Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


VII. Der europäische Kapitalismus in der Sackgasse

Diesen Vereinigten Staaten von Nordamerika, die auf ihrem Wege keinerlei Hindernisse mehr dulden, die jede Verteuerung der ihnen fehlenden Rohstoffe als einen böswilligen Anschlag auf ihr heiliges Recht, die ganze Menschheit auszubeuten, auffassen, diesem neuen wild expandierenden Amerika steht das zerstückelte, zersplitterte Europa gegenüber, ein Europa, das ärmer ist als vor dem Kriege, dessen Märkte eingeengt sind, das tief verschuldet, von Widersprüchen zerrissen und durch den angeschwollenen Militarismus niedergedrückt wird!

Die bürgerlichen und sozialdemokratischen Ökonomisten und Politiker hatten mancherlei Pläne und Illusionen über die Möglichkeit einer Wiedergeburt Europas. Die europäische Industrie erlebte nach dem Kriege – zunächst die französische, und dann die deutsche – zu gewissen Zeiten einen recht stürmischen Aufschwung. Kein Wunder: erstens stellte sich allmählich die normale Nachfrage ein, denn die Vorräte waren längst restlos verbraucht; zweitens, hatte Frankreich ungeheure zerstörte Gebiete wiederaufzubauen – also ein Ergänzungsreservoir für den Absatz. Solange die dringendsten Bedürfnisse dieser verödeten, durch den Krieg entleerten Märkte gedeckt wurden, arbeitete die Industrie im wachsenden Tempo, weckte große Hoffnungen und Illusionen. Jetzt ist die Bilanz dieser Illusionen gezogen worden, deren pessimistische Folgerungen sogar den einsichtigeren bürgerlichen Ökonomisten nicht mehr entgehen. Der europäische Kapitalismus ist in eine Sackgasse geraten.

Die beispiellose wirtschaftliche Überlegenheit der Vereinigten Staaten wird, selbst wenn man die bewusste Politik der amerikanischen Bourgeoisie unberücksichtigt lässt, den europäischen Kapitalismus nicht hochkommen lassen. Der amerikanische Kapitalismus wird Europa immer mehr in diese Sackgasse hin- eintreiben und es automatisch zur Revolution drängen. Das ist der wichtigste Schlüssel für die Erkenntnis der Weltlage.

Noch prägnanter und überzeugender zeigt sich das in England. Der Übersee-Export Englands wird durch Amerika, Kanada, Japan und die industrielle Entwicklung der eigenen Kolonien eingeschränkt. Es genügt darauf hinzuweisen, dass Japan auf dem Textilmarkt der britischen Kolonie Indien England zu verdrängen anfängt. Auf dem europäischen Markt aber schließt jede Erweiterung des englischen Absatzes eine Verringerung des deutschen und französischen in sich, und umgekehrt. Das letztere kommt immer häufiger vor: der Export Deutschlands und Frankreichs schlägt dem Export Großbritanniens schwere Wunden. Der europäische Markt erweitert sich nicht. Innerhalb bestimmter Grenzen vollziehen sich Verschiebungen in der einen oder anderen Richtung. Wenn man glauben will, dass die Verhältnisse sich zugunsten Europas radikal ändern werden, muss man an Wunder glauben. Ebenso wie der Sieg auf dem Binnenmarkte den größten und modernsten Unternehmungen zufällt, ebenso sicher ist der Sieg U.S.-Amerikas über Europa, also vor allem über England.

England hat im Jahre 1925 3% der Vorkriegseinfuhr eingeführt und 76% der Vorkriegsausfuhr ausgeführt. Das bedeutet eine ungeheure Passivität der englischen Handelsbilanz. Der Rückgang der Ausfuhr bedeutet aber eine industrielle Krisis, die sich in den grundlegenden Industriezweigen sehr ungünstig auswirkt: in Kohle, Stahl, Wolle, Schiffbau usw. Vorübergehende zeitweilig sogar bedeutende Besserungen sind möglich, sogar unvermeidlich, aber der Grundzug des Niedergangs ist vorgezeichnet.

Die „Staatsmänner“ Großbritanniens, die ihre alten, unter den jetzigen Umständen so deplazierten Gepflogenheiten bewahrt haben, denen es aber an dem elementarsten Verständnis für die neue Weltsituation und ihre unvermeidlichen Folgen fehlt, erwecken Mitleid und Verachtung. In letzter Zeit haben die regierenden englischen Politiker, Baldwin und Churchill, uns wieder mit einer Offenbarung bedacht. Churchill sagte Ende 1925, dass er 12 Gründe (so sagte er!) zu einer optimistischen Beurteilung der Lage habe. Erstens, das stabilisierte Geldsystem. Der englische Ökonom Keynes hat Churchill klargemacht, dass dieser Umstand eine Herabsetzung der Preise der Exportwaren um mindestens 10%, und demnach eine gesteigerte Passivität zur Folge haben würde. Die zweite Ursache für den Optimismus – sind die guten Gummipreise. Ach – die 29 Fragen des Mr. Hoover haben den Gummioptimismus Mr. Churchills sehr einschrumpfen lassen. Drittens, der Rückgang der Streikbewegung. Aber warten wir das Aprilende ab, wenn die Kollektivverträge der Bergleute einer neuen Prüfung unterzogen werden müssen. Die vierte Ursache für den Optimismus ist Locarno. (Es wird immer schlimmer!) Der englisch-französische Kampf ist nach Locarno nicht schwächer geworden, er hat zugenommen. Auch für Locarno gilt die Regel: die jungen Hühner zählt man im Herbst – und nicht im Frühjahr! Die übrigen Argumente für den Optimismus des Mr. Churchill können wir unbeachtet lassen: die New-Yorker Börse kotiert sie noch niedriger. Bemerkenswert ist auch ein Artikel der Times über dasselbe Thema, betitelt: Zwei Strahlen der Hoffnung. Times ist bescheidener als Churchill, denn sie verfügt nur über zwei und nicht über ein Dutzend von Hoffnungsstrahlen; aber auch diese zwei sind eigentlich „X“-Strahlen, d.h. unbekannte Größen.

Der „berufsmäßigen“ Leichtfertigkeit Churchills lassen sich ernsthaftere Urteile von Amerikanern entgegenstellen, die die britische Wirtschaft von ihrem Standpunkt aus einschätzen, und auch Stimmen aus den Kreisen der britischen Industriellen. Klyn, der Direktor des Handelsdepartements der Vereinigten Staaten, erstattete nach seiner Rückkehr aus Europa den Industriellen Amerikas einen Bericht, in dem die Wahrheit, trotz des absichtlich beruhigenden Tons, ziemlich aufdringlich in Erscheinung tritt: „Der einzige (!) dunkle Fleck im allgemeineren Sinne,“ sagte Klyn, „wenn wir die Finanzlage Frankreichs und Italiens und die relative (!) Langsamkeit des Wiederaufbaues Deutschlands von unserer Betrachtung ausschließen (?) – den einzigen (!) dunklen Fleck vom wirtschaftlichen Standpunkte aus bietet in Europa das Vereinigte Königreich. Ich glaube, dass England anscheinend (!) sich in einer zweifelhaften (sehr richtig!) kommerziellen Lage befindet. Ich will nicht zu pessimistisch sein, denn (!) England ist unser bester Käufer, aber dort drüben entwickelt sich eine Reihe von Faktoren, die, wie mir scheint, zu ernsten Erwägungen berechtigen ... (auffallend richtig!). Dort bestehen furchtbare Steuern, die, wie manche glauben, unserer Geldgier (höflich ausgedrückt) zuzuschreiben sind. Das ist indes nicht ganz (!) gerechtfertigt ... (nicht ganz, also doch? ...). Die maschinelle Einrichtung ist so, wie sie vor einigen Jahrzehnten war, so dass die Kosten der Arbeitskraft pro Tonne Kohle drei- bis viermal höhere sind als in den Vereinigten Staaten.“ In diesem Sinne geht der Bericht weiter.

Nun ein anderes Urteil: J. Harvey, der ehemalige amerikanische Gesandte in England, den die Engländer als einen „wohlwollenden Freund“ Großbritanniens betrachten – und das ist im gewissen Sinne richtig, denn er äußert sich gewöhnlich in sentimentaler Weise über die Notwendigkeit, England zu helfen – dieser J. Harvey also gelangt in seinem Englands Ende (!) betitelten Artikel zu der Schlussfolgerung, dass „die englische Produktion abgewirtschaftet habe. Die einzige Mission Englands besteht von jetzt ab in der Vermittlerrolle“, d.h. in der Rolle eines Handelskommis oder Bankangestellten der Vereinigten Staaten. Das ist das Urteil des „wohlwollenden Freundes“.

Der große englische Schiffbauer John Hunter reichte der englischen Regierung ein Memorandum ein, das in der ganzen englischen Presse Sensation machte. In diesem Memorandum heißt es: „Hat die Regierung (die Regierung ist – Churchill mit seinen 12 optimistischen Argumenten) die verzweifelte Lage der englischen Industrie vollständig, bis auf den Grund erkannt? Weiß die Regierung, dass die Lage sich nicht verbessert, sondern ununterbrochen verschlechtert? Die Zahl unserer Arbeitslosen und Kurzarbeiter erreicht 12½% der beschäftigten Arbeiter. Unsere Handelsbilanz ist ungünstig. Unsere Eisenbahnen und der größte Teil unserer industriellen Betriebe zahlen entweder überhaupt keine Dividenden, oder sie nehmen sie aus den Reservefonds. Wenn diese Verhältnisse andauern, dann bedeuten sie – Bankrott und Untergang. Keinerlei Besserung ist zu bemerken.“

Die Kohlenindustrie ist das Fundament des britischen Kapitalismus. Sie hält sich gegenwärtig nur durch staatliche Subventionen. Derselbe Munter sagt darüber. „Wir können die Kohlenindustrie bis dort hinaus subventionieren, aber unsere Industrie als Ganzes wird trotzdem abwärts gleiten.“ Stellt man aber die Subventionen ein, dann werden die englischen Industriellen nicht mehr den Arbeitslohn zahlen können, den sie jetzt zahlen, und das würde am 1. Mai dieses Jahres einen ungeheuren ökonomischen Konflikt herbeiführen: man wird sich leicht vorstellen können, was ein Streik bedeutet, der mindestens eine Million Bergleute umfasst, die ihrerseits etwa von einer Million Eisenbahner und Transportarbeiter unterstützt werden. Entweder die ruinösen und zwecklosen Subventionen, oder einschneidender sozialer Konflikt. England würde damit in die Periode der größten ökonomischen Erschütterungen treten.

Mr. Churchill hat 12 optimistische Argumente, die soziale Statistik Englands aber sagt uns, dass die Zahl der beschäftigten Arbeiter sinkt, dass die Zahl der Bergleute sich verringert, dass aber die Zahl der Restaurant-Angestellten, des Café- und Varietépersonals und der lumpenproletarischen Elemente im Wachsen begriffen ist. Die Zahl der Produzenten verringert sich, die der Lakaien nimmt zu; – übrigens enthält diese Statistik nicht die politischen Lakaien und Minister, die den Amerikanern mit Demut dienen.

Vergleichen wir noch mal Amerika und England. In Amerika wächst die Aristokratie der Arbeiterklasse, die sich mit der Organisation von „Company Unions“ beschäftigt, während in England, das sein Erstgeburtsrecht eingebüßt hat, lumpenproletarische Schichten anschwellen. Diese Gegenüberstellung bringt die Verschiebung der internationalen Wirtschaftsachse am deutlichsten zum Ausdruck. Und diese Verschiebung wird sich fortsetzen, bis sich die Klassenachse der Gesellschaft verschoben hat, d.h. bis zum proletarischen Umsturz.

Mr. Baldwin wird natürlich anderer Meinung sein. Obwohl Mr. Baldwin schwerfälliger ist als Churchill, reicht sein Verständnis deshalb nicht weiter. In einer Industriellenversammlung zeigte Baldwin den Weg, wie man aus der Lage herauskommen könne: dieser konservative Premierminister hat stets gegen jede Krankheit Hausmittel bei der Hand. Er sagte: „Es scheint mir zuweilen, als wenn einige von uns 6-7 Jahre lang geschlafen hätten.“ – Weit mehr: Mr. Baldwin selbst hat mindestens 50 Jahre verschlafen! – „Wir werden gut tun,“ fuhr der Premierminister fort, „wenn wir uns an dem Fortschritt ein Beispiel nehmen, den die Vereinigten Staaten in dieser Zeit gemacht haben.“ Man versuche, den „Fortschritt“ U.S.-Amerikas nachzumachen! Dort: 320 Milliarden Volksvermögen, 60 Milliarden Goldbestand, jährliche Ersparnisse von 7 Milliarden und in England: – Defizit. Man nehme sich also ein Beispiel an Amerika! Aber sehen wir zu, was Baldwin noch zu sagen hat: „Beide Parteien [Kapitalisten und Arbeiter] können bei den Vereinigten Staaten unerhört viel lernen, sie brauchen keinen Pfennig für Studienreisen nach Moskau auszugeben.“ Mr. Baldwin sollte nicht versuchen, in den Moskauer Brunnen zu spucken. Auch wir können ihm manches beibringen. Wir finden uns in den Tatsachen zurecht, wir können die Weltwirtschaft analysieren, wir sind imstande, manches vorauszusehen, z. B. den Verfall des kapitalistischen Englands. Mr. Baldwin aber versteht das nicht.

Churchill, der Finanzminister, erwähnte ebenfalls Moskau. Ohne das geht es heutzutage bei einer guten Rede nicht ab. Die Sache ist die, dass Churchill am Morgen eine furchtbare Rede des „Mister“ Tomski gelesen hatte. Mister Tomski ist kein Mitglied des Oberhauses – Churchill erklärte seinen Zuhörern, dass Mister Tomski einen sehr verantwortlichen Posten in der Sowjetrepublik bekleidet. Und das stimmt vollkommen. Mister Tomski hat seine Jugend nicht in Oxford und auch nicht in Cambridge mit Mr. Churchill verbracht, sondern in Butyrki – jedermann bei uns weiß, dass Butyrki ein Gefängnis in Moskau ist. Mr. Churchill sieht sich nichtsdestoweniger veranlasst von Mister Tomski zu sprechen. Und es muss gesagt werden – er tut es recht unfreundlich, denn die Rede, die Mister Tomski in Scarborough auf der Konferenz der Trade-Unions gehalten hat, gefällt ihm nicht. Genosse Tomski hat dort tatsächlich eine Rede gehalten und, nach dem Eindruck, die diese Rede auf Mr. Churchill gemacht hat, können wir schließen, dass sie nicht schlecht war. Churchill brachte Auszüge aus dieser Rede, die er als einen barbarischen Unsinn bezeichnete. „Ich bin der Meinung,“ sagte er, „dass wir in diesem Lande ausreichend fähig sind, unsere Angelegenheiten ohne jede Hilfe von außen zu regeln.“ Er ist sehr stolz, dieser Mr. Churchill, aber er hat unrecht: sein Patron, Baldwin, sagt, dass man bei den Vereinigten Staaten lernen müsse. – Churchill sagte: „Wir wollen auf unserem Frühstückstisch keine frischgelegten Krokodileier haben.“ Dieser Tomski soll nämlich in England Krokodileier gelegt haben. Mr. Churchill sieht das nicht gern: er zieht die Politik des Vogels Strauß vor, der seinen Kopf zu verstecken pflegt, und man weiß ja, dass Strauße und Krokodile in denselben tropischen Besitzungen Englands gedeihen. Mit der Länge seiner Rede stieg Churchills Mut: „Ich fürchte keine bolschewistische Revolution in diesem Lande. Ich kritisiere keine Persönlichkeiten.“ usw. usw. Aber er lässt gegen Tomski eine wilde Rede vom Stapel – also fürchtet er ihn. Er kritisiert keine Persönlichkeiten, aber er nennt Tomski ein Krokodil. „Britannien ist nicht Russland!“ ... Das dürfte stimmen! Churchill fährt fort: „Was nutzt es, dass man sie [die englischen Arbeiter] zwingt, die langweilige Theorie eines Karl Marx zu schlucken und die Internationale falsch zu singen?“ Dass die englischen Arbeiter die Internationale zuweilen (wenn sie nämlich nach Macdonalds Noten singen) falsch singen – das ist richtig. Aber sie werden in Moskau bald lernen, die Internationale richtig zu singen. Wir sind der Ansicht, dass die Wirtschaftslage Großbritanniens, trotz der 12 optimistischen Argumente, jene Stunde näher bringt, in der die englische Arbeiterklasse die Internationale Fortissimo singen wird – achten Sie dann auf ihr Trommelfell, Mr. Churchill!

Über Deutschland und Frankreich werde ich mich hier auf kurze Bemerkungen beschränken.

Vorgestern erhielt ich von unserem Ingenieur, der als Auftraggeber deutsche Werke besichtigte, einen Brief, worin er die Lage mit folgenden Worten schildert: „Ich, als Betriebsingenieur, habe einen sehr schlechten Eindruck gewonnen. Die hiesige Industrie liegt wegen Absatzmangel im Sterben, und keine amerikanische Anleihe kann ihr diesen Absatz geben.“ Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland hat 2 Millionen überschritten. Und die Rationalisierung der Produktion hat dazu geführt, dass drei Viertel der Arbeitslosen qualifizierte Arbeiter sind. Deutschland hat die Inflationskrise durchgemacht, dann die Krise der Deflation – jetzt sollte es endlich bergauf gehen, aber statt dessen sehen wir die grausame Tatsache von über 2 Millionen Arbeitslosen. Dabei ist zu bedenken, dass die schwersten Folgen des Dawes-Regimes Deutschland erst bevorstehen.

Die französische Industrie hat nach dem Kriege bedeutende Fortschritte gemacht. Dieser Umstand täuschte sehr viele und weckte „Aufbau“-Illusionen. In Wirklichkeit lebte Frankreich über seine Mittel, seine Industrie entwickelte sich mit Hilfe eines vorübergehenden Absatzmarktes (der Aufbau der durch den Krieg zerstörten Gebiete) und dabei auf Kosten des ganzen Landes (die Entwertung des Franc). Und jetzt kommt die Stunde der Abrechnung. Der Amerikaner sagt: „Abrüstung, Abbau, Sparsamkeit, feste Valuta!“ Feste Valuta bedeutet Verringerung der Produktion und der Ausfuhr, bedeutet Arbeitslosigkeit, Ausweisung der ausländischen Proletarier und Herabsetzung des Arbeitslohnes der französischen Arbeiter. Die Inflationsperiode hat die Kleinbourgeoisie ruiniert, die Periode der Deflation wird dem Proletariat auf die Beine helfen. Die französische Regierung wagt es noch immer nicht, an die Lösung des Finanzproblems heranzutreten. Die Finanzminister wechseln alle zwei Monate, und fahren fort, Papiergeld zu drucken. Das ist ihre einzige Methode, die Wirtschaft zu regeln. In Ungarn fand diese Methode in Horthy einen gelehrigen Schüler: Es leuchtete ihm ein, dass es keine schwierige Kunst ist – worauf er französische Noten bei sich zu Hause zu fabrizieren begann – aber nicht, um die Republik zu stützen, sondern um die Monarchie wiederherzustellen. Das republikanische Frankreich konnte diesen monarchistischen Konkurrenten nicht dulden und nahm in Ungarn Verhaftungen vor; aber das ist so ziemlich alles, was die französische Regierung zur Stabilisierung ihrer Währung unternommen hat. Frankreich nähert sich einer wirtschaftlichen und politischen Krisis.

Unter diesen Verhältnissen, d.h. unter den Verhältnissen des zerfallenden Europa, beabsichtigt der Völkerbund in diesem Jahre zwei Konferenzen einzuberufen: eine Abrüstungskonferenz und eine zweite – für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas. Wir wollen uns indes mit dem Besorgen von Eintrittskarten nicht allzu sehr beeilen: die Vorbereitung dieser Konferenzen verläuft außerordentlich langsam, denn sie stößt bei jedem Schritt auf Interessenkonflikte.

Im Hinblick auf die Abrüstungskonferenz gewinnt ein dieser Tage in der englischen Zeitschrift erschienener, sehr offizieller, Artikel an Bedeutung: dieses Dokument ist bezeichnend genug mit dem Wort „Augur“ unterzeichnet. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass dieser Augur mit dem Innenministerium eng verschwägert ist, und überhaupt sehr gut Bescheid weiß, wo der Hund begraben ist. Dieser britische Augur droht uns nun, unter der Flagge dieser bevorstehenden Abrüstungskonferenz, mit „Maßnahmen, die keine friedlichen Maßnahmen sein werden“. Das ist eine direkte Kriegsdrohung. Wer droht? England, das seine Außenmärkte verliert; England, in dem Arbeitslosigkeit herrscht; England, dessen Lumpenproletariat wächst; England, dem nur ein Optimist geblieben ist, und auch dieser eine ist nur Winston Churchill; dieses England bedroht uns unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit einem Kriege. Warum? Aus welchem Anlass? Geschieht es deshalb, weil es sich für die ihm von Amerika zugefügten Kränkungen an irgend jemand rächen will? Wir unsererseits wollen keinen Krieg. Aber wenn Englands herrschende Klassen die Qualen des Geburtsprozesses beschleunigen wollen, wenn die Geschichte ihnen den Verstand rauben will, bevor sie ihnen die Macht geraubt hat – dann wird sie sie gerade jetzt auf die abschüssige Kriegsbahn drängen. Die dadurch heraufbeschworenen Qualen werden unermesslich sein. Aber wenn dieser verbrecherische Wahnsinn Europa in einen neuen Krieg stürzen sollte, dann werden weder Baldwin noch Churchill, noch ihre amerikanischen Herrn als Sieger hervortreten, sondern die revolutionäre Arbeiterklasse Europas.

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004