vernichtendsten Stöße versetzt. Das hindert aber unsere links orientierten Kritiker nicht, an der Hoffnung festzuhalten, dass das amerikanische Kapital sich im Interesse des britischen freundlich bescheiden wird. Wir sollen offenbar glauben, dass Amerika etwa auf die Zahlung der englischen Schuld verzichten wird; dass es dem britischen Schatzamt die 300 Millionen Dollars, die die Reserve der britischen Valuta sind, schenken wird; dass es die Politik Großbritanniens in China unterstützen wird; dass es der britischen Flotte einige neue Kreuzer zur Verfügung stellen und den englischen Firmen seine Kanada-Aktien um 50% billiger übergeben wird. Kurz, wir sollen glauben, dass die Regierung in Washington die Leitung der Staatsgeschäfte in die Hände der A.R.A. [1] legen und zu diesem Zweck die menschenfreundlichsten Quäker anstellen wird.


Fußnote

1. A.R.A. = Abkürzung für American Relief Association, private amerikanische Hilfsvereine, die in Europa, z.T. auch in der Sowjetunion während der dortigen Hungersnot, wirkten.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008