Leo Trotzki

 

Mein Leben


Das Jahr der Wende

Die politische Entwicklung Rußlands seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts wird nach Jahrzehnten gerechnet. Die sechziger Jahre – nach der Krimkampagne – waren eine Aufklärungsepoche, unser kurzes XVIII. Jahrhundert. In dem folgenden Jahrzehnt machte die Intelligenz den Versuch, aus den Aufklärungsideen praktische Schlüsse zu ziehen: sie begann mit dem „Gehen ins Volk“ zum Zwecke der revolutionären Propaganda und endete mit dem Terrorismus. Die siebziger Jahre sind hauptsächlich als die Jahre der „Narodnaja Wolja“ [1] in die Geschichte eingegangen. Die besten Elemente dieser Generation sind im Feuer des Dynamitkampfes umgekommen. Der Feind behielt alle seine Positionen, Es kan das Jahrzehnt des Niedergangs, der Enttäuschung, des Pessimismus, des religiösen und moralischen Suchens – das waren die achtziger Jahre. Unter dem Schutze der Reaktion vollzog sich jedoch die stumme Arbeit der Kräfte des Kapitalismus. Die neunziger Jahre brachten die Arbeiterstreiks und die marxistischen Ideen. Der neue Aufstieg erreicht seinen Höhepunkt im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, das war im Jahr 1905.

Die achtziger Jahre standen unter dem Zeichen des Oberprokurators des Heiligen Synods, Pobedonoszews, des Klassikers der absolutistischen Macht und der allgemeinen Stagnation. Die Liberalen sahen in ihm den reinsten Typ eines Bürokraten, der das Leben nicht kennt: Es verhielt sich aber anders. Pobedonoszew schätzte die Gegensätze, die in den Tiefen des Volkslebens verborgen waren, nüchterner und ernster ein, als die Liberalen es taten. Er begriff: lockerte man die Schrauben, dann würde der Druck von unten die soziale Spitze restlos niederreißen und wie Asche alles das verwehen, was nicht nur Pobedonoszew, sondern auch die Liberalen als die Pfeiler der Kultur und der Moral betrachteten. Auf seine Weise blickte Pobedonoszew in die Dinge tiefer als die Liberalen. Es ist nicht seine Schuld, daß der historische Prozeß mächtiger war als jenes byzantinische System, das der Inspirator Alexanders III. und Nikolaus’ II. so energisch zu verteidigen versucht hatte.

In den dumpfen achtziger Jahren, als die Liberalen glaubten, alles sei tot, fühlte Pobedonoszew unter den Füßen ein Brodeln und unterdrückte Stöße. Er war auch in den ruhigsten Jahren der Regierung Alexanders III. nicht ruhig. „Es war und es ist schwer und – wie bitter das Geständnis auch sein mag – es wird noch schwe sein“, schrieb er an seine Vertrauten. „Mir fällt die Last nicht von der Seele, weil ich stündlich sehe und fühle, wie der Geist der Zeit und wie die Menschen geworden sind ... Vergleicht man die Gegenwart mit dem längst Vergangenen, so überkommt einen das Gefühl, daß man in einer anderen Welt lebt, in der alles eine rückläufige Entwicklung zum ursprünglichen Chaos macht, – und wir, wir fühlen uns inmitten dieser Gärung ohnmächtig.“ Pobedonoszew erlebte das Jahr 1905, als die ihn so beängstigenden unterirdischen Stöße nach außen drangen und das Fundament und die massiven Mauern des ganzen alten Gebäudes die ersten Risse erhielten. Als das offizielle Jahr der politischen Wende im Lande gilt 1891, das sich durch Mißernte und durch Hunger auszeichnete. Das neue Jahrzehnt drehte sich nicht nur in Rußland um die Arbeiterfrage. Im Jahre 1891 nahm die deutsche Sozialdemokratie in Erfurt ihr Programm an. Der Papst Leo XIII. erließ eine Enzyklika, die der Lage der Arbeiter gewidmet war. Wilhelm II. beschäftigte sich mit sozialen Ideen, in denen sich törichte Unbildung mit bürokratischer Romantik vereinigte. Die Annäherung des Zaren an Frankreich sicherte den Zufluß von Kapital nach Rußland. Die Ernennung Wittes zum Finanzminister eröffnete die Ära des Industrieprotektionismus. Die stürmische Entwicklung des Kapitalismus erzeugte jenen „Geist der Zeit“, der Pobedonoszew durch drohende Ahnungen so gequält hatte.

Der politische Ruck in die Richtung der Aktivität offenbarte sich vor allem in den Kreisen der Intelligenz. Immer häufiger und immer entschiedener traten junge Marxisten auf. Gleichzeitig erwachte wieder das eingeschlummerte „Narodnitschestwo“ (Volkstümlerei). Im Jahre 1893 erschien legal das erste marxistische Buch, das aus der Feder Peter Struves stammte. Ich ging damals ins vierzehnte Jahr, ich war noch fern von diesen Fragen.

Im Jahre 1894 starb Alexander III. Wie stets in solchen Fällen, suchten die liberalen Hoffnungen in dem Thronfolger eine Stütze zu finden. Er antwortete mit einem Fußtritt. Beim Empfang der Semstwovertreter nannte der junge Zar die konstitutionellen Hoffnungen „sinnlose Schwärmereien“. Diese Rede war in allen Zeitungen abgedruckt worden. Von Mund zu Mund gab man wieder, daß auf dem Papier, von dem der Zar seine Rede abgelesen hatte, geschrieben stand: „grundlose Schwärmereien“, in der Aufregung aber habe der Zar sich gröber ausgedrückt, als er es ursprünglich gewollt. Ich zählte damals fünfzehn Jahre. Ohne mir Rechenschaft abzugeben, warum, war ich auf seiten der sinnlosen Schwärmereien, nicht auf der des Zaren. Dunkel glaubte ich an die allmähliche Vervollkommnung, die das zurückgebliebene Rußland dem fortschrittlichen Europa annähern würde. Darüber hinaus gingen meine politischen Ideen nicht.

Das handeltreibende, vielstämmige, bunte, schreiende Odessa blieb politisch weit hinter den anderen Zentren zurück. In Petersburg, Moskau, Kiew gab es zu dieser Zeit bereits zahlreiche sozialistische Gruppen in den Schulen. In Odessa gab es das noch nicht. Im Jahre 1895 starb Friedrich Engels. In verschiedenen Städten Rußlands widmeten die Studenten und Schülervereine dem Tode Engels geheime Referate. Ich ging zu dieser Zeit in das sechzehnte Jahr. Aber ich kannte nicht einmal den Namen Engels und wäre wohl kaum in der Lage gewesen, etwas Bestimmtes über Marx zu sagen: vielleicht habe ich von ihm überhaupt nichts gewußt.

Meine politischen Stimmungen in der Schule waren verschwommen oppositionell, nichts weiter. Von politischen Fragen war in der Schule zu meiner Zeit noch keine Rede. Flüsternd erzählte man, daß in dem privaten Tumsaal des Tschechen Nowak sich irgendwelche Gruppen versammelten, daß dort Verhaftungen erfolgt seien und daß Nowak, der bei uns Turnstunde gab, deshalb aus der Schule entlassen und durch einen Offizier ersetzt worden sei. In dem Kreise, mit dem ich durch die Familie Spenzer in Berührung kam, war man mit dem Regime unzufrieden, hielt es jedoch für unerschütterlich. Die Kühnsten träumten von einer Konstitution, die nach einigen Jahrzehnten kommen würde. Von Janowka ganz zu schweigen. Als ich nach Beendigung der Schule mit unklaren demokratischen Ideen ins Dorf kam, wurde der Vater plötzlich aufmerksam und erklärte feindselig: „Das wird noch nach dreihundert Jahren nicht eintreten.“ Er war von der Aussichtslosigkeit der reformatorischen Bestrebungen überzeugt und hatte Angst um den Sohn. Als der Vater im Jahre 1921, nachdem er den weißen und den roten Gefahren entronnen war, zu mir in den Kreml kam, fragte ich ihn scherzend: „Erinnern Sie sich noch, wie Sie sagten, das zaristische Regime werde noch dreihundert Jahre bestehen bleiben?“ Der Alte lächelte verschmitzt und antwortete auf ukrainisch: „Na, mag diesmal deine Wahrheit die ältere sein ...“

Zu Beginn der neunziger Jahre starben unter der Intelligenz die tolstoianischen Stimmungen allmählich ab. Der Marxismus bedrängte das Narodnitschestwo immer erfolgreicher. Vom Widerhall dieses geistigen Kampfes war die Presse aller Richtungen voll. Überall erwähnte man die auf sich selbst vertrauenden jungen Menschen, die sich Materialisten nannten, Auf dies alles stieß ich zum erstenmal im Jahre 1896.

Die Fragen der rersönlichen Moral, die mit der passiven Ideologie der achtziger Ja re so eng verbunden waren, streiften mich in einer Periode, in der die „Selbstvervollkommnung“ nicht so sehr eine geistige Richtung als ein organisches Bedürfnis meines geistigen Wachstums war. Die Selbstvervol1kommnung führte jedoch bald zur Frage nach der „Weltanschauung“, die mich weiderum vor die Alternative stellte: Narodnitschestwo oder Marxismus. Der Kampf dieser Richtungen erfaßte mich mit einer Verspätung von nur wenigen Jahren im Vergleich zum allgemeinen geistigen Umschwung im Lande. Als ich an das ABC der ökonomischen Wissenschaft heranging und mir die Frage vorlegte, ob Rußland durch das Stadium des Kapitalismus hindurchgehen müsse, hatten die Marxisten der älteren Generation bereits den Weg zu den Arbeitern gefunden und sich in Sozialdemokraten verwandelt.

Den ersten großen Kreuzweg meines Lebens erreichte ich, politisch selbst für mein damaliges Alter von siebzehn Jahren sehr wenig vorbereitet. Zu viele Fragen erhoben sich gleichzeitig vor mir, so daß dabei die nötige Folgerichtigkeit und Konsequenz nicht eingehalten werden konnten. Ich wandte mich ruhelos von der einen Frage zur andern. Dieses darf mit Sicherheit gesagt werden; das Leben hatte in meinem Bewußtsein bereits einen hinreichenden Vorrat an sozialem Protest verankert. Worin bestand er? Im Mitgefühl für die Beleidigten und in Empörung über Ungerechtigkeit. Das letztere Gefühl war vielleicht am stärksten. In meinen gesamten Eindrücken aus dem Alltag trat seit meiner frühesten Kindheit die menschliche Ungleichheit in ihren gröbsten und unverhülltesten Formen auf; die Ungerechtigkeit trug oft den Charakter offener Gesetzlosigkeit, die Menschenwürde wurde auf Schritt und Tritt verletzt. Es genügt an das Auspeitschen der Bauern zu erinnern. Das alles wurde heftig aufgenommen noch vor allen Theorien, und es schuf einen Vorrat an Eindrücken von großer Explosivkrafft. Vielleicht habe ich gerade deshalb eine Zeitlang vor jenen großen Konsequenzen geschwankt, die ich aus den Beobachtungen der ersten Periode meines Lebens ziehen mußte.

Es gab jedoch in meiner Entwicklung noch eine andere Seite. Bei dem Ablösen der Generationen umklammert der Tote nicht selten den Lebenden. So war es auch mit jener Generation russischer Revolutionäre, deren frühe Jugend unter dem Druck der Atmosphäre er achtziger Jahre verlaufen war. Trotz der großen Perspektiven, die die neue Lehre eröffnete, erwiesen sich die Marxisten in der Wirklichkeit als Gefangene der konservativen Stimmungen der achtziger Jahre, – sie bezeugten Unfähigkeit zur kühnen Initiative, versagten vor den Hindernissen, rückten die Revolution in eine unbestimmte Zukunft und neigten dazu, den Sozialismus als eine Evolutionsarbeit von Jahrhunderten zu betrachten.

In einem Hause wie das der Familie Spenzer wäre die Stimme der politischen Kritik einige Jahre früher oder einige Jahre später viel lauter erklungen. Auf mich entfielen die dumpfesten Jahre. Politische Gespräche gab es in der Familie fast überhaupt nicht, große Fragen wurden umgangen. In der Schule desgleichen. Ich habe zweifellos aus dieser Atmosphäre der achtziger Jahre vieles eingeatmet. Auch später, als ich mich bereits zum Revolutionär heranbildete, ertappte ich mich bei einem Mißtrauen gegenüber der Massenaktion, bei einem buchmäßigen, abstrakten und darum skeptischen Verhalten zur Revolution. Mit dem allem mußte ich innerlich kämpfen durch Nachdenken, Lesen und hauptsächlich durch Erfahrung – bis ich in mir die Elemente der psychischen Starrheit überwunden hatte.

Aber das Schlimme kommt nicht ohne.das Gute. Vielleicht hat mir gerade der Umstand, daß ich bewußt den Widerhall der achtziger Jahre in mir bekämpfen mußte, die Möglichkeit gegeben, ernster, konkreter und tiefer an die grundlegenden Probleme der Massenaktionen heranzugehen. Bestand hat nur das, was im Kampf erobert wird. Doch bezieht sich das alles auf die späteren Kapitel meines Berichtes.

Die siebente Klasse besuchte ich in Nikolajew, nicht mehr in Odessa. Nikolajew war kleinstädtischer, die Schule stand auf einem niedrigeren Niveau. Aber das Schuljahr in Nikolajew – 1896 – wurde das Wendejahr meiner Jugend, denn es stellte mich vor die Frage nach meinem Platz in der menschlichen Gesellschaft. Ich lebte in einer Familie, wo erwachsene Kinder waren, die die neue Strömung schon erfaßt hatte. Es ist bemerkenswert, daß ich anfangs in Gesprächen die „sozialistischen Utopien“ entschieden zurückwies. Ich spielte den Skeptiker, der das alles hinter sich hatte. Auf politische Fragen reagierte ich nicht anders als im Tone ironischer Überlegenheit. Die Wirtin, bei der ich wohnte, bewunderte mich und stellte inich, wenn auch nicht ganz überzeugt, ihren eigenen Kindern, die etwas älter als ich waren und nach links strebten, als Beispiel hin. Das war aber von mir nur ein ungleicher Kampf um meine Selbständigkeit. Ich war bestrebt, dem persönlichen Einfluß der jungen Sozialisten, mit denen mich das Schicksal zusammengebracht hatte, auszuweichen. Das Widerstreben dauerte insgesamt nur einige Monate. Die Ideen, die in der Luft lagen, waren stärker als ich. Umsomehr als ich in der Tiefe meines Herzens nichts so sehnsüchtig wünschte, als mich ihnen zu unterwerfen. Schon nach einigen Monaten Leben in Nikolajew harte sich mein Benehmen gründlich verändert. Ich ließ die Pose des Konservativismus fallen und steuerte nach links mit einer Heftigkeit, die manchen meiner neuen Freunde abschreckte. „Was ist denn?“ sagte meine Wirtin, „da habe ich Sie ja ganz zu Unrecht meinen Kindern als Beispiel hingestellt.“

Das Schulstudium vernachlässigte ich. Die aus Odessa mitgebrachten Kenntnisse reichten allerdings hin, um noch die offiziefle Position des ersten Schülers zu halten. ich blieb immer häufiger aus der Schule weg. Einmal kam der Schulinspektor zu mir in die Wohnung, um den Grund meines Ausbleibens nachzuprüfen. Ich fühlte mich bis zum letzten Grade erniedrigt. Der Inspektor aber war höflich, er überzeugte sich, daß in der Familie, in der ich wohnte, wie auch in meinem Zimmer Ordnung herrschte, und entfernte sich friedlich. Unter der Matratze lagen einige illegale Broschüren.

Außer der zum Sozialismus neigenden Jugend begegnete ich in Nikolajew zum erstenmal einigen ehemaligen Verbannten, die hier unter Aufsicht der Polizei lebten. Das waren unbedeutende Gestalten aus der Periode des Niederganges der Narodniki-Bewegung. Sozialdemokraten kamen zu dieser Zeit aus Sibirien noch nicht zurück, sie wurden erst hingeschickt. Zwei sich begegnende Strömungen riefen einen geistigen Strudel hervor. Darin kreiste auch ich eine Weile. Dein Narodnitschestwo entströmte ein Geruch der Muffigkeit. Der Marxismus schreckte mich durch die sogenannte „Enge“ ab. Vor Ungeduld brennend, war ich bemüht, die Idee gefühlsmäßig zu erfassen. Aber das war nicht so leicht. Um mich herum fand ich keinen, der mir eine zuverlässige Stütze hätte sein können. Außerdem brachte mir jedes neue Gespräch die bittere, schmerzliche verzweiflungsvolle Überzeugung von meiner Unbildung.

Ich lernte den Gärtner Schwigowski, einen Tschechen, kennen und freundete mich mit ihm an. in seiner Person sah ich zum erstenmal einen Arbeiter, der Zeitungen hielt, Deutsch las, die Klassiker kannte und sich frei an den Diskussionen der Marxisten mit den Narodniki beteiligte. Seine Hütte im Garten, die aus einem Zimmer bestand, war ein Platz, wo sich die in der Stadt weilenden Studenten, ehemalige sibirische Verbannte und die Jugend versammelten. Durch Schwigowski konnte man ein verbotenes Buch bekommen. in den Gesprächen der Verbannten kamen die Namen der Narodowolzi vor: Scheljabow, Perowskaja, Figner – nicht als Helden einer Legende, sondern als lebendige Menschen, mit denen, wenn nicht diese Verbannten selbst, so doch deren ältere Freunde in Berührung gekommen waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich als kleines Glied einer großen Kette anschließe.

Ich stürzte mich auf die Bücher in der Angst, mein ganzes Leben würde für die Vorbereitung zur Tat nicht ausreichen. Ich las nervös, ungeduldig, unsystematisch. Von den illegalen Broschüren der vorangegangenen Epoche warf ich mich auf John Stuart Mills Logik; dann machte ich mich an die Urformen der Kultur, von Lippert, ohne die Logik bis zur Hälfte gelesen zu haben. Der Utilitarismus Benthams erschien mir als das letzte Wort des menschlichen Gedankens. Einige Monate lang fühlte ich mich als unerschütterlichen Benthamisten. Auf der gleichen Linie lag die Begeisterung für die realistische Ästhetik Tschernyschewskis. Bevor ich mit Lippert fertig war, stürzte ich mich auf die Geschichte der französischen Revolution von Mignet. Jedes Buch lebte ein gesondertes Leben, ohne sich in ein Gesamtsystem einzufügen. Der Kampf um das System trug einen gespannten, oft verzweifelten Charakter. Gleichzeitig fühlte ich mich von dem Marxismus abgestoßen, gerade wefl er ein so vollendetes System darstellte.

Zu jener Zeit begann ich auch Zeitungen zu lesen – nicht wie in Odessa, sondern unter dem politischen Gesichtswinkel. Die größte Autorität genoß damals das Moskauer liberale Blatt Russkije Wedomosti („Russische Nachrichten“). Wir lasen es nicht nur, wir studierten es, beginnend mit den impotenten Leitartikeln der Professoren bis zu den wissenschaftlichen Feuilletons. Der Stolz der Zeitung waren die Auslandskorrespondenzen, besonders aus Berlin. Durch die Russkije Wedomosti erhielt ich das erste Bild vom politischen Leben Westeuropas, vor allem der parlamentarischen Parteien. Es ist jetzt schwer, sich jene Aufregung vorzustellen, mit der wir die Reden Bebels und sogar Eugen Richters verfolgten. Bis auf den heutigen Tag erinnere ich mich an einen Satz, den Daschinski den Polizisten, die das Parlamentsgebäude betraten, entgegenschleuderte: „Ich bin der Vertreter von dreißigtausend Arbeitern und Bauern Galiziens, wer wagt es, mich anzurühren?!“ Wir stellten uns dabei die titanische Gestalt eines galizischen Revolutionärs vor. Die theatralischen Bretter des Parlamentarismus pflegten uns, ach! so bitter zu enttäuschen. Die Erfolge des deutschen Sozialismus, die Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten, die Raufereien im Wiener Reichsrat, die Ränke der französischen Royalisten, das alles interessierte uns viel mehr als das eigene Schicksal eines jeden von uns.

Inzwischen verschlechterten sich meine Beziehungen zu den Verwandten. Als mein Vater nach Nikolajew kam, Getreide zu verkaufen, erfuhr er auf irgendwelche Weise von meinen neuen Bekannten. Er ahnte die drohende Gefahr und versuchte, sie durch die Macht seiner väterlichen Autorität abzuwenden. Wir hatten einige stürmische Auseinandersetzungen. Unversöhnlich kämpfte ich um meine Selbständigkeit, um das Recht, meinen Weg selbst zu wählen. Es endete damit, daß ich auf die materielle Unterstützung seitens der Familie verzichtete, meine Schülerwohnung aufgab und zu Schwigowski übersiedelte, der inzwischen einen anderen Garten mit einer geräumigeren Hütte gepachtet hatte. Hier lebten wir zu sechsen in einer „Kommune“. Im Sommer vergrößerte sich unsere Zahl durch einige tuberkulöse Studenten, die frische Luft suchten. Ich gab Stunden. Wir lebten wie Spartaner, ohne Bettwäsche, nährten uns von Suppen, die wir selbst kochten.

Wir trugen blaue Blusen, runde Strohhüte und schwarze Stöcke. In der Stadt glaubte man, wir hätten uns einer geheimnisvollen Sekte angeschlossen. Wir lasen unsystematisch, stritten unbändig, blickten leidenschaftlich in die Zukunft und waren auf unsere Art glücklich.

Nach einiger Zeit gründeten wir eine Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher Bücher im Volke. Wir sammelten Geldbeiträge, kauften billige Bücher, verstanden aber nicht, sie zu verbreiten. Im Garten von Schwigowski waren ein Lohnarbeiter und ein Lehrling tätig. Unsere zivilisatorische Energie wandten wir zu allererst auf sie an. Aber der Arbeiter entpuppte sich als ein verkleideter Gendarm, den man uns absichtlich in den Garten geschmuggelt hatte, damit er uns überwache. Er hieß Kyrill Tschorschewski. Er brachte auch den Lehrling mit den Gendarmen in Verbindung. Dieser stahl uns ein Paket der Bücher für das Volk und brachte es der Gendarmerieverwaltung. Unser Anfang war also ein aufgelegter Mißerfolg. Wir hofften aber zuversichtlich auf die Zukunft.

Ich schrieb für ein Organ der Narodniki in Odessa einen polemischen Artikel gegen die erste marxistische Monatsschrift. Der Artikel enthielt viele Zitate, Epigramme und Gift. Sonst war darin nicht viel Inhalt vorhanden. ich schickte den Artikel mit der Post und fuhr nach acht Tagen selbst hin, die Antwort zu holen. Der Redakteur betrachtete durch eine große Brille mit Sympathie den Autor, der den Kopf voller Haare hatte, aber keinen Anflug von Behaarung auf dem Gesicht. Der Artikel hat das Licht der Welt nicht erblickt. Niemand hat dadurch einen Verlust erlitten, am wenigsten ich selbst.

Als die gewählte Verwaltung der öffentlichen Bibliothek den Jahresbeitrag von fünf auf sechs Rubel erhöhte, erblickten wir darin eine Beeinträchtigung der Demokratie und schlugen Alarm. Einige Wochen beschäftigten wir uns mit nichts anderem als mit der Vor-bereitung der allgemeinen Mitgliederversammlung der Bibliothek. Wir kehrten alle unsere demokratischen Taschen um, sammelten Rubel und Zehnkopekenstücke, um neue radikalere Bibliotheksmitglieder eintragen zu lassen, von denen vielen nicht nur die sechs Rubel Beitrag, sondern auch die vom Statut geforderten zwanzig Jahre fehlten. Das in der Bibliothek ausliegende Buch für besondere Erklärungen verwandelten wir in eine Demonstration feuriger Proteste. In der Jahresversammlung stießen zwei Parteien aufeinander: die Beamten, Lehrer, liberalen Gutsbesitzer und Marineoffiziere auf der einen, wir, die Demokratie, auf der anderen Seite. Der Sieg fiel auf der ganzen Linie uns zu: wir setzten den Jahresbeitrag wieder auf fünf Rubel hinunter und wählten eine neue Verwaltung.

Uns von dem einen auf das andere stürzend, beschlossen wir, eine Universität zu gründen mit einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Lehrsystem. Es waren etwa zwanzig Hörer da, Mir wurden die Vorträge über Soziologie zugewiesen. Das klang stolz. Ich bereitete mich aus aller Kraft auf meinen Kursus vor. Nach zwei gut abgdaufenen Vorträgen fühlte ich plötzlich, daß mein Vorrat verbraucht war. Der zweite Vortragende, dem der Kursus der Französischen Revolution oblag, verwirrte sich bei den ersten Sätzen und versprach, den Vortrag schriftlich vorzubereiten. Das Versprechen hielt er natürlich nicht. Damit endete das Unternehmen.

Mit diesem zweiten Dozenten, dem älteren der Brüder Sokolowski, beschloß ich, ein Drama zu schreiben. Zu diesem Zwecke traten wir vorübergehend sogar aus der Kommune aus und versteckten uns in einem Zimmer, ohne jemandem unsere Adresse mitzuteilen. Unser Stück war erfüllt von sozialen Tendenzen auf dem Hintergrunde des Kampfes der Generationen. Obwohl beide Verfasser sich noch halb mißtrauisch zum Marxismus verhielten, stellte der Narodnik im Stück eine invalide Figur vor, während Munterkeit, Frische und Hoffnung auf der Seite der jungen Marxisten standen. Das war die Macht der Zeit! Das romantische Element fand seinen Ausdruck darin, daß der vom Leben geschlagene Revolutionär der älteren Generation sich in eine Marxistin verliebte, diese aber mit einer unbarmherzigen Rede über den Zusammenbruch des Narodnitschestwo antwortete.

Die Arbeit an dem Stück war nicht klein. Manchmal schrieben wir gemeinsam, einander anfeuernd und korrigierend, manchmal zerschlugen wir die Szenen in Teile, und jeder mußte während des Tages einen Auftritt oder einen Monolog fertigstellen. Ich muß gestehen, an Monologen war bei uns kein Mangel. Abends kam Sokolowski vom Dienst, der ihm Zeit ließ, die Lamentationen des vom Leben zugerichteten Helden der siebziger Jahre breit auszuarbeiten. Ich kehrte von Schwigowski oder von meinen Stunden heim. Die Wirtstochter brachte uns den Samowar. Sokolowski nahm aus den Taschen Brot und Wurst. Durch einen geheimnisvollen Panzer von der Außenwelt getrennt, verbrachten die Dramatiker den Rest des Abends bei angestrengter Arbeit. Den ersten Akt vollendeten wir bis auf einen effektvollen Schluß vor dem Niedergehen des Vorhangs. Die übrigen Akte, vier an der Zahl, waren nur als Entwürfe vorhanden. Je weiter wir aber kamen, um so mehr kühlte unser Interesse für die Arbeit ab. Nach einiger Zeit wurde beschlossen, unser geheimes Zimmer zu liquidieren und die Vollendung des Dramas auf eine spätere Zeit zu verlegen. Die Manuskriptrolle brachte Sokolowski in irgendeine andere Wohnung. Später, als wir bereits im Odessaer Gefängnis saßen, machte Sokolowski durch seine Verwandten den Versuch, das Manuskript aufzutreiben. Vielleicht ging ihm der Gedanke durch den Sinn, daß die Verbannung die passendste Zeit für die Bearbeitung des dramatischen Werkes wäre. Doch das Manuskript war nicht aufzufinden. Es war spurlos verschwunden. Wahrscheinlich ist, daß die Leute, denen es zur Aufbewahrung gegeben worden war, nach der Verhaftung der unglückseligen Autoren es als das beste betrachtet hatten, die Papiere zu verbrennen. Ich finde mich um so leichter damit ab, als mir auf meinem späteren, nicht immer ebenen Lebenswege Manuskripte von unvergleichlich wichtigerer Bedeutung verlorengegangen sind.


Anmerkung

1. „Narodnaja Wolja“ = „Volkswille“ ist sowohl der Name einer Zeitung wie der einer politischen Richtung.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008