Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


VI. Die Praxis des amerikanischen Pazifismus

Die Zeit ist auf allen Gebieten der beste Kritiker. Sehen wir zu, wie die Methoden der amerikanischen friedlichen Expansion in den letzten Jahren in Wirklichkeit waren. Eine einfache Übersicht der wichtigsten Tatsachen wird uns zeigen, dass der amerikanische „Pazifismus“ als eine Methode des (einstweilen) geräuschlosen imperialistischen Raubrittertums und maskierten Vorbereitung auf die größten Konflikte – einen durchschlagenden Erfolg zu verzeichnen hat.

Das Wesen des amerikanischen „Pazifismus“ gelangt am prägnantesten in der Konferenz von Washington 1922 zum Ausdruck. In den Jahren 1919/20 fragten sich viele, und darunter auch ich: Was wird 1922/23 geschehen, da das maritime Bauprogramm der Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt eine Gleichstellung mit Großbritannien sichern sollte? Sollte England, diese winzige Insel, deren Vormachtstellung durch das Übergewicht seiner Flotte über die Flotten zweier der stärksten Länder bedingt war, seine Machtstellung kampflos aufgeben? Viele, und auch ich, hielten einen Krieg zwischen England und Amerika, mit Beteiligung Japans, 1922/23 nicht für ausgeschlossen. Und was geschah statt dessen? Statt eines Krieges kam der ... reinste „Pazifismus“ zustande. U.S.-Amerika lud England nach Washington ein und sagte: „Bitte, hier ist Ihre Flottenration: ich werde fünf Einheiten haben, und Sie – fünf Einheiten; Japan – drei Einheiten, Frankreich – ebenfalls drei.“ Das ist das Flottenprogramm! Und England hat es angenommen.

Was ist das? Das ist „Pazifismus“. Aber ein Pazifismus, der seinen Willen mit ungeheuerlicher wirtschaftlicher Übermacht aufzwingt und seine militärische Übermacht in der nächsten historischen Periode „friedlich“ vorbereitet.

Und das Dawes-System? Als Poincaré seine kindischen Pläne in Mitteleuropa verwirklichte, indem er das Ruhrgebiet besetzte, beobachteten die Amerikaner die Ereignisse mit Fernrohren und warteten ab. Als der sinkende Frank und andere Unannehmlichkeiten Poincaré zum Abbau zwangen, erschien ein Amerikaner mit einem Befriedungsplan Europas. Der Amerikaner kaufte sich für 800 Millionen Mark das Recht, Deutschland zu dirigieren, trotzdem England die Hälfte dieser Summe hergeben musste. Und um diesen billigen Preis von 400 Millionen Mark erzwang sich die New-Yorker Börse das Recht, dem deutschen Volk ihren Kontrolleur auf den Hals zu setzen. „Pazifismus“? Gewiss – eine pazifistische Schlinge!

Und das Schwanken der Währung und ihre Stabilisierung? Es passt dem Amerikaner nicht, wenn die europäische Valuta hin und her wankt. Es passt ihm deshalb nicht, weil das Europa in die Lage versetzt, billig zu exportieren. Eine feste Valuta will der Amerikaner überdies haben, weil die Anleihezinsen, und überhaupt die finanzielle Ordnung, eine solche wünschenswert erscheinen lassen. Wie hätte er sonst sein Kapital im Auslande investieren können? Und der Amerikaner zwang die Deutschen zur Einführung einer festen Währung, er zwang auch die Engländer dazu, indem er ihnen 300 Millionen Dollar lieh. Lloyd George sagte kürzlich: „Jetzt kann das Pfund Sterling dem Dollar offen ins Gesicht blicken.“ Dieser Lloyd George ist ein tapferer alter Witzbold. Freilich kann das stolze Pfund Sterling das tun, nachdem 300 Millionen Dollar ihm das Rückgrat versteift haben.

Und Frankreich? Die französische Bourgeoisie fürchtet den Übergang zur stabilisierten Valuta. Das ist eine sehr schmerzhafte Operation. Der Amerikaner sagt: Ich verlange feste Währung, sonst kriegst du keine Anleihen. Er fordert von Frankreich Abrüstung, damit es seine Schulden bezahle. Der idealste Pazifismus – Abrüstung! Stabilisierung der Währung! –‚ was kann man Besseres wünschen? Amerika ist im Begriff, Frankreich auf „friedlichem“ Wege in die Knie zu zwingen.

Die Frage der Goldparität und der englischen Schulden ist bereits reguliert. England zahlt – wenn ich nicht irre – an die Vereinigten Staaten von jetzt ab gegen 670 Millionen Mark jährlich. England hat seinerseits die Schuldenfrage mit Italien geregelt und wird von diesem unbedeutende Zahlungen erhalten. Frankreich schuldet an England und Amerika mehr als alle anderen, aber es zahlt noch nichts. Es wird jedoch wohl oder übel zahlen müssen, wenn nicht andere Ereignisse – revolutionärer, nicht finanzieller Art – sämtliche alten Verpflichtungen auslöschen werden. Deutschland zahlt an Frankreich und England, die auch von uns Tilgung der Schulden verlangen. Wie ist nun die gegenwärtige Situation in Europa? Die englische Bourgeoisie ist im Begriff, ihr Geld in ganz Europa zusammenzusuchen, um die so aufgebrachten Summen mit einem Aufschlag über den Atlantischen Ozean zu schicken. Was ist jetzt das Amt des Herrn Baldwin oder des Königs Georg? Sie sind nur der erste Steuerinspektor Amerikas in den europäischen Provinzen, dessen Aufgabe darin besteht, von den Völkern Europas die fälligen Steuern einzutreiben und sie nach U.S.-Amerika zu schicken. Wir sehen also, dass es eine sehr pazifistische, sehr friedliche Organisation ist: Die finanziellen Wechselbeziehungen der Völker Europas werden unter die Aufsicht des korrektesten Steuerzahlers, Großbritannien, gestellt, das dafür den Ehrenposten des ersten Steuerinspektors erhält. Die ganze europäische Politik Amerikas ist auf diesem Prinzip aufgebaut. Deutschland – du zahlst an Frankreich, Italien – du zahlst an England. Frankreich – du zahlst an England; Deutschland, Italien, Frankreich und England – ihr alle zahlt mir, Amerika! Diese Schuldenhierarchie ist eine der Grundlagen des amerikanischen „Pazifismus“.

Der Weltkampf zwischen England und Amerika um die Ölquellen hat schon zu revolutionären Erschütterungen und militärischen Konflikten in Mexiko, der Türkei und Persien geführt. Wenn wir morgen in den Zeitungen lesen sollten, dass zwischen England und Amerika auf dem Gebiete der Ölquellen friedliche Arbeitsgemeinschaft bestehe – was wird das zu bedeuten haben? Das wird heißen: England, dein Ölbedarf wird rationiert. Also wieder eine Art Washingtoner Konferenz, aber diesmal handelt es sich um die „Ölabrüstung“. Also wieder 14-karätiger Pazifismus.

Auch beim Kampfe um die Absatzmärkte ist eine vorläufige „pazifistische“ Regelung im Gange. Ein deutscher Verfasser, ehemaliger Minister (ich weiß nicht, welcher Regierung, in Deutschland gibt es gar viele ehemalige Minister). Der Minister sagt folgendes über den Kampf um den Absatzmarkt zwischen England und Amerika: England könne einen Krieg vermeiden, wenn es auf seine Ansprüche auf Kanada, Südamerika, den Stillen Ozean, das östliche Küstengebiet Asiens und Australiens zugunsten U.S.-Amerikas verzichtet; „England verbleiben dann die anderen außereuropäischen Gebiete“. Was England dann noch verbleiben wird, ist mir nicht ganz klar geworden. Aber das Dilemma ist richtig definiert: entweder Krieg oder karge „pazifistische“ Ration.

Jetzt wollen wir uns einem ganz neuen Material auf dem Gebiete der ausländischen Rohstoffe zuwenden. Das ist ein höchst interessantes Kapitel. Den Amerikanern fehlt ja sehr vieles, was die anderen haben. Die amerikanischen Zeitungen veröffentlichten aus diesem Anlass eine Rohstoffkarte des Erdballs. Sie denken nur noch in Kontinenten. Die europäischen Zwerge beunruhigen sich über Albanien, Bulgarien, sie reden von Korridoren und beschäftigen sich überhaupt mit lächerlichen Dingen. Die Amerikaner aber operieren mit Kontinenten, und das erleichtert ihnen das Studium der Geographie und verleiht ihren Raubzügen die nötigen monumentalen Ausmaße. Die amerikanischen Zeitungen brachten also eine Karte des Erdballs, auf der zehn schwarze Punkte, zehn große Lücken in der Rohstoffversorgung der Vereinigten Staaten, zu sehen waren: Gummi, Kaffee, Salpeter, Zinn, Kalium, Sisalhanf (er wächst in Mexiko und wird für die Fabrikation von Schnüren und Seilen verwandt) und noch einige andere, weniger wichtige Rohstoffarten. Es stellt sich nun heraus, dass das Monopol über diese Rohstoffe (entsetzlich!) – nicht den Vereinigten Staaten, sondern anderen Ländern gehört. 70% der Gummiwelternte wird auf den tropischen Inseln Englands gewonnen, wobei Amerika 70% des Weltabsatzes für seine Gummireifen und andere Zwecke verwendet. Die Salpetergewinnung in Chile wird von den Engländern finanziert. Und so weiter, und so weiter. Mr. Churchill ist ein tapferer Mann, mindestens ebenso tapfer wie Lloyd George: er beschloss die an Amerika zu zahlenden Schulden durch eine Erhöhung der Gummipreise zu kompensieren. Aber Hoover, der Leiter des amerikanischen Handels, rechnete sich aus, dass die Vereinigten Staaten allein im Jahre 1925 den Engländern für Gummi 600 bis 700 Millionen Dollar über den „ehrlichen“ Preis hinaus bezahlt hätten; Hoover sagt buchstäblich – über den ehrlichen Preis! Und was ehrliche und unehrliche Preise sind – darüber weiß ja Mr. Hoover von Amts wegen sehr gut Bescheid. Also fast drei Milliarden Mark haben die armen Amerikaner über den „ehrlichen“ Preis hinaus zahlen müssen. Als die amerikanischen Zeitungen davon erfuhren, schlugen sie großen Lärm. Ich zitiere hier eine Stelle: „Was sollen Locarno und Genf, was sollen Völkerbund und Protokolle, Abrüstungs- und Wirtschaftskonferenzen, wenn eine mächtige Nationengruppe Amerika absichtlich isoliert?“ (The Evening Post) Man stelle sich dieses arme Amerika vor, das von allen isoliert, von allen ausgebeutet wird! Gummi, Kaffee, Zinn, Sisalhanf, Salpeter, Kali, Pottasche – alles das ist bereits monopolisiert und in festen Händen, so dass ein anständiger amerikanischer Milliardär weder eine Autofahrt machen, noch Kaffee trinken, noch sich an einem guten Sisalhanfstrick aufhängen kann ... Es ist ein Jammer, wenn man so von allen Seiten ausgebeutet wird! Es ist noch gut, dass man echt amerikanische standardisierte Särge um billiges Geld in Amerika haben kann! Aus eben diesem Anlass hat Mr. Hoover einen Artikel geschrieben – einen fabelhaften Artikel! Er besteht nur aus Fragen – ich habe nachgezählt – aus 29 Fragen. Eine klingt immer besser als die andere. Und England soll sie alle beantworten! Man höre: Ist es anständig, sich unehrliche Profite in die Tasche zu stecken? und wenn es unehrlich ist,- wird es dann nicht eine gereizte Stimmung in das Verhältnis zweier Nationen bringen? Und wenn das aufreizend wirkt – ist dann die Regierung nicht verpflichtet, sich in die Sache einzumischen? Und wenn eine Regierung mit Selbstachtung sich in die Sache einmischt – könnten dann nicht schwere Folgen entstehen? Eine englische Zeitung, die weniger höflich, aber offener als die anderen ist, schrieb aus diesem Anlass: „ein Narr kann mehr fragen, als hundert Kluge antworten.“ Dieser patriotischen Zeitung ist es offenbar zu bunt geworden, sie musste ihrem Ärger Luft machen. Wir dürfen vor allem nicht annehmen, dass ein Narr einen derartig verantwortlichen Posten einnehmen kann ... Und selbst wenn wir das annehmen ... es ist ja nur eine Annahme und keine Behauptung ... so ist immerhin zu bedenken, dass Hoover an der Spitze des gigantischen Apparats des amerikanischen Kapitals steht – er mag ruhig ein Narr sein, denn für ihn denkt die ganze bürgerliche „Maschine“. Nur das eine wissen wir: als diese 29 Hooverschen Fragen, Pistolenschüssen gleich, in Mr. Baldwins Ohren knallten und ihn fast taub machten, wurde Gummi plötzlich billiger. Und diese Tatsache beleuchtet die Weltlage besser, als lange Zahlenreihen. Das ist der amerikanische Pazifismus in seiner praktischen Anwendung.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004