Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


I. Zwei Pole der Arbeiterbewegung.
Der patentierte Opportunismus

Die gegenwärtige internationale Arbeiterbewegung der Gegenwart hat zwei Pole, die mit einer in der Geschichte nie dagewesenen Klarheit zwei grundlegende Tendenzen der Arbeiterklasse der Welt markieren. Der eine Pol – der revolutionäre – liegt bei uns; der andere, der opportunistische – in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die amerikanische Arbeiterbewegung der letzten 2-3 Jahre weist bisher unerreichte Formen und Methoden des Reformismus, d.h. der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie, auf.

Wir haben die Politik der Klassenopportunität in der Vergangenheit verfolgt, wir haben sie mit den Augen der Geschichte und auch mit unseren eigenen gesehen. Wir waren der Auffassung – und soweit es sich um die Vergangenheit handelte, war sie richtig – dass der Opportunismus in seiner vollendeten Form in der Epoche vor dem Kriege in England anzutreffen war, das den abgeschlossenen Typus des alten konservativen englischen Trade-Unionismus geschaffen hat. Wir müssen jetzt unsere Ansicht dahin korrigieren, dass der englische Trade-Unionismus der klassischen Epoche, d.h. der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sich so zu dem modernen amerikanischen Opportunismus verhält, wie etwa eine Hausindustrie zu einer amerikanischen Fabrik. Wir haben jetzt in U.S.-Amerika die breite Bewegung von sogenannten „Company Unions“, d.h. von Organisationen, die im Gegensatz zu den Trade-Unions, nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer vereinigen, genauer – die Vertreter der beiden. Mit anderen Worten: die Erscheinung, die in der Epoche der zünftlerischen Organisation der Produktion entstanden war und später verschwand, nimmt heute in dem mächtigsten kapitalistischen Lande ganz neue, unerhörte Formen an. Wenn ich nicht irre, so war Rockefeller der Initiator dieser Bewegung, die schon vor dem Kriege aufkam. Aber erst in der letzten Zeit, eigentlich seit dem Jahre 1923, erfasste diese Bewegung die größten nordamerikanischen Konzerne. Die American Federation of Labor (A.F. of L., amerikanischer Gewerkschaftsbund), die offizielle Gewerkschaftsorganisation der Arbeiteraristokratie, schloss sich mit diesen oder jenen Vorbehalten dieser Bewegung an, die somit ein vollständiges und endgültiges Zugeständnis der „Identität“ der Interessen der Arbeiter und des Kapitals dokumentiert und, folglich, die Notwendigkeit von selbständigen Klassenorganisationen des Proletariats zur Verfolgung auch der minimalsten und nächsten Ziele verneint.

Daneben ist jetzt in den Vereinigten Staaten eine Entwicklung von Arbeitersparbanken und Versicherungsgesellschaften zu beobachten, in denen die Vertreter der Arbeit und des Kapitals zusammenarbeiten. Es braucht nicht gesagt zu werden, dass die Vorstellung von dem amerikanischen Arbeitslohn – als einem Lohn, der einen hohen Wohlstand sichere – außerordentlich übertrieben ist; es steht nur fest, dass der Arbeitslohn in Amerika den qualifizierten Arbeiter gewisse „Ersparnisse“ gestattet. Und das Kapital erfasst diese angehäuften Mittel durch die Arbeiterbanken und lässt sie in den Betrieben desselben Industriegebiets kursieren, aus denen die Ersparnisse der Arbeiter stammen. Auf diese Weise erreicht das Kapital eine Vergrößerung seiner Betriebsmittel und „interessiert außerdem“ die Arbeiter an der Entwicklung der Industrie.

Die American Federation of Labor hat es für notwendig erkannt, eine gleitende Skala des Arbeitslohns, auf der Grundlage einer angeblich vollständigen Solidarität der Interessen der Arbeit und des Kapitals, einzuführen: der Arbeitslohn ändert sich entsprechend der Arbeitsleistung und dem Gewinn. Auf diese Weise wird die Theorie der Interessensolidarität praktisch verwirklicht und der Anschein einer „gleichberechtigten“ Nutznießung des Volkseinkommens erweckt. Das sind die grundlegenden ökonomischen Formen dieser neuen Bewegung, die wir genau prüfen und verstehen müssen.

Die A.F. of L. [= Amerik. Gewerkschaftsbund], deren Führer Gompers war, und die mit seinem Namen verknüpft ist, hat in den letzten Jahren einen großen Teil ihrer Mitglieder eingebüßt. Die Federation zählt jetzt nur noch etwa 2.800.000 Mitglieder – ein verschwindend geringer Prozentsatz des amerikanischen Proletariats -‚ wenn man berücksichtigt, dass es in den Vereinigten Staaten – in Industrie, Handel und Landwirtschaft zusammen – etwa 25 Millionen Lohnarbeiter gibt. Aber die A.F. of L. ist damit zufrieden. Soweit es die offizielle Lehre der Federation selbst ist, dass alle Konflikte nicht durch den Massenkampf, sondern durch die Verständigung zwischen Arbeit und Kapital gelöst werden müssen; soweit in den „Company Unions“ dieser Gedanken seinen höchsten Ausdruck gefunden hat – soweit können und müssen die Trade-Unions ihre Aufgabe lediglich darin sehen, die im Namen der gesamten Klasse auftretenden und handelnden „arbeiteraristokratischen“ Spitzen zu organisieren.

Diese Arbeitsgemeinschaft beschränkt sich nicht auf das finanzielle und industrielle Gebiet (Banken, Versicherungsgesellschaften). Sie dehnt sich voll und ganz auf das Gebiet der Politik aus, sowohl der inneren als der internationalen. Die A.F. of L. und jene neuen „Company Unions“, d.h. die Zweiklassen-Organisationen, mit denen sie eng liiert ist und auf die sie sich direkt oder indirekt stützt, führen einen entscheidenden Kampf gegen den Sozialismus und überhaupt gegen die revolutionären Doktrinen Europas, zu denen dort auch die der II. und der Amsterdamer Internationalen gerechnet werden! Die A.F. of L. hat sich die Monroe-Doktrin, „Amerika für die Amerikaner“, zum eigenen Gebrauch zurechtgemacht, indem sie sie folgendermaßen deutet: „Wir können und wollen Euch, den europäischen Pöbel, lehren, aber steckt Eure Nasen nicht in unsere Angelegenheiten!“ Auch hier ist die Federation Nachbeterin der Bourgeoisie. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, da die amerikanische Bourgeoisie noch die Parole aufstellte: „Amerika für die Amerikaner, Europa für die Europäer“ – bedeutet jetzt die Monroe-Doktrin nur ein Verbot für die anderen, sich in die Angelegenheiten Amerikas einzumischen, aber keineswegs ein Verbot für Amerika, sich in die Angelegenheiten aller übrigen Erdteile einzumischen. Amerika für die Amerikaner, aber Europa – auch für die Amerikaner!

Die A.F. of L. hat jetzt eine groß-amerikanische „Federation“ geschaffen, d.h. eine Organisation, die sich auch auf Südamerika erstreckt und dem nordamerikanischen Imperialismus einen Weg nach Lateinamerika bahnt. Die Börse von New York besitzt kein besseres politisches Instrument. Aber das bedeutet gleichzeitig, dass der Kampf der südamerikanischen Völker gegen den sie würgenden nördlichen Imperialismus gleichzeitig ein Kampf gegen den demoralisierenden Einfluss der panamerikanischen „Federation“ sein wird.

Die von Gompers geschaffene Organisation steht bekanntlich außerhalb der Amsterdamer Internationale. Diese ist für sie ein Gebilde des entarteten Europa, das von revolutionären Vorurteilen allzu sehr vergiftet sei. Die amerikanische Federation steht ebenso außerhalb Amsterdams, wie das amerikanische Kapital außerhalb des Völkerbundes. Dieser letzte Umstand hindert bekanntlich das amerikanischen Kapital nicht, die Drähte zu ziehen, die den Völkerbund dirigieren; ebenso wenig wie der Umstand, dass die A.F. of L. außerhalb Amsterdams steht, sie keineswegs hindert, die reaktionäre Bürokratie der Amsterdamer Internationale zu beeinflussen; auch hier sehen wir somit einen durchgehenden Parallelismus in der Arbeit Coolidges und der Gompers-Erben. Die A.F. of L. hat den Dawes-Plan unterstützt, als er vom amerikanischen Kapital verwirklicht wurde. In allen Weltteilen führt sie einen Kampf um die Rechte und Prätensionen des amerikanischen Imperialismus und somit vor allem – gegen die Sowjetrepubliken.

Dieser neue Opportunismus höchster Stufe, dieser patentierte, konsequente, in den „Zweiklassen“-Institutionen: in den Company Unions, Koalitionsbanken und Versicherungsgesellschaften organisatorisch verkörperte Opportunismus, hat jetzt amerikanische Ausmaße, amerikanischen Schwung bekommen. Es sind sogar große kapitalistische Unternehmungen entstanden, die Betriebsräte auf paritätischer Grundlage mit Unternehmern, oder nach dem Muster des Unter- und Oberhauses usw. organisieren. Es ist ein Standard-Opportunismus aufgestellt worden, er wird mechanisiert und von großen kapitalistischen Firmen in Aktion gesetzt. Diese echt amerikanische Erscheinung – eine Art soziales „Fließband“ des Opportunismus – fördert automatisch die Unterjochung der Arbeiterklasse.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004