Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


V. Pazifismus und Konfusion

Aber ehe wir fortfahren, müssen gewisse Unklarheiten aus der Welt geschafft werden. Die uns beschäftigenden Weltprozesse entfalten sich mit einer solchen Schnelligkeit und in derartigen Ausmaßen, dass der Gedanke ihnen nur schwer beikommt, sie nur mit Mühe erfasst Es ist daher nicht erstaunlich, wenn die internationale Presse, sowohl die bürgerliche als auch die proletarische, sich in letzter Zeit eifrig mit dieser Frage beschäftigt. In Deutschland ist eine Reihe von Büchern erschienen, die sich mit der Rolle der U.S.A. gegenüber dem balkanisierten Europa befassen. Im Verlaufe des internationalen Meinungskampfes, der um diese Frage entstanden ist, wurde auch ein Referat berührt, das ich vor zwei Jahren an dieser Stelle gehalten habe. Ich habe eine amerikanische Arbeiterzeitschrift vor mir, die ich vor einigen Tagen zufällig gerade auf der Seite aufschlug, die die Wechselbeziehungen zwischen Amerika und Europa behandelt; mein Blick fiel auf den Ausspruch über die amerikanischen „Rationen“. Diese Angelegenheit erweckte natürlich mein Interesse, besonders, als ich zu meinem größten Erstaunen das Folgende aus diesem Aufsatz erfuhr:

„Trotzki vertritt den Gedanken, dass wir in die Periode friedlicher englisch-amerikanischer Beziehungen eingetreten sind; der Einfluss des Verhältnisses zwischen England und Amerika wird (nach Trotzkis Auffassung) eher eine Konsolidierung des Weltkapitalismus als seine Zersetzung herbeiführen.“

Nicht übel – nicht wahr? Macdonald selbst hätte es nicht besser sagen können. Weiter:

„Die alte Theorie Trotzkis von dem rationierten Europa“ ...

Ist sie wirklich so alt? – Doch nur etwas über zwei Jahre!

„Die alte Theorie Trotzkis über das rationierte Europa und über das in amerikanisches Dominion verwandelte Europa beruht auf dieser Einschätzung der englisch-amerikanischen Beziehungen ...“ usw. usw.
(Joe Lovestone, Labor Monthly, November 1925).

Als ich diese Zeilen gelesen hatte, rieb ich mir eine Weile die Stirn im vergeblichen Bemühen, festzustellen, wo und wann ich gesagt hätte, dass England und Amerika in gutem Einvernehmen lebten, und dass das gute Verhältnis dieser beiden Länder zueinander den europäischen Kapitalismus festigen und nicht zersetzen werde? Wenn ein Kommunist, der dem „Pionier“-Alter entwachsen ist, etwas Ähnliches behauptet, dann müsste man ihn sofort aus der Partei hinauswerfen. Nachdem ich diesen mir zugeschriebenen Unsinn gelesen hatte, nahm ich das Manuskript meines Referates zur Hand, das ich hier vor zwei Jahren gehalten habe. Und wenn ich jetzt von meiner damaligen Rede Gebrauch mache, so geschieht es nicht, um Lovestone und seinesgleichen daran zu erinnern, dass, weil man etwas schreiben will – ganz gleich, englisch oder französisch, in Europa oder Amerika – man genau wissen muss, was man schreibt. Nein, nicht zu diesem untergeordneten Zweck greife ich zu meinem damaligen Referat, sondern deshalb, weil die dort angewandte Fragestellung auch für die Gegenwart brauchbar ist, denn die Grundlage der Situation ist dieselbe. Aus diesem Grunde sehe ich mich gezwungen, einiges hier zu zitieren:

„Was will das amerikanische Kapital? Was verlangt es? Es verlangt – so sagt man uns – Stabilität, es will den europäischen Markt wiederherstellen, es will Europa zahlungsfähig machen. Wie? Auf welchem Wege? In welchen Ausmaßen? Unter seiner Hegemonie. Und das bedeutet? Das bedeutet, dass man Europa gestatten will, innerhalb bestimmter, im Voraus gesetzter Grenzen zu gesunden, zu welchem Zweck Europa bestimmte, fest umrissene Parzellen des Weltmarktes eingeräumt werden. Das amerikanische Kapital hat jetzt das Kommando in der Hand, und die Diplomaten fügen sich. Es geht daran, seine befehlshaberische Gewalt auf die europäischen Banken und Trusts, auf die europäische Bourgeoisie in ihrer Gesamtheit auszudehnen.“

Vor zwei Jahren sagten wir: „Die Diplomaten fügen sich (in Versailles, Washington) und es geht daran, seine Gewalt auf die Banken und Trusts auszudehnen.“ Heute sagen wir: es befiehlt bereits den Banken und Trusts einer Reihe von europäischen Staaten und geht daran, den Banken und Trusts aller übrigen kapitalistischen Staaten Europas zu befehlen. Ich fahre fort im Zitat: „Es wird die allen zukommenden Gebiete des Absatzmarktes zuschneiden, es wird die Tätigkeit der europäischen Finanziers und Industriellen normieren. Wenn man die Frage – was will das amerikanische Kapital? – klar und präzis beantworten will, so wird man folgendes sagen müssen: es will das kapitalistische Europa auf Ration setzen.“ Wir sagten also damals, dass es Europa auf Ration setzen will – nicht etwa „gesetzt hat“ und nicht einmal „setzen wird“. So sagten wir vor zwei Jahren.

Und wie steht es mit der Idee der friedlichen Arbeitsgemeinschaft mit England, die Lovestone mir in den Mund legt? Sehen wir uns das Stenogramm an: „Es handelt sich, im Grunde genommen, nicht nur um Deutschland oder Frankreich, sondern auch um Großbritannien. Ja, auch diese Großmacht wird sich allmählich auf dasselbe Schicksal gefasst machen müssen.“ Das Folgende bitte ich besonders zu beachten: „Man sagt zwar oft genug, dass Amerika jetzt mit England zusammengehe, dass ein angelsächsischer Block sich gebildet habe, man spricht von angelsächsischem Kapital, von angelsächsischer Politik ... Aber so sprechen jene, die von der Sache nichts verstehen. Der grundlegende Antagonismus verläuft an den Berührungspunkten der U.S.-amerikanischen und der englischen Interessen. Das wird mit jedem Tage mehr in Erscheinung treten ...“ Warum? Weil England noch immer das reichste und mächtigste Land nach den Vereinigten Staaten ist. Es ist der Hauptrivale, das größte Hindernis auf dem Wege.

Denselben Gedanken, aber noch schärfer ausgedrückt, entwickelte ich im Manifest des V. Kongresses. Aber ich will Eure Aufmerksamkeit nicht mit Zitaten ermüden. Nur das eine wollen wir hier aus dem damaligen Referat anführen – das, was die von Amerika organisierten „freundschaftlichen“ Beziehungen berührt. „Dieses amerikanische ‚pazifistische‘ Programm der Allerweltsverknechtung ist keineswegs ein friedliches: im Gegenteil, es trägt in sich die Keime von Kriegen und größten revolutionären Erschütterungen ... Denn die Vorstellung, dass die Bourgeoisie aller Länder sich demütig treten lassen und widerstandslos in einen Vasallen Amerikas verwandeln wird, ist nicht haltbar. Zu groß sind die Widersprüche, zu unersättlich die Profitgier, zu unausrottbar das Bestreben nach Erhaltung der alten Weltherrschaft, zu alt die Gewohnheit Englands, die Welt zu regieren. Militärische Konflikte sind unausbleiblich. Die einsetzende Ära des ‚pazifistischen‘ Amerikanismus bereitet neue Kriege von unerhörten Ausmaßen, von nie dagewesener Ungeheuerlichkeit vor.“

Das war unsere Auffassung, die wir vor zwei Jahren in bezug auf die „Arbeitsgemeinschaft“ zwischen Amerika und England zum Ausdruck gebracht haben ... Ich möchte mir erlauben, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass, als wir für die Entwicklung unserer chemischen Industrie eintraten, wir vor allem auf das Arsenal in Edgwood hinwiesen, als auf eine jener Quellen des amerikanischen Militarismus, die die Völker Europas ganz besonders bedroht.

Das Folgende endlich sagten wir vor zwei Jahren über den Einfluss Amerikas auf die europäischen Gegensätze: „Es steht dabei von Anfang an fest, dass jene Gegensätze, die den imperialistischen Krieg vorbereitet und vor zehn Jahren Europa in den Krieg gestürzt haben, dass jene Gegensätze, die durch den Krieg verschärft, durch den Versailler Frieden festgenagelt und durch den weiteren Verlauf des Klassenkampfes in Europa vertieft worden sind – dass alle diese Gegensätze, klaffenden Wunden gleich, bestehen bleiben. Und die Vereinigten Staaten werden die ganze Schärfe dieser Gegensätze zu spüren bekommen.“

Seit jener Zeit sind zwei Jahre vergangen. Lovestone mag ein guter Kritiker sein, aber nicht auf dem Gebiet, mit dem er sich in seinem Artikel befasst hat. Wir verlassen uns lieber auf die Kritik der Zeit.

Um zu dieser Frage nicht mehr zurückzukehren, schließen wir dieses Kapitel mit einem Ratschlag, den Engels einstmals einem gewissen Stiebeling, ebenfalls einem Amerikaner, gab: „Wenn man sich mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigen will, muss man vor allem die Werke der Autoren, die man benützen will, so zu lesen lernen, wie sie von diesen geschrieben worden sind, und vor allem nicht etwas aus ihnen herauslesen wollen, was sie nicht enthalten.“ Diese Worte des alten Engels sind sehr gut, nicht nur für Amerika, sondern für alle fünf Weltteile, zu gebrauchen.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008