Leo Trotzki

 

Mein Leben


Meine erste revolutionäre Organisation

Im Herbst 1896 besuchte ich dennoch das Dorf. Aber die Sache beschränkte sich auf einen kurzen Waffenstillstand mit der Familie. Der Vater wollte, daß ich Ingenieur werde. Ich jedoch schwankte noch zwischen der reinen Mathematik, für die ich große Neigung empfand, und der Revolution, die mich allmählich in ihren Bann zog. Jede Berührung dieser Frage führte zu einer scharfen Krise in der Familie. Alle waren dann finster, alle litten, die ältere Schwester weinte im stillen, und niemand wußte, was anfangen. Ein im Dorf auf Besuch weilender Onkel, Ingenieur und Besitzer einer Fabrik in Odessa, überredete mich, für einige Zeit zu ihm zu kommen. Das war immerhin vorübergehend ein Ausweg aus der Sackgasse. Ich verlebte bei dem Onkel einige Wochen. Wir stritten uns über Profit und Mehrwert. Mein Onkel war in der Aneignung von Profit stärker als im Erklären desselben. Ich beeilte mich nicht mit der Anmeldung zur mathematischen Fakultät. Ich lebte in Odessa und suchte. Was? In erster Linie mich selbst. Ich machte zufällige Bekanntschaften mit Arbeitern, verschaffte mir illegale Literatur, gab Stunden, hielt vor den älteren Schülern der Handwerksschule geheim Vorträge, diskutierte mit Marxisten und versuchte noch immer, nicht nachzugeben. Mit dem letzten Herbstdampfer fuhr ich nach Nikolajew ab und richtete mich wieder im Schwigowschen Garten ein.

Es begann wieder das Alte. Wir diskutierten über die letzten Hefte der radikalen Zeitschriften, stritten über Darwinismus, bereiteten uns auf etwas Unbestimmtes vor und warteten. Was war der unmittelbare Anstoß für die Aufnahme der revolutionären Propaganda? Es ist schwer, darauf zu antworten. Es war ein innerer Anstoß. In den intellektuellen Zirkeln, in denen ich verkehrte, beschäftigte sich niemand ernstlich mit revolutionärer Arbeit. Wir waren uns darüber klar, das zwischen unseren endlosen Diskussionen beim Tee und einer revolutionären Organisation ein ganzer Abgrund lag. Wir wußten, daß die Verbindung mit den Arbeitern große Konspiration erforderte. Dieses Wort sprachen wir ernst aus, mit Achtung, fast mystisch. Wir zweifelten nicht, daß wir schließlich vom Teetrinken zur Konspiration übergehen würden, doch niemand sprach es klar aus, wann und wie das geschehen sollte. Als Entschuldigung für die Verzögerung sagten wir uns immer: wir müssen uns vorbereiten. Und das war gar nicht so falsch.

Etwas aber hatte sich wohl in der Luft verändert und unseren Übergang auf den Weg der revolutionären Propaganda schroff beschleunigt. Diese Veränderung hatte sich nicht unmittelbar in Nikolajew vollzogen, sondern im ganzen Lande, vor allem in den Hauptstädten, aber sie hatte sich auch bei uns ausgewirkt. Im Jahre 1896 entbrannten in Petersburg die berühmten Massenstreiks der Weber. Das machte der Intelligenz Mut. Als sie das Erwachen der schweren Reserven fühlten, wurden die Studenten kühner. Im Sommer, zu Weihnachten und zu Ostern kamen Dutzende nach Nikolajew und brachten einen Widerhall der Petersburger, Moskauer und Kiewer Kämpfe mit. Einige Studenten waren aus der Universität ausgeschlossen worden und kehrten, noch vor kurzer Zeit Gymnasiasten, mit dem Nimbus der Kämpfer zurück. Im Februar 1897 hatte sich in der Peterpaulfestung die Studentin Wetrowa durch Verbrennen getötet. Diese Tragödie, die niemals restlos aufgeklärt wurde, hatte alle aufgerüttelt. In den Universitätsstädten begannen Unruhen. Verhaftungen und Ausweisungen häuften sich.

Zur revolutionären Arbeit kam ich im Augenblick der „Wetrow“-Demonstrationen. Das war so: Ich ging durch die Straßen mit dem jüngsten Mitglied unserer Kommune, Grigorij Sokolowski, einem Jüngling in meinem Alter. „Nun sollten auch wir beginnen“, sagte ich. „Ja, wir sollten beginnen“, antwortete Sokolowski. „Aber wie?“ „Ja, eben, wie?“ „Man muß Arbeiter finden, auf niemanden warten, niemanden fragen. Arbeiter finden und beginnen.“ „Ich denke, die kann man finden“, sagte Sokolowski. „Ich kannte hier einen Gartenwächter, einen Bibelanhänger. Ich werde ihn aufsuchen.“

Am gleichen Tage begab sich Sokolowski nach dem Boulevard zu dem Bibelanhänger. Aber den gab es längst nicht mehr. Es war eine Frau da, und diese Frau hatte einen Bekannten, der auch Sektierer war. Durch diesen Bekannten der uns unbekannten Frau lernte Sokolowski am selben Tage einige Arbeiter kennen, darunter den Elektromechaniker Iwan Andrejewitsch Muchin, der bald danach die Hauptperson der Organisation wurde. Sokolowski kehrte von seinen Erkundungen mit brennenden Augen zurück. „Diese Menschen, – das sind Menschen!“

Am nächsten Tag saßen wir in einer Schenke, eine Gruppe von etwa fünf, sechs Personen. Der Musikautomat donnerte neben uns wie toll und schützte unsere Unterhaltung vor fremden Ohren. Muchin, hager, mit einem Spitzbärtchen, kneift sein kluges linkes Auge listig zusammen, betrachtet wohlwollend, aber nicht ohne Bedenken mein bartloses Gesicht und setzt mir sachlich mit betonten Pausen auseinander: „Das Evangelium ist für mich in dieser Sache wie ein Haken. Ich beginne mit der Religion und leite über zum Leben. Ich habe in diesen Tagen mit Hilfe von weißen Bohnen einem Stundisten die ganze Wahrheit enthüllt.“ „Mittels weißer Bohnen?“ „Das ist sehr einfach: ich lege eine Bohne auf den Tisch – das ist der Zar, umgebe sie ringsherum mit anderen Bohnen: das sind die Minister, Bischöfe, Generale, dann folgt der Adel, die Kaufrnannschaft, und der weitere Haufen Bohnen ist das einfache Volk. Jetzt frage ich: wo ist der Zar? Er zeigt auf die Mitte. Wo sind die Minister? Er zeigt ringsherum. Wie ich es ihm gesagt habe, so sagt auch er es mir. – Jetzt warte, warte ...“ Iwan Andrejewitsch kneift noch listiger die Augen zusammen und macht eine Pause. „Da mischte ich alle Bohnen mit der Hand durcheinander. Nun, zeig mal: wo ist der Zar, wo sind die Minister? – Wer kann das jetzt wissen? – sagt er. Jetzt kann ich ihn nicht mehr finden. – Das ist es ja eben, daß du ihn nicht mehr finden kannst; so muß man eben alle Bohnen durcheinandermischen, sage ich.“

Ich gerate in Schweiß vor Begeisterung, während ich Iwan Andrejewitsch zuhöre. Das ist das Echte, wir aber haben geklügelt, überlegt, gezögert. Der Automat spielt – das ist Konspiration, Iwan Andrejewitsch stürzt mit Hilfe von Bohnen die Klassenmechanik, das ist revolutionäre Propaganda.

„Aber wie soll man sie durcheinandermischen – die Fliegen mögen sie fressen – das ist die Frage“, sagt Muchin schon in ganz anderem Ton und blickt mich streng mit beiden Augen an. „Das sind doch keine Bohnen, wie?“ Jetzt erwartet er eine Antwort von mir.

Seit diesem Tage stürzten wir uns kopfüber in die Arbeit. Wir hatten keine älteren Führer, unsere eigene Erfahrung war knapp, aber wir empfanden fast niemals Schwierigkeiten oder Zweifel. Dis eine ergab sich aus dem anderen ebenso logisch wie im Gespräch mit Muchin in der Kneipe.

Das ökonomische Leben Rußlands hatte sich am Ende des vorigen Jahrhunderts immer mehr nach dem Südosten verschoben. im Süden entstanden nacheinander große Fabriken, darunter zwei in Nikolajew. Im Jahre 1897 zählte man in Nikolajew etwa 8.000 Fabrikarbeiter und etwa 2.000 Werkstättenarbeiter. Das Kulturniveau der Arbeiter wie ihr Lohn waren verhältnismäßig hoch. Analphabeten gab es nur einen ganz kleinen Prozentsatz. Die Stelle revolutionärer Organisation nahm bis zu einem gewissen Grade das Sektierertum ein, das einen erfolgreichen Kampf mit der offiziellen orthodoxen Kirche führte. Da es keine größeren Unruhen gab, schlummerte in Nikolajew die Gendarmene friedlich. Das kam uns gerade sehr gelegen. Bei gründlicheren Methoden der Gendarmene wären wir gleich in der ersten Woche verhaftet worden. Doch wir waren die Pioniere und genossen alle Vorteile dieser Tatsache. Die Gendarme brachten wir erst in Schwung, nachdem wir die Nikolajewer Arbeiter in Schwung gebracht hatten.

Als ich Muchin und dessen Freunde kennenlernte, nannte ich mich ihnen gegenüber Lwow. Diese erste konspirative Lüge fiel mir nicht leicht: es war geradezu qualvoll, Menschen zu „betrügen“, mit denen man einer so großen und guten Sache wegen sich zusammenfand. Aber der Name Lwow hing mir bald fest an, und ich selbst gewöhnte mich an ihn.

Die Arbeiter strömten von selbst uns zu, als hätte man uns in den Fabriken bereits lange erwartet. Jeder brachte einen Freund, manche kamen mit den Frauen, einige ältere Arbeiter erschienen in den konspirativen Gruppen gemeinsam mit ihren Söhnen. Nicht wir suchten die Arbeiter, sie suchten uns. Junge und unerfahrene Führer, begannen wir bald zu ertrinken in der Bewegung, die wir hervorgerufen hatten. Jedes Wort fand Widerhall. Bei den geheimen Vorlesungen und Diskussionen versammelten sich in Wohnungen, im Walde oder auf dem Fluß zwanzig bis fünfundzwanzig Menschen, manchmal auch mehr. Es waren überwiegend hochqualifizierte Arbeiter, die nicht schlecht verdienten. Auf der Nikolajewschen Schiffswerft war schon zu jener Zeit der Achtstundentag eingeführt. Diese Arbeiter interessierte damals nicht der Streik, sie suchten die Wahrheit in den sozialen Beziehungen. Einige von ihnen nannten sich Baptisten, Stundisten, evangelische Christen. Doch war es kein dogmatisches Sektierertum. Die Arbeiter entfernten sich von der orthodoxen Kirche, der Baptismus war für sie eine kurze Etappe auf dem revolutionären Weg. In den ersten Wochen unserer Unterhaltungen gebrauchten sie noch sektiererische Redewendungen und griffen nach Vergleichen aus dem Zeitalter der ersten Christen. Aber alle befreiten sich schnell von dieser Phraseologie, über die die jüngeren Arbeiter ungeniert lachten.

Die grelleren Gestalten stehen noch heute wie lebendig vor mir. Der Tischler Korotkow, im steifen Hut, der sich von jeder Mystik längst befreit hatte, ein Spaßmacher und Versedichter. „Ich bin Ratialist (Rationalist)“, pflegte er feierlich zu erklären. Und wenn Taras Saweljitsch, ein alter Evangelist, der schon Enkelkinder hatte, zum hundertstenmal von den ersten Christen zu sprechen begann, die sich ebenso wie wir geheim versammelt hätten, unterbrach ihn Korotkow: „So mach ich es mit deiner Theologie!“ Er nahm seine Melone vom Kopfe und schleuderte sie wütend hoch in die Bäume hinauf. Dann stand er eine Weile still, bevor er seinen Kopfputz suchen ging. Es war im Walde, außerhalb der Stadt. Viele Arbeiter begannen, von neuen Gefühlen erfaßt, Verse zu dichten. Korotkow schrieb einen Proleten-Marsch, der also begann: „Wir sind das Alpha und Omega, der Anfang und der Schluß.“ Nesterenko, ebenfalls ein Tischlen der sich mit seinem Sohn an der Gruppe von Alexandra Lwowna Sokolowskaja beteiligte, verfaßte ein ukrainisches Volkslied über Karl Marx. Man sang es im Chor. Aber Nesterenko selbst endete schlimm, er verstrickte sich in Beziehungen zur Polizei und verriet die ganze Organisation.

Der junge Taglöhner Jefimow, ein Riese mit hellblondem Haar und blauen Augen, aus einer Offiziersfamilie stammend, der gut lesen und schreiben konnte, sogar belesen war, lebte in der Gegend der Elendsquartiere der Stadt. Ich suchte ihn in einer Freßkneipe der Pennbrüder auf. Jefimow arbeitete am Hafen als Lastträger, trank nicht, rauchte nicht, war mäßig und höflich; aber in ihm lebte irgendein Geheimnis, das ihm, trotz seiner einundzwanzig Jahre, ein düsteres Aussehen gab. Jefimow vertraute mir bald, er habe Bekanntschaft mit einer geheimnisvollen Organisation der Narodowolzi („Volkswillen“) gemacht, und schlug vor, uns mit ihnen zusammenzubringen. Zu dreien – ich, Muchin und Jefimow – tranken wir Tee in der lärmigen Schenke Rossia, hörten die betäubende Musik der Automaten und warteten. Schließlich zeigte uns Jefimow mit den Augen einen großen starken Menschen mit einem Kaufmannsbärtchen. „Er.“ Der Mann trank lange an einem Separattischchen Tee, dann erhob er sich, nahm seinen Mantel und bekreuzigte sich mit einer automatischen Geste vor dem Heiligenbild. „Das ist mir ein Narodowolez!“ rief entsetzt Muchin leise. Der „Narodowolez“ wich der Bekanntschaft aus und ließ durch Jefimow eine sehr nebelhafte Erklärung abgeben. Die Geschichte blieb für immer geheimnisvoll. Jefimow selbst rechnete bald mit dem Leben ab, indem er sich durch Kohlengas vergiftete. Es ist möglich, daß der Riese mit den blauen Augen ein Spielzeug in den Händen eines Spitzels war, aber es ist auch Schlimmeres möglich ...

Elektrotechniker von Beruf, hatte Muchin in seiner Wohnung ein kompliziertes Signalsystem für den Fall einer Polizeiüberraschung eingerichtet. Muchin war siebenundzwanzig Jahre alt, hustete ein wenig mit Blutauswurf, war reich an Lebenserfahrung, voll praktischer Weisheit und sah fast wie ein Greis aus. Muchin blieb sein Lebtag Revolutionär. Seiner ersten Verbannung folgte eine Gefängnisstrafe, dann wieder Verbannung. Ich begegnete ihm nach einer Unterbrechung von dreiundzwanzig Jahren auf der Konferenz der ukrainischen kommunistischen Partei in Charkow. Wir saßen lange in einer Ecke, kramten in der Vergangenheit, erinnerten uns an einzelne Episoden und erzählten einander das weitere Schicksal jener Menschen, mit denen wir in der Morgenröte der Revolution verbunden gewesen waren. Auf dieser Konferenz wurde Muchin in die Zentral-Kontrollkommission der ukrainischen Partei gewählt. Er hatte sich durch sein ganzes Leben diese Auszeichnung vollauf verdient. Doch schon bald nach der Konferenz legte sich Muchin auf das Krankenlager, um nicht mehr aufzustehen.

Gleich am Anfang unserer Bekanntschaft brachte mich Muchin mit seinem Freunde Babenko, ebenfalls einem Sektierer, zusammen, der ein kleines Häuschen besaß, mit Apfelbäumen im Hofe. Babenko hinkte, war sehr langsam, immer nüchtern und lehrte mich, Tee mit Äpfeln statt mit Zitronen zu trinken. Zusammen mit den anderen wurde Babenko verhaftet, saß lange Zeit und kehrte dann wieder nach Nikolajew zurück. Das Schicksal hat uns dann getrennt. Zufällig las ich im Jahre 1925 in irgendeiner Zeitung, daß in Kuban das frühere Mitglied des Südrussischen Arbeiterbundes Babenko lebe. Zu dieser Zeit war er auf beiden Beinen gelähmt. Ich erreichte – im Jahre 1925 war das für mich schon nicht mehr leicht –, daß man den Alten nach Jessentuki zur Kur überführe: seine Beine begannen wieder zu gehen. Ich besuchte ihn im Sanatorium. Babenko hatte nicht gewußt, daß Trotzki und Lwow dieselbe Person sind. Ich trank mit ihm wieder Tee mit Äpfeln, und wir sprachen von der Vergangenheit. Er mag nicht wenig erstaunt gewesen sein, als er bald danach vernahm, Trotzki sei ein Konterrevolutionär!

Es gab in Nikolajew viele interessante Gestalten, man kann sie nicht alle aufzählen. Es war da eine herrliche Jugend, sehr aufgeklärt, die die technische Schule an der Werft absolvierte. Sie verstand den Führer beim halben Wort. Die revolutionäre Propaganda wurde auf diese Weise viel leichter, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen ausgemalt hatten. Wir waren erstaunt und begeistert von der hohen Produktivität unserer Arbeit. Aus Berichten über revolutionäre Tätigkeit wußten wir, daß man die Arbeiter nur vereinzelt durch Propaganda gewinnen kann. Ein Revolutionär, der zwei, drei Arbeiter hinzuzog, betrachtete das schon als einen recht guten Erfolg. Bei uns war die Zahl der Arbeiter, die zu den Gruppen gehörten oder ihnen angehören wollten, eigentlich unbeschränkt. Es fehlten nur Führer, es fehlte Literatur. Die Führer rissen sich um das einzige vorhandene handschriftliche Exemplar des Kommunistischen Manifestes von Marx-Engels, das man in verschiedenen Handschriften und mit zahllosen Auslassungen und Fehlern in Odessa abgeschrieben hatte.

Wir begannen bald selbst Literatur zu schaffen. Dies war eigentlich der Anfang meiner literarischen Tätigkeit. Sie fiel fast zusammen mit dem Beginn meiner revolutionären Arbeit. Ich verfaßte Proklamationen oder Artikel, die ich dann in Druckbuchstaben für den Hektograph abschrieb. Von Schreibmaschinen hatten wir damals noch keine Ahnung. Ich malte die Buchstaben mit höchster Sorgfalt, da ich es als eine Ehrensache betrachtete, daß auch jene Arbeiter, die nur mühselig lesen konnten, die Proklamationen, die durch unseren Hektograph gegangen waren, zu entziffern vermochten. Jede Seite erforderte nicht weniger als zwei Stunden Zeit. Manchmal saß ich eine Woche lang mit gekrümmtem Rücken und riß mich nur los, um eine Versammlung zu besuchen oder einen Arbeiterkursus zu leiten. Welches Gefühl der Befriedigung aber bereiteten dann die Berichte aus den Fabriken und Werkstätten darüber, wie heißhungrig die Arbeiter die geheimnisvollen Blättchen mit den lila Buchstaben lasen, einander weitergaben und heiß darüber diskutierten. Sie stellten sich den Autor der Flugblätter als eine mächtige, geheimnisvolle Gestalt vor, die in alle Betriebe eindringt, alles, was dort geschieht, in Erfahrung bringt und die Ereignisse in vierundzwanzig Stunden mit neuen Flugblättern beantwortet.

Anfangs kochten wir die Hektographenmasse und druckten die Proklamationen in der Nacht in unserem Zimmer. Einer stand im Hof Wache. Am offenen Ofen waren Streichhölzer und Petroleum bereit, um im Falle der Gefahr alle Indizien zu verbrennen. Das alles war äußerst naiv organisiert. Doch die Gendarmen in Nikolajew waren nicht viel erfahrener als wir. Später verlegten wir den Hektograph in die Wohnung eines älteren Arbeiters, der bei einem Unfall im Betrieb das Augenlicht verloren hatte. Er stellte uns unbedenklich seine Wohnung zur Verfügung. „Für einen Blinden ist jeder Ort ein Gefängnis“, sagte er mit ruhigem Lächeln. Allmählich sammelten wir bei ihm einen großen Vorrat an Glyzerin, Gelatine und Papier an. Man arbeitete in der Nacht. Das verwahrloste Zimmer mit der Decke dicht über dem Kopf sah ärmlich, jämmerlich aus. Auf einem eisernen Ofen bereiteten wir das revolutionäre Gericht und gossen es dann auf ein Eisenblech. Der Blinde bewegte sich, während er uns half, im halbdunklen Zimmer sicherer als die anderen. Ein junger Arbeiter und eine Arbeiterin schauten ehrfurchtsvoll drein, wie ich den frisch gedruckten Bogen vom Hektograph herunternahm. Wenn jemand mit „nüchternen“ Augen von oben herab einen Blick auf diese jugendliche Gruppe geworfen hätte, die sich im Halbdunkel um den kümmerlichen Hektographen zu schaffen machte, als welch armselige Ausgeburt dei Phantasie wäre ihm dann deren Vorhaben erschienen, den mächtigen, Jahrhunderte alten Staat zu stürzen? Und doch gelang dieses Vorhaben im Verlaufe kaum einer Menschengeneration: bis 1905 vergingen nur acht bis 1917 nicht volle zwanzig Jahre.

Die mündliche Propaganda bereitete mir damals nicht soviel Genugtuun wie die schriftliche. Die Kenntnisse reichten nicht aus, und es fehte an Übung, die vorhandenen in der richtigen Weise anzubringen. Reden im wahren Sinne des Wortes gab es bei uns noch nicht. Nur einmal, am 1. Mai, war ich gezwungen, im Walde so etwas wie eine Rede zu halten. Das stürzte mich in die größte Verlegenheit. Jedes meiner eigenen Worte erschien mir, noch bevor es ausgesprochen war, unerträglich, unecht. Das Debattieren in den Gruppen hingegen gelang mir manchmal recht gut. Die revolutionäre Arbeit war überhaupt im vollen Gange. Ich unterhielt und entwickelte die Verbindungen mit Odessa. Oft ging ich abends zum Hafen, kaufte für einen Rubel ein Billett dritter Klasse, legte mich auf das Deck des Dampfers, möglichst nahe zum Schornstein. Als Kopfkissen diente mir die Jacke, mit meinem Mantel deckte ich mich zu. Am Morgen wachte ich in Odessa auf und wandte mich an die mir bekannten Adressen. Die nächste Nacht verbrachte ich wieder auf dem Dampfer. So verlor ich für die Reisen keine Zeit.

Meine Verbindungen in Odessa erfuhren unerwartet eine Bereicherung. Vor dem Eingang zur Öffentlichen Bibliothek machte ich die Bekanntschaft eines Arbeiters mit einer Brille: wir sahen uns prüfend an, und wir verstanden uns. Das war Albert Poljak, ein Setzer, der Organisator der später berühmt gewordenen Zentraldruckerei der Partei. Meine Bekanntschaft mit ihm bildete eine ganze Epoche im Leben unserer Organisation. Schon wenige Tage später kehrte ich nach Nikolajew zurück mit einem Koffer voll illegaler Literatur, die im Auslande erschienen war. Es waren durchweg neue Agitationsbroschüren in heiteren bunten Umschlägen. Viele Male hintereinander machten wir den Koffer auf, um unsere Kostbarkeiten zu bewundern. Die Broschüren waren schnell an den Mann gebracht und haben unsere Autorität in den Arbeiterkreisen stark erhöht.

Von Poljak erfuhr ich zufällig im Gespräch, daß der Techniker Schrenzel, der sich als Ingenieur ausgab und schon seit langem sich an uns heranzumachen suchte, ein alter Provokateur sei. Es war ein dummes und aufdringliches Männlein. Er trug eine Mütze mit einem Abzeichen. Wir hatten ihm instinktiv nicht getraut, aber manchen und manches von uns wußte er doch. Ich lud Schrenzel in die Wohnung Muchins ein. Hier erzählte ich ausführlich die ganze Biographie Schrenzels, ohne ihn zu nennen, und brachte ihn damit völlig außer Fassung. Wir drohten ihm, im Falle eines Verrates, mit kurzem Gericht. Das hat wahrscheinlich gewirkt, denn etwa drei Monate ließ man uns in Frieden. Dafür aber häufte Schrenzel nach unserer Verhaftung in seinen Aussagen Schrecken auf Schrecken.

Wir gaben der Organisation den Namen „Südrussischer Arbeiterbund“, da wir die Absicht hatten, andere Städte hinzuzuziehen. Ich verfaßte ein Statut des Bundes im sozialdemokratischen Geiste. Die Verwaltung der Fabriken versuchte, gegen uns mit Ansprachen in den Betrieben aufzutreten. Wir beantworteten dies am nächsten Tage mit einer neuen Proklamation. Dieses Duell versetzte nicht nur die Arbeiter in Erregung, sondern auch breite Kreise der Stadtbevölkerung. Schließlich sprach die ganze Stadt von den Revolutionären, die die Fabriken mit ihren Flugblättern überschwemmten. Unsere Namen wurden von allen Seiten genannt. Die Polizei aber zögerte, sie wollte nicht glauben, daß die „Bengels aus dem Garten“ fähig wären, eine solche Kampagne zu führen, und vermutete vielmehr, daß sich hinter unserem Rücken erfahrenere Leiter verbargen. Sie hatte wohl Verdacht gegen die alten Verbannten. Das hat uns zwei, drei Monate Zeit geschenkt. Aber schließlich begann man uns immer schärfer zu überwachen, und die Gendarmen entdeckten nun eine Gruppe nach der anderen. Wir beschlossen, für einige Wochen aus Nikolajew zu verschwinden, um den Polizeifaden abzureißen. Ich sollte zu den Eltern aufs Land, Sokolowskaja mit ihrem Bruder nach Jekaterinoslaw und so weiter. Gleichzeitig aber faßten wir den festen Entschluß, im Falle von Massenverhaftungen uns nicht zu verbergen, sondern uns verhaften zu lassen, damit die Gendarmen den Arbeitern nicht sagen könnten: „Eure Führer haben euch im Stich gelassen.“

Vor meiner Abreise verlangte Nesterenko, ich solle ihm ein Paket mit Proklamationen übergeben. Er bestimmte eine Stelle hinter dem Friedhof, wo wir uns spät am Abend treffen sollten. Es lag tiefer Schnee. Die Nacht war mondhell. Hinter dem Friedhof lag eine einsame Gegend. Nesterenko traf ich am verabredeten Platz. Aber in dem Augenblick, als ich das Paket unter dem Mantel hervorzog und es ihm überreichte, löste sich von der Friedhofsmauer eine Gestalt ab und ging dicht an uns vorbei, wobei sie Nesterenko mit dem Ellenbogen berührte. „Wer ist das?“ fragte ich verwundert. „Ich weiß nicht“, antwortete Nesterenko auf meine Frage, während er dem Davongehenden nachschaute. Nesterenko stand offenbar bereits in Verbindung mit der Polizei. Mir aber kam es damals nicht in den Sinn, ihn zu verdächtigen.

Am 28. Januar 1898 fanden Massenverhaftungen statt. Insgesamt wurden zweihundert Menschen herausgegriffen. Die Abrechnung begann. Einer der Verhafteten, der Soldat Sokolow, wurde durch Einschüchterung soweit gebracht, daß er sich aus dem zweiten Stockwerk des Gefängniskorridors hinabstürzte, aber mit schweren Verletzungen davonkam. Ein anderer Verhafteter, Lewandowski, wurde von den Gendarmen in den Wahnsinn getrieben. Es gab noch mehr Opfer.

Unter den Verhafteten befanden sich viele fast Unbeteiligte. Einige von denen, auf die wir uns verlassen hatten, sagten sich von uns los und verrieten uns sogar. Dagegen haben manche, die kaum hervorgetreten waren, Charakterstärke bewiesen. Verhaftet, und zwar, für lange, wurde auch ein Deutscher, der Dreher August Dorn, etwa fünfzig Jahre alt, der uns nur ein- oder zweimal besucht hatte. Er benahm sich glänzend, sang, dem ganzen Gefängnis vernehmbar, lustige deutsche Liedchen, die nicht immer tugendhaften Inhalts waren, machte in gebrochenem Russisch Späße und hielt den Geist der Jüngeren aufrecht. Im Moskauer Etappengefängnis, wo wir in einer Gemeinschaftszelle saßen, redete Dorn dem Samowar zu, zu ihm zu kommen, und schloß den Dialog: „Du willst nicht? Nun, dann kommt Dorn zu dir!“ Und obwohl sich die Szene tagaus, tagein wiederholte, lachten alle gutmütig darüber.

Die Organisation von Nikolajew hatte einen empfindlichen Schlag erlitten, aber sie war nicht verschwunden. Uns haben bald andere ersetzt. Die Revolutionäre wie die Gendarmen wurden erfahrener.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003