Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


III. Die neue Rolle Amerikas und Europas

Die Wirtschaftsachse unseres Erdballs hat sich in den letzten Jahren grundlegend verschoben – das Verhältnis zwischen U.S.A. und Europa hat sich tiefgreifend verändert. Das war ein Ergebnis des Krieges. Dieser Prozess bereitete sich natürlich schon seit langem vor, auch früher schon traten Symptome dessen in Erscheinung, aber als fertige Tatsachen erleben wir ihn erst jetzt und versuchen nun, uns über jene gigantische Verschiebung Rechenschaft zu geben, die auf dem Gebiete der menschlichen Wirtschaft, also menschlicher Kultur, sich vollzogen hat. Ein deutscher Schriftsteller hat aus diesem Anlass Goethes Worte über den unbeschreiblichen Eindruck zitiert, den der kopernikanische Gedanke – die Sonne drehe dich nicht um die Erde, sondern diese als bescheidener Planet mittlerer Größe um die Sonne – auf die Zeitgenossen gemacht hat. Viele glaubten es nicht, wollten es nicht glauben. Der geozentrische Patriotismus fühlte sich arg verletzt. Auch der Fall Amerika ist von derselben Art. Der europäische Bourgeois will noch immer nicht glauben, dass er sich von jetzt ab mit einer „Kellerwohnung“ begnügen muss, dass der Herr der kapitalistischen Welt die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind.

Ich habe schon auf die grundlegenden geographischen und historischen Tatsachen hingewiesen, die diese gigantische Verschiebung der wirtschaftlichen Kräfte vorbereitet haben. Aber es musste der Krieg kommen, um Amerika zu dieser Höhe emporschnellen zu lassen, um Europa in den Abgrund zu stürzen und die plötzliche Verschiebung der „Weltachse“ zu bewirken. Der Krieg, betrachtet als ein Unternehmen zwecks Zerstörung und Deklassierung Europas, kostete Amerika etwa 25 Milliarden Dollar. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die amerikanischen Banken jetzt etwa 60 Milliarden Golddollar besitzen, so dürfte die Summe von 25 Milliarden nicht ins Gewicht fallen! Außerdem wurden 10 Milliarden als Anleihen in Europa verteilt. Diese 10 Milliarden mit den noch nicht bezahlten Zinsen verwandelten sich seit jener Zeit in 12 Milliarden, und Europa sieht sich nun gezwungen, zum eigenen Ruin Zahlungen an Amerika zu leisten. Das ist eine Mechanik, kraft der die Vereinigten Staaten sich plötzlich zu Schicksalslenkern der ganzen Welt aufgeschwungen haben. Ein Land mit einer Bevölkerung von 115 Millionen ist im buchstäblichen Sinne des Wortes zum Herrn und Richter über Europa geworden. Versteht sich – mit einer Ausnahme: der UdSSR. Bis zu uns reicht der Arm Amerikas nicht und – wir wissen es genau – wird er niemals reichen. Aber Europa zählt außer uns noch 345 Millionen Menschen, also 3-mal mehr als U.S.-Amerika.

Der Wechsel der Rollen wird durch den Reichtum hüben und drüben bedingt. Man weiß, dass die Feststellungen des Volksvermögens nicht sehr genau sind, aber für unsere Zwecke reichen sie aus. Betrachten wir Europa und U.S.-Amerika, wie sie vor 50 Jahren, zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges waren. Das Volksvermögen der Vereinigten Staaten wurde damals auf 30 Milliarden Dollar geschätzt, dasjenige Englands – annähernd auf 40 Milliarden, Frankreichs – 33 Milliarden, Deutschlands – 38 Milliarden Dollar. Wie wir sehen, differierte das Niveau dieser 4 Länder nur wenig: alle besaßen 30-40 Milliarden, wobei U.S.A. unter den vier reichsten Staaten die letzte Stelle einnahm. Das war im Jahre 1872. Und wie steht es heute, 50 Jahre später? Heute ist Deutschland, wenn man seine Gebietsänderungen berücksichtigt, nicht reicher, sondern ärmer geworden (36 Milliarden), Frankreich – etwa doppelt so reich (68 Milliarden), England – ebenfalls (etwa 89 Milliarden), während das Volksvermögen U.S.A. jetzt, nach vorsichtiger Schätzung, 320 Milliarden Dollar beträgt. Von den hier genannten europäischen Ländern ist also das eine auf das alte Niveau zurückgekehrt, die beiden anderen haben ihr Vermögen verdoppelt. Die Vereinigten Staaten dagegen sind in der gleichen Periode um das 11fache reicher geworden! Wenn also Amerika sich den Ruin Europas nur 25 Milliarden hat kosten lassen, so hat es dabei ein Geschäft gemacht.

Amerika war vor dem Kriege Europas Schuldner. Europa war vor dem Kriege die Fabrik der Welt. Europa war das zentrale Warenlager der Welt. Europa, und vor allem England, war die Zentralbank der Welt. Diese drei entscheidenden Funktionen hat Europa jetzt an Amerika abgetreten. Europa ist die Vorstadt der Welt geworden. Die Fabrik der Welt, das Handelslager der Welt, die Zentralbank der Welt sind jetzt die U.S.A..

Bekanntlich spielt das Gold in der kapitalistischen Gesellschaft eine nicht unwesentliche Rolle. Lenin sagte, dass wir im Sozialismus gewisse der Bequemlichkeit des Publikums dienende Einrichtungen in den Straßen aus Gold bauen werden. Aber – unter dem sozialistischen Regime! Der Kapitalismus aber kennt keine erhabenere Institution als die goldgefüllten Keller einer Bank. Wie steht es damit in Amerika? Wenn ich nicht irre, erreichte sein Goldvorrat vor dem Kriege die Summe von 1,9 Milliarden; am 1. Januar 1925 besaßen die Vereinigten Staaten 4½ Milliarden Golddollar, also etwa 50% des Weltvorrats, heute besitzen sie mindestens 60%.

Und was geschah mit Europa in der Zeit, als Amerika seinen Goldbestand auf 60% des Weltvorrats brachte? Europa sank. Europa stürzte sich in den Krieg, weil der europäische Kapitalismus es in dem engen Rahmen von Nationalstaaten nicht mehr aushalten konnte. Das Kapital wollte diese Rahmen sprengen, ein breiteres Wirkungsfeld für sich schaffen, wobei das fortschrittlichere deutsche Kapital am wütendsten losschlug, losschlug mit dem Ziel „Europa zu organisieren“, d.h. die Zollschranken umzuwerfen. Und das Ergebnis? Der Versailler Friede brachte Europa etwa 17 neue Staaten und Gebiete. 7000 Kilometer neue Grenzen wurden in Europa gezogen, eine entsprechende Anzahl von Zollämtern und Truppen diesseits und jenseits der Grenze kamen hinzu. In Europa gibt es jetzt um eine Million mehr Soldaten als vor dem Kriege. Und auf dem Wege zu diesen „Errungenschaften“ hat Europa ungeheure Massen eigener materieller Werte zerstört und sich und seine Nachbarn ruiniert.

Nicht genug damit. Für alle seine Nöte, für die wirtschaftliche Zerstörung, für die neuen sinnlosen, den Handel desorganisierenden Zollschranken, für die neuen Grenzen und neuen Truppen – für alles das, für seine Zerstückelung, seinen Ruin, für seine Erniedrigung, für den Krieg und für den Versailler Frieden muss Europa an die Vereinigten Staaten die Zinsen für die Kriegsanleihen zahlen.

Europa ist verarmt. Es verarbeitet um mindestens 10% weniger an Rohstoffen als vorm Kriege. Das spezifische Gewicht Europas in der Weltwirtschaft hat sich um ein Vielfaches verringert. Das einzige, was im heutigen Europa stabil ist, das ist seine Arbeitslosigkeit. Es ist sehr bezeichnend, dass die bürgerlichen Volkswirtschaftler auf der Suche nach einer Rettung, die reaktionärsten Theorien aus den alten Archiven hervorgeholt haben: Malthusianismus und Auswanderung. Der siegreiche Kapitalismus hat in den besten Jahrzehnten seiner Entwicklung dieser Theorien nicht bedurft. Aber der altersschwache, senile, verkalkende Kapitalismus wird kindisch und greift zu diesem „Zaubertränkchen“.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004